Der Fluch des Goldes

  • Der Fluch des Goldes

    Eckdaten:
    2er RPG von Liliace und Jehanne
    Genre: Mystery, Abenteuer, Drama, Romanze / Historisch an den Klondike-Goldrausch angelehnt
    Trigger: FSK 18, sensible Themen wie Rassismus, Sexismus, Klassismus, Verwundung und Tod
    Playinformationen: Bitte melde dich an, um diesen Link zu sehen.


    Things we lost
    The things we couldn't share
    Another rainbow's end
    Another memory
    Fortuna Favet Fortibus
    Hold on to all that's dear to you
    As the last sled to Dawson finally arrives*


    Der eisige Nordwind stach wie tausend Nadeln in seinen angestrengt zusammengekniffenen Augen, als Samuel mit seinem Gespann in Dawson ankam. Schneeflocken tanzten in der kalten, klaren Winterluft, fielen auf seine schmalen, dick in silbrig glänzendes Robbenfell eingepackten Schultern und blieben im Fell seiner Hunde haften, die mit hängenden Zungen und aufgeregt hechelnd zum Stillstand kamen.
    Auch dieses Mal war seine Suche am Klondike-River erfolgreich gewesen. Der Erfolg, die Jagd nach Gold, ja das pure Wissen, dass er erneut nicht an seinen selbst gesteckten Zielen gescheitert war - und dies trotz des furchtbaren Wetters, das die Goldsuche gefährlich machte - beflügelte stets für ein paar Tage seinen Geist. Doch dann befiel Samuel eine innere Unruhe, der selbst Amarok, sein immer sanftmütiger und ruhiger Leithund, sich nicht entziehen konnte. Es trieb ihn aus seinem spartanisch eingerichteten Haus in Dawson wieder zurück in die Wildnis, dorthin, wo es neben Gold nichts als endlose Weite gab. Stille Wälder, die sich hügelig in die Ferne erstreckten, von Raureif bedeckte Tannen und ein von funkelnden Sternen erleuchteter Himmel, durchdrungen von der geheimnisvoll schimmernden Aurora Borealis. Sam fand Gefallen an Musik, an Kunst, doch kein Mensch konnte jemals die Schönheit und die Wunder erschaffen, zu denen die Natur in der Lage war. Nichts erfüllte ihn mit so viel Ehrfurcht, wie eine Herde Karibus, deren Fell von Eis glänzte und aus deren Nüstern weißer Atem stob, während sie in der Winterlandschaft an ihm und seinem Schlitten vorbeigezogen.

    Während er seine Hunde von ihrem Geschirr befreite und auf sein Grundstück entließ, konnte er die lärmende Enge der Straßen Dawsons bereits in seinen kalten, tauben Gliedern fühlen. Wie üblich kümmerte er sich zuerst um seine Tiere - schließlich waren sie es auch, die ihn jedes Mal aufs Neue sicher durch die Wildnis begleiteten. Er befreite ihre Pfoten von Eis und Schmutz, untersuchte sie auf kleinere Verletzungen und heizte seine Hütte an, damit sie sich aufwärmen konnten. Amarok und Zephyr waren jedes Mal aufs Neue dankbar für die Prozedur. Im Grunde genommen genossen es alle Hunde, dass er sich kümmerte - bis auf Puk und Figaro. Puk konnte es gar nicht erwarten, seine Wohnung mit weit aufgerissenem Maul und wahnsinnigem Blick zu zerlegen, während Figaro sich laut jaulend über die ihm zukommende Fürsorge beschwerte. Am Ende beschloss Sam, die beiden Quälgeister anzuleinen und sie mit ins Stadtzentrum zu nehmen, bevor seine Nachbarn ihm wieder unterstellten, dass er Figaro quälte oder dass Puk angeblich an Tollwut litt …

    Doch bevor er seinen neuen Claim ordnungsgemäß anmeldete, würde er sich zuerst einen heißen Kaffee und einen Teller Bohnen gönnen. Mit Puk und Figaro im Schlepptau spazierte er geradewegs in die “River Rat Bar”. Die hölzerne Tür des verwitterten Gebäudes knarrte ekelerregend, als er sie öffnete und sich sogleich einen wackeligen Tisch fernab von der Gesellschaft der anderen Goldgräber und der Bürger Dawsons suchte. Einige warfen Puk und Figaro missbilligende Blicke zu, doch Samuel hatte schon vor ein paar Jahren jegliche Kritik an seinen Hunden im Keim erstickt. Noch heute trug man ihm seinen spitzzüngigen Kommentar nach, dass seine Hunde garantiert weniger Krankheiten einschleppten, als alle Goldgräber zusammen, die auf der Suche nach Liebesabenteuern die Bars und Bordelle abklapperten.

    Samuel entledigte sich seines schweren Mantels, den er zum Trocknen über seinen Stuhl nahe des Kamins hängte und befreite sein Gesicht von den Stofflagen. Zum Vorschein kamen jungenhafte, aber verhärtete Züge und ein zerzauster Schopf hellbraunen Haares, das ihm nass in die Stirn hing. Der Wirt, Richard Thomkins, eilte herbei und sagte mit seiner Fistelstimme: “Das Übliche, Sam?”, woraufhin Sam ihm leise und knapp antwortete: “Ganz Recht. Und Richard? Vergiss’ dieses Mal meine Hunde nicht. Andernfalls frisst dich Puk und er täte noch nicht einmal Unrecht damit!”
    Wie auf Kommando legte der Husky seinen schmalen, schwarz-weißen Kopf schief und starrte Richard aus eisblauen, gemein flackernden Augen herausfordernd an. Der Wirt eilte davon, um Sam seinen Kaffee und seine Bohnen zu bringen, während Sam sich kaum merklich diabolisch lächelnd seinem Hund zuwandte und sich von dem Rowdy in seinem Rudel das Gesicht ablecken ließ. Richard gehörte zu jenen, die sich ihm gegenüber immer korrekt verhielten, aber hinter seinem Rücken gerne die wildesten Gerüchte streuten. Da konnte es nicht Schaden, den Mann in dem Glauben zu lassen, er sei tatsächlich mehr Hund als Mensch.
    Der Musher hatte noch immer ein wölfisches Grinsen im Gesicht, als der Wirt ihm das Gewünschte brachte und mit wachsamen Blick auf Puk den Hunden Fleisch vor die Nasen stellte. Figaro machte sich glücklich fiepend über die Beute her und Samuel trug bald seinen üblichen, ernsten Gesichtsausdruck zur Schau, während er hungrig seine Bohnen in sich hineinschaufelte. Geduld hatte er beim Essen noch immer nicht, wusste er doch zu gut, wie sich nagender Hunger anfühlte. Er beobachtete die Gäste mit wachsamen Blick, behielt die klapprige Tür stets im Auge. Er konnte nie wissen, wer ihn heimsuchte, um Streit anzufangen - oder wer sich ihm mal wieder bei seinen Suchen anschließen wollte. Da war es immer gut, vorbereitet zu sein.

    * The last sled - Tuomas Holopainen

    Permets-tu?

    2 Mal editiert, zuletzt von Jehanne (8. Dezember 2024 um 14:14)

  • Terrah Jenkins


    Das gemietete Zimmer in der schäbigen Unterkunft am Rande der überaus belebten Stadt war ebenso abgenutzt wie die rote verwitterte Holzfassade des Gebäudes. Der Holzboden war spröde, von Sand und Dreck bedeckt. Wann hier zuletzt durchgefegt wurde, musste ein paar Wochen her gewesen sein. Die Wandverkleidung war von der Sonne verblichen und der starke Konsum von Zigaretten und Zigarren seitens der Gäste im Raum führte zu einem gelblichen Belag. Unterschwellig wog der Hauch von Tabakrauch im Raum hin und her und atmete man die Luft tief ein, so legte sich dieser widerliche rauchige Geschmack auf die Zunge. Das Glas der Fenster war aus einem minderwertigen Material, sodass der Blick nach draußen wie durch eine Nebelschwade wirkte.

    In einer Skizze mit Schattierungen hielt ich die Unterkunft von außen und in lebensechter Szenerie der Stadt in meinem Notizbuch fest.
    Unten rechts war das Ankunftsdatum von vor vier Tagen notiert, Platz gelassen für das Abreisedatum und in einer anderen Ecke des Blattes den Namen der Stadt Dawson City versehen. Daten und Fakten, Zeichnungen und manche einzelne Gedanken beherbergte dieses Notizbuch. Es war Zeuge meiner Unternehmung, hielt meinen Geist wach, bot mir Orientierung und Möglichkeit, meiner Kreativität Raum zu geben.
    Die negativen Aspekte dieser Unterkunft drückten den Mietpreis und ließen mich die Zeit in der Stadt ohne hohe Unkosten überstehen. Die durchgelegene Matratze und der Lattenrost waren immer noch bequemer als die Nächte in der Wildnis und boten weitaus mehr Privatsphäre. Der kleine Tisch mit dem ungepolsterten Holzstuhl, dem Nachtschränkchen am Bett und die Öllampe waren ausreichend für mich.
    Nun schloss ich mein Notizbuch, strich kurz andächtig über das glatte Leder des Einbandes, bevor es in meinem Rucksack verschwand. Meine Habseligkeiten waren immer griffbereit, sodass ich jederzeit aufbrechen konnte.

    Vor dem Gebäude war das Knirschen von Schnee zu vernehmen, wenn Menschen durch den Schnee stapften, daneben das Gemurmel der Leute, die sich unterhielten, handelten oder Auskunft gaben, wo die Neuankömmlinge noch Unterkunft fanden oder Läden, um ihre Reserven aufzustocken. Von irgendwo war das auf sich aufmerksam machende Rufen eines Jungen zu vernehmen, der die neue Extraausgabe der hiesigen Zeitschrift anbot. Einen dieser Zeitungsjungen hatte ich einen Obolus versprochen, wenn er mich informierte, dass ein Mr. Corning in der Stadt wäre. Kinder waren günstige Arbeitskräfte, freuten sich über eine einzelne Münze, waren öfter eifriger bei der Sache, als es ein Erwachsener tat. Etwas, das ich selbst am eigenen Leibe als Kind gespürt hatte.
    Mr. Corning war Gerüchten zufolge eine Legende, dem das Gold nur so in die Hände fiel und wer mit ihm nach Gold grub, würde fündig werden. Genau aus diesem Grund folgte ich verbissen jeglichen Spuren, Hinweise und Tipps, die die Reise nach Kanada und in Kanada selbst zu einer Irrfahrt machten. Für einige Hinweise wanderten Schmiergelder in die Taschen von Informanten, für andere war eine Plauderei mit den feinen Damen unvermeidbar gewesen oder der Austausch mit käuflichen Damen, die für ein paar Münzen bereitwillig Informationen preisgaben. Wie hilfreich am Ende jegliche Hinweise waren, vermochte ich nicht zu sagen und konnte bei genauerer Überlegung in Zorn umschwenken, die mein Blut in den Venen zum Kochen brachte, denn einige der Münzen hatten ohne viel Mehrwert für mich den Besitzer gewechselt. Übers Ohr gehauen zu werden, erzürnte mich äußerst. Hörensagen war da durchaus preiswerter und angenehmer, aber auch diese Schwätzerei hatte ihren Preis und konnte einen schnell in die Irre führen.

    Die Menschen in dieser unwirtlichen Gegend waren… sonderbar, verschroben. Viele redeten nur des Redens Willen, schwaffelten, blödelten und gaben vor, mehr zu wissen, als sie am Ende wirklich taten. Die heißeste Spur war bisher die, nach Dawson City zu reisen. Eine Stadt, in der Goldgräber ihre Reserven auffüllten, ihre Reise planten und sonstige Vorbereitungen trafen, um die Suche nach dem kostbaren gelbglänzenden Metall zu beginnen.
    Mein Vorhaben reihte sich in das der anderen ein. Nur der entscheidende Unterschied war der, dass ich die gezielte Anwerbung von Mr. Corning angestrebte. Ohne diesen Mann würde ich gar nicht erst die Suche nach dem Gold beginnen, denn dieser Mann würde die Suche für mich zu einem Erfolg machen. Alles andere wäre totaler Irrsinn.
    Neben diesem Gerücht, das sich wie eine feste Tatsache in den Mündern der Leute hielt, gab es eine gespaltene gesellschaftliche Meinung zu ihm.
    Ein Teil sprach ihm brutale Charakterzüge eines Mörders zu, der einen Musher umgelegt, die Hunde getötet und an dessen Türschwelle gelegt haben solle.
    Für andere war er zu verbändelt mit den Indios und solle von einer “Indianerhexe” verzaubert worden sein. Kuriose Vorstellung… in meinen Augen.
    Eine der positivsten Bemerkungen, durch die ich mit dem mir noch unbekannten Mann sympathisierte, war die, dass er sich wohl konträr zu den anderen Meinungen gönnerhaft zeigen konnte. Ein Elternpaar hatte mich erfreut und erleichtert davon berichtet, dass Mr. Corning dafür gesorgt hatte, dass ihre Kinder das Schulmaterial zum Lernen gestellt bekommen hatten. Dies regte eine Spur von bittersüßer Wärme in meinem Herzen.

    Im Ganzen blieb dieser Mann jedoch schemenhaft und undefinierbar in meiner Vorstellung. Was für eine Persönlichkeit ich eines Tages gegenübertreten würde, würde sich erst noch zeigen. Aber ich war bereit, gewillt auf alles gefasst zu sein, um am Ende einen Deal auszuhandeln, dass Mr. Corning mit mir auf Goldsuche ging. So schnell würde er mich nicht abwimmeln können, dachte ich entschlossen und presste meine Lippen bei den Gedanken aufeinander.
    Den Besuch in der River Rat Bar hatten ich bereits am Morgen und an diesem Abend erledigt. Es hieße, dass wenn Mr. Corning in Dawson City ankäme, so würde er nicht lange auf sich warten lassen, um in der River Rat Bar einzukehren.
    “Morgen, vielleicht…”, murmelte ich leise in mich hinein und hoffte inständig, dass das Glück mir langsam mal hold sein würde. An diesem Abend legte ich mich früh in das durchgelegene Bett meines Zimmers und fand relativ schnell den nötigen Schlaf.

    Am Morgen pfiff der eisige Wind entlang der Fassaden, einzelne Kristalle bildeten sich auf den Fensterscheiben und erschwerten umso mehr die Sicht. Nach der üblichen morgigen Reinigung, hatte ich meine schwarzen Locken in einem lockeren Bauernzopf zu bändigen versucht, der mir links über das Schlüsselbein fiel. Die verschiedenen Schichten an Kleidung hatte ich mir über den Körper gestreift und fühlte mich eingeschränkter in meinen Bewegungen, dafür aber wärmer als zuvor.
    Als letztes glitt ich in die wärmenden Lammfellstiefel, schnürte die Bänder gut zu, um dann den Mantel überzustreifen und zuzuknöpfen.
    Meine Erscheinung verriet meine pragmatische Wahl der Kleidung, die zwischen teilweise guten Kleidungsstücken und preiswerten changierte. Die Schuhe, die Handschuhe und der Mantel waren die wohl teuersten Kleidungsstücke an meinem Leib und machten den Großteil der Wärmespeicherung aus. Die gefütterte Stoffhose war durch den Abnutzungsgrad eingeschränkt in ihrer Funktion, was jedoch weniger auffiel, da mein dickes Kleid ein paar Löcher bedeckte. Das Material des Kleides und die Abnutzung klassifizierten mich deutlich zur so besagten Arbeiterschicht.

    Bevor ich mein Zimmer verließ, warf ich mir meinen Rucksack über die rechte Schulter und schritt entlang des Geländers, zur Treppe, um wenig später am Empfangstresen vorbei die Mietunterkunft zu verlassen. Eisige Kälte stach mir ins Gesicht, zwang mich dazu, die Kapuze über den Kopf zu ziehen und eng zu verschnüren, sodass die Kälte nicht entlang meines Nacken kriechen konnte.
    Nur wenige Schritte hatte ich auf die River Rat Bar zugemacht, da kam der Zeitungsjunge um die Ecke geflitzt und sagte aufgeregt: “Mr. Corning ist in der Bar.” Jetzt hielt der Junge dreist seine in einer Socke eingepackten Hand auf und forderte: “Sie schulden mir eine Münze, M'am.” - “Erst, wenn ich Mr. Corning selbst angetroffen habe”, gab ich konternd zurück. Daneben hatte ich nicht vor vorschnell eine Münze rüberzureichen. “Er ist wirklich in der Bar”, beharrte der Junge darauf und stapfte weiter neben mir durch den Schnee, “M’am. Es ist bitterkalt und ich war noch dabei die Zeitung zu sortieren, ich habe keinen Mantel an. Ich habe meinen Teil der Abmachung eingehalten.”
    Kurz blieb ich stehen, schaute genauer durch den Fellrand meiner Kapuze zu dem Jungen und stellte fest, dass er wirklich nur in seiner dicken Hose, einem einfachen Hemd und Weste sowie den Socken über den Händen neben mir stand. Die Wahrscheinlichkeit, dass er mir in dieser Stadt entwischen könnte, war gering. Also ging ich - teilweise um seiner Gesundheit Willen - die Einhaltung der Abmachung ein.
    Zuerst streifte ich mir den Handschuh aus, griff in meine Manteltasche und holte eine Münze hervor, die ich dem Jungen in die Hände drückte. Die kleinen Kinderaugen leuchteten voller Freude und er bedankte sich mehrfach, machte einen kurzen Hüpfer und schaute sich noch mehrfach die Münze an. “Wehe, wenn du mich belogen hast”, ermahnte ich den Jungen, der nur hastig verneinend den Kopf schüttelte und dann zügig zurück ging.
    Zuerst zog ich mir den Handschuh wieder über, um dann meinen Blick geradewegs zur River Rat Bar gleiten zu lassen. Die Kälte nahmen meine Sinne kaum noch wahr, obwohl meine Wangen und die Nasenspitze gerötete waren. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, während ich zur Bar schritt und mich auf das Gespräch mit Mr. Corning fokussierte. Meine Argumentationen waren klar und vorbereitet. Nichts wollte ich dem Zufall überlassen, musste aber eingestehen, dass dieser Moment einschüchternd war. Besonders die negativ behafteten Darstellungen von Mr. Corning, der einen Musher getötet haben solle oder jemand war, der zuerst schoss anstatt zu reden, ließen mich nervös werden.
    In der Öffentlichkeit würde er doch aber nicht zu seiner Flinte greifen… oder doch?

    Festen Schrittes trat ich ins Innere der Bar, schloss die lauthalsknarrende Tür hinter mir, die jeden Neuankömmling wie einen Marktschreier ankündigte, um dann die Kapuze zu lösen, mein Gesicht freizugeben, sodass ich die Bar besser überblicken konnte. Bekannte Gesichter, die bereits die letzten vier Tage in dieser Bar zugebracht hatten, überflog ich im Nu.
    Ein neues mir unbekanntes Gesicht sollte Mr. Corning sein, so die Schlussfolgerung.
    Meine grünen Iriden wanderten weiter zum Tresen, der Inhaber kochte so eben weiteren Kaffee auf, dann zu einer unscheinbaren Ecke, die nahe dem wärmenden Kamin war. Dort saß ein mir fremder Mann mit zerzauste braunen Haaren, der eine heiße Tasse Kaffee und einen Teller vor sich auf den Tisch stehen hatte. Bei ihm waren zwei Hunde, die irgendetwas fraßen. Den Hunden schenkte ich keine Beachtung, da mein Blick nur auf den vermeintlichen Mr. Corning ruhte.

    Geradewegs trat ich auf den Mann zu, hielt vor seinem Tisch und erhob meine Stimme in einem höflichen, aber festen Ton: “Mr. Corning, ich bin Mrs. Jenkins und fordere ihre Unterstützung bei der Suche nach Gold ein. Sie sind meine letzte Chance, um meine Familie und mich aus dem Ruin' zu retten, auf dass wir einen Neuanfang starten können", kurz pausierte ich, ließ meine Worte nachwirken, nun nachschiebend, "ich bin bereit alles für meine Familie zu tun. Weisen sie mich daher nicht ab."
    Bei den letzten Worten war meine Stimme besonders fest und beharrend. Er sollte nicht glauben, dass ich schnell einknicken würde. Jetzt wartete ich seine Reaktion und Antwort ab.
    Die Erscheinung des Mannes war jünger als ich ihn mir aus den Erzählungen vorgestellt hatte, aber die harten Gesichtszüge verrieten seine Erfahrung und sein Können, in dem, was er beruflich machte. Ihm konnte niemand so schnell etwas vormachen. Es war ein wenig einschüchternd, doch jetzt würde ich nicht einknicken und so stand ich mit geradem Rücken vor ihm und blieb geduldig.
    Im Kopf hielt ich weitere Argumente bereit, um die Einwilligung von Mr. Corning für das Unterfangen zu erhalten.

    4 Mal editiert, zuletzt von Liliace (22. Februar 2025 um 17:28)

  • Samuel schlang seine Bohnen in Windeseile herunter. Man konnte glatt meinen, dass er entweder unter Zeitmangel litt, oder er so schnell nichts mehr zu beißen bekommen würde. Er verbrannte sich die Lippen an seinem heißen Kaffee, den er versuchte, ebenso hastig herunterzustürzen. Sam hustete kurz und blinzelte, um die aufsteigenden Tränen zu vertreiben. Niemand würde ihm seine Mahlzeit streitig machen - daran musste sich der junge Musher immer wieder erinnern, wenn er erschöpft und ausgehungert von einer Goldsuche zurückkam. Die Zeiten des Hungers und der Angst lagen hinter ihm. Hoffentlich für immer.

    Puk und Figaro hatten sich zu seinen Füßen hingelegt und dösten vor sich hin, während die sich knarrend öffnende Tür immer wieder neue, von der Kälte gerötete Gesichter in die Bar spuckte. Sam fühlte, wie seine Haare allmählich zu trocknen begannen und das Leben kribbelnd und stechend in seine tauben Finger und Zehen zurück kroch. Er war kurz davor, selbst ein bisschen wegzudösen und die Tür zu vergessen, als Figaro fiepend aufsprang und sich hinter Puk verkrochen. Samuel hob den Kopf und sah der jungen Frau, die sich schnellen Schrittes und mit festem Blick den Weg zu seinem wackeligen Tisch bahnte, argwöhnisch entgegen. Er klappte gerade den Mund auf, um ihr unhöflich klarzumachen, dass er keine Konversation wünschte - doch leider kam sie ihm zuvor. Samuel würde lügen, wenn er behaupten würde, dass ihm ihr Auftreten nicht auch ein kleines bisschen imponierte. Die meisten, die mit ihm auf Goldsuche gehen wollten, kamen förmlich angekrochen. Sie jaulten und winselten teils schlimmer als Figaro und beknieten ihn regelrecht, ihnen doch bitte eine Chance zu geben. Mrs. Jenkins jedoch forderte. Kein “Bitte, bitte, ich bin ganz offensichtlich neu hier, aber geben Sie mir doch trotzdem eine Chance!”. Nein, sie war entweder sehr von sich und ihrem Anliegen überzeugt - oder sie steckte wirklich ganz schlimm in der Klemme und war deshalb so entschlossen, einen unnachgiebigen Eindruck zu erwecken. Sam nahm sich kurz Zeit, sie von oben bis unten zu mustern. Immerhin hatte er es hier nicht mit einer feinen Dame von Stand zu tun, so viel war ihm anhand ihrer pragmatischen und teilweise geflickten Kleidung klar. Dann genehmigte er sich einen tiefen Schluck aus seiner Tasse, hielt Puk mit dem Fuß zurück, der glaubte, ein neues Opfer seines Schalks erspäht zu haben und fragte mit sanfter, aber eisiger Stimme und forschendem Blick: “Und warum sollte mich der Ruin ihrer Familie auch nur im Geringsten interessieren, Mrs. Jenkins? Was hebt ausgerechnet Sie von all jenen ab, die mit genau der gleichen Geschichte oder irgendeiner Variation davon zu mir kommen, um meine Hilfe so dreist einzufordern? Tausende treffen hier in Dawson ein, hoffen darauf, ihr Glück zu machen und kehren mit leeren Händen, schwer verschuldet … oder gar nicht mehr heim.”

    Der Musher machte eine kurze Pause, um seine harten Worte wirken zu lassen. Was er sagte, war wahr und würde er jedem helfen, der zu ihm kam, um ihn darum zu bitten - nun, er würde nichts mehr anderes tun. Sam lehnte sich locker zurück und kraulte Puk hinter den Ohren, der Mrs. Jenkins mit schief gelegtem Blick musterte. Trotz seines schroffen, abweisenden Tons und der zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen war Sam neugierig. Er wollte wissen, was die Frau zu sagen hatte. Samuel trank noch einen weiteren Schluck Café und kramte ein kleines Klappmesser aus seiner Robbenfellhose, um sich damit die Fingernägel zu säubern. Im Grunde genommen hatte er nichts dagegen, bald wieder aufzubrechen, auch, wenn er gerade erst nach Hause gekommen war. Dawson würde niemals wirklich sein zuhause sein. Egal, wie lange er sich hier aufhielt, irgendwie fühlte er sich doch immer fremd. Aber das musste Mrs. Jenkins nicht wissen. Sie sollte ruhig noch etwas schmoren und ihren Charakter unter Beweis stellen, bevor er sich zu einer tatsächlichen Antwort herabließ.

    Permets-tu?

  • Terrah Jenkins

    Fast unnachgiebig saß Mr. Corning auf seinem Platz, eine Hand unterhalb der Tischkante bei einem der Hunde, die andere auf dem Tisch. Schweigend hörte er sich meine Forderung an und die einzige Regung, an der ich Rückschlüsse ziehen konnte, waren seine scharfen Gesichtszüge und seine kühle Augenpartie.
    Es war deutlich abzulesen, dass ich ihn weder überzeugte, noch sein Interesse geweckte. Er griff mit seiner Hand zu der Kaffeetasse, führte diese an seine spröden Lippen und trank einen tiefen Schluck von dem koffeinhaltigen, heißen Getränk, das zusammen mit dem frisch aufgebrühten Kaffee hinter der Bartheke einen aromatischen Duft im Raum verströmte. Die Wärme des Kamins trocknete langsam sein Haare und seine Kleidung. Daneben drang die Wärme durch die vielen Schichten meiner Kleidung auch zu mir durch. So streifte ich mir die Handschuhe von den Händen und legte diese auf der Tischplatte ab.
    Seine Geste mit dem Kaffee wertete ich nach meinem Verständnis als Gelassenheit, durch die man signalisierte, dass man alle Zeit der Welt hätte und dass das hier vorgetragene Anliegen keiner sofortigen Reaktion bedürfe.
    Geduldig stand ich vor dem Tisch und beobachtete ihn, darauf wartend, dass er antworten würde. Falls nicht, so würde ich in einen Monolog übergehen und das solange bis er einwilligen würde.
    Als er seine Stimme erhob, begegnete er mir mit einer eisigen und forschen Tonlage, in der sich eine Sanftheit mischte, mit der ich nicht gerechnet hatte. Doch trotz der Sanftheit willigte er meiner Forderung nicht ein. Stattdessen sprach er einen entscheidenden Punkt an, den ich ihm nicht verübeln konnte: Welcher Mehrwert würde sich aus einem Bündnis mit mir für ihn ergeben.
    Seine dunkle Augenbraue war hochgezogen und bekundete seine Zweifel daran, dass ich ihn vom Gegenteil überzeugen könne. Eine einfache Taktik, um sich ein Problem von Hals zu halten.
    Denn schließlich teilte ich dieselbe kümmerliche Grundlage der ahnungslosen und angereisten Goldsucher, die Mr. Corning vielleicht bereits bei der Goldsuche unterstützt hatte und als äußerst lästige Kletten wahrgenommen haben dürfte.
    Welchen tatsächlichen Unterschied stellte ich zu diesen Leuten dar?

    Ein unlukratives Angebot ginge nur ein Dummkopf ein und dieser Mann mit den zerzausten braunen Haaren, die einen Kamm gebrauchen könnten, gehörte offenbar nicht zu dem Schlag Mann. Jemand, der eine Legende war, hatte auch einen wachen Verstand und Geist zu haben. Zudem zeichnete sich ab, dass er seinen Kopf benutzte und dahingehend vielleicht auch deswegen stets Gold fand. Meine Hoffnung war diesbezüglich sehr hoch.
    Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, trank erneut von seinem Kaffee und holte ein Klappmesser hervor, um ungeniert seine Fingernägel vom Dreck zu reinigen.
    Dass der erste Versuch meinerseits nicht klappen würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Nun lag es an mir, ihn zu überzeugen. Ein fast amüsiertes Lächeln darüber breitete sich auf meine Lippen aus. Denn hierauf war ich vorbereitet gewesen, hatte mir eine Argumentationskette parat gelegt und war gewillt ihn von dem Unterfangen zu überzeugen. Das vernehmbare Rauschen meines Blutes in den Ohren bezeugten meine situative Nervosität.
    Zuerst ließ ich langsam meinen Rucksack an der Schulter hinunter und über den Arm gleiten, um diesen auf den Holzboden und zwischen meine Beine abzustellen.
    Ohne den schweren Rucksack war es deutlich angenehmer, da der Riemen die Schulter- und Nackenmuskulatur nicht mehr weiter abklemmte. Der Blutfluss zirkulierte freier in der Schulterpartie und belebte mich einwenig. Auf eine längere Diskussion stellte ich mich ein.
    Nun fuhr ich unbeirrt fort und legte die Tatsachen auf den Tisch: "Der Ruin meiner Familie ist für Sie natürlich nicht von Interesse. Langweilen wollte ich Sie damit nicht. Aber es ist die begründete Erklärung und damit meine treibende Kraft Sie für das Unterfangen anzufordern. Was mich und die anderen hilflosen Goldsucher, die nach Dawson City kommen, eint, ist die Tatsache, dass ich ein ebenso großes Greenhorn bin." Fast schon schmeichelhaft, aber eher als Fakt benannt, betonte ich: "Besonders im Vergleich zu Ihnen, Mr. Corning, bin ich ein Greenhorn. Daraus mache ich auch keinen Hehl."

    "Sie möchten jedoch wissen, was mich von den anderen unterscheidet. Erstens, dass ich Ihnen kein Lügenmärchen zu meiner Geschichte aufzeigte, in der Hoffnung ihr Mitleid zu erregen und dadurch ihre Zustimmung zu erhalten. Das habe ich nicht nötig", dezent schüttelte ich dabei mit dem Kopf und fuhr sachlich weiter fort, "was mich noch von den anderen Greenhorns unterscheidet, ist der klare und kluge Verstand, nicht alleine sondern in Kompanie eines erfahrenen Goldsuchers das Wagnis auf mich zu nehmen - somit werde ich sowohl heimkehren, als auch mit vollen Händen Kanada verlassen. Ich bin seit der Ankunft in Stagway den Hinweisen zu Ihnen gefolgt, von Stadt zu Stadt, und seit 5 Tagen verweile ich in Dawson City, um Sie anzutreffen", die nächsten Worte sprach ich ehrlich und beteuernd aus, ein entschiedener Glanz zeigte sich auf meinen Iriden, "und glauben Sie mir, ich hätte noch deutlich länger auf diesen Moment gewartet, um mit Ihnen hierzu zu sprechen. Selbst Monate hätten mich von meinem Vorhaben nicht abbringen können. Auf dieses Unterfangen habe ich mich seit meinem vierzehnten Lebensjahr vorbereitet. Ich bin ausdauernd, denke vorausschauend und vor Arbeit schrecke ich nicht zurück."
    Jetzt stellte ich eine große von mir geplante Behauptung auf, um im Idealfall seine volle Aufmerksamkeit einzuholen, auf dass es etwas Lukratives von meiner Seite für ihn gäbe, um mit mir ein Bündnis einzugehen: "Drittens, können auch Sie von mir lernen. Den Gerüchten zufolge sind Sie zwar niemand der viele Leute um sich braucht, aber das ein oder andere Gesellschaftsspiel könnte ich Ihnen beibringen. Sprachen, seien es Spanisch oder Irisch, kann ich Ihnen lehren. Auf dem Dampfer von Seattle nach Stagway habe ich mir die verschiedenen Seemannsknoten beibringen lassen, das Wissen würde ich Ihnen bei Interesse lehren und vielleicht hilft es Ihnen im Alltag", mein Blick wanderte zu dem leeren Teller und mit meiner Hand deutete ich zuerst auf die flache Porzellanplatte: "Verschiedene Rezepturen zum Einlegen von Lebensmitteln kann ich Ihnen zeigen", jetzt deutete ich demonstrativ auf den Innenraum der Bar und meinte im sarkastischen Unterton, "dann brauchen Sie die feine Küche und den Charm der River Rat Bar nicht mehr aufzusuchen. Ein weiterer Vorteil wäre, dass Leute wie ich Sie in Dawson City nicht mehr so leicht belästigen können, da sie weniger in die Öffentlichkeit müssten."

    Meine verschiedenen Angebote hatte ich dargelegt, in der Hoffnung eines würde ihm zusagen. Die Seite, die jedoch selbst noch ungehört war, war die des Mannes mir gegenüber am Tisch. Mit diesem diplomatischen Schachzug eröffnete ich die Bühne für ihn, auf dass er sich selbst zu Wort melden müsse: "Mr. Corning, ich habe nun viel geredet. Wenn Ihnen meine Angebote nicht zusagen, sagen Sie es mir. Im selben Zuge erwarte ich Gegenvorschläge von Ihrer Seite. Sie kennen diese Gegend am besten und was es heißt, auf Goldsuche zu sein und welchen Wert Sie für Ihre Leistung von mir erwarten. Ich habe nicht vor, Ihnen zur Last zu fallen oder mich von Ihnen chauffieren zu lassen. Mich dort einzubringen, wo ich kann, bin ich gewohnt. Aber bedenken Sie bei Ihren Gegenvorschlägen bitte welche, die einer verheirateten Frau auch würdig sind. Die Blödeleien habe ich von Männern nämlich leid."
    In meiner Argumentationskette war ich zum Ende gekommen, atmete die warme Luft im Raum ein und wieder aus. Die Muskulatur entspannte sich weiter dabei, wobei mein Herz im Brustkorb kräftig im nervösen Rhythmus gegen die Rippen schlug.

    Indes beobachtete ich Mr. Corning. Sein braunes Haar war unordentlich, sein Gesicht zeichnete eine Jugendhaftigkeit aus, die im Kontrast zu seinen harten Zügen standen. Meine Mutter würde pflegen zu sagen, dass der junge Mann eine doppelte Portion gut vertragen würde. Vielleicht auch drei. Die harte Arbeit in und mit der Natur zeichnete sich an ihm ab, doch es schien nicht so, als würde es ihn stören.

    2 Mal editiert, zuletzt von Liliace (22. Februar 2025 um 17:29)

  • Mrs. Jenkins, so schien es Samuel, war zumindest besser vorbereitet, als der Großteil jener, die in Dawson strandeten und erwarteten, dass das Gold einfach so vom Himmel fiel. Was sie sagte, hatte Hand und Fuß und auch ihre Überlegung, sich mit ihm ins Abenteuer zu stürzen, war durchaus klug. Viel zu viele Neuankömmlinge waren geradezu arrogant, lehnten jeden Rat der erfahrenen Goldsucher ab und mussten die Erfahrung machen, dass ihnen auf halber Strecke ihre Leithunde erfroren oder dass sie die Schneeschmelze im Frühjahr völlig unterschätzt hatten. Auch, dass sie es ganz offensichtlich unversehrt von Skagway nach Dawson geschafft hatte - anscheinend alleine - zeugte davon, dass sie kein naives, kleines Mädchen war und gut für sich selbst sorgen konnte. Weder der Chilkoot noch der White Pass waren leicht zu bezwingen.
    Er lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und lauschte ihrem kleinen Vortrag, ohne sie zu unterbrechen. Während sie erzählte, nahm Sam es sich heraus, die junge Frau noch etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Ihre Mimik und Gestik verrieten, dass sie an sich selbst glaubte, praktisch gar keine Möglichkeit sah, dass ihr Vorhaben, ihn anzuwerben in irgendeiner Form scheitern könnte. Sie fixierte ihn mit einem festen Blick aus dunklen Augen, wich seinem eisigen Starren niemals aus. Mrs. Jenkins bemühte sich darum, mit ihm eine Verhandlung auf Augenhöhe zu führen und Sam fragte sich, ob sie schon immer hatte kämpfen müssen oder ob ihr Mann vielleicht freundlich und fortschrittlich genug war, seine Frau in dem, was sie tat, stets zu bestärken. Immerhin hatte sie wohl seine Erlaubnis, die weite Reise nach Alaska auf sich zu nehmen …

    Ein kleines Leuchten stahl sich in seine graublauen Augen und ein verhaltenes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, als sie ihm anbot, ihn in spanisch und irisch zu unterrichten oder ihm Gesellschaftsspiele beizubringen. Für einen kurzen Moment brach der kleine, neugierige, wilde Junge in ihm hervor, der immer lernen wollte und doch nie die Gelegenheit dazu hatte, weil er sich mit den Straßenhunden um das letzte Bisschen Essen streiten musste. Doch der kurze Moment der Schwäche war so schnell wieder vergangen, wie er gekommen war. Mit stoischer Miene hörte der Musher sich ihren Vortrag zu Ende an. Und dann sagte er eine kleine Weile gar nichts. Stattdessen schob er ihr mit seinem tropfenden Stiefel den wackeligen Holzstuhl zurück, der bislang unbesetzt an seinem Tisch gestanden hatte und legte das Messer sorgfältig auf den Tisch vor sich.

    Wenn Sam ganz ehrlich zu sich selbst war, war er offen dafür, Mrs. Jenkins mitzunehmen. Dass sie anpacken konnte, glaubte er ihr und dass sie von vornherein einen Plan gehabt hatte und nicht einfach losgestürmt war, war ihm sympathisch. Auch, dass sie sich Gedanken darum gemacht hatte, wie sie ihn für seine Hilfe bezahlen konnte, mochte er. Dennoch … egal, wie hart ein Mensch arbeiten konnte, egal, wie entschlossen er war - die eisige Wildnis Alaskas zwang gestandene Männer in die Knie, ließ sie an Wahnvorstellungen und Schlimmerem leiden. Für ihr so sorgfältig geplantes Unterfangen brauchte sie nicht nur einen starken Willen und einen beeindruckenden Sturkopf. Hierfür war der Wille vonnöten, quälenden Naturgewalten zu trotzen, aber auch bedingungslos vertrauen zu können. Und damit hatten die meisten Menschen - ihn selbst eingeschlossen - erhebliche Probleme.

    Samuel kaute ein wenig auf seiner spröden Unterlippe herum, so lange, bis er Blut schmeckte. Eine alte, schlechte Angewohnheit von ihm, aber sie half ihm dabei, seine Gedanken zu sortieren.
    “Mrs. Jenkins”, begann er, seine Stimme eine Spur weicher als zuvor, “Ob Sie verheiratet sind oder nicht, ist mir persönlich vollkommen gleichgültig. Ich würde niemals jemanden … bedrängen oder belästigen. Ungeachtet seines Familienstandes.”
    Er lehnte sich ein Stückchen vor, stützte seine Ellenbogen auf die raue Oberfläche des Tisches und bedachte sie mit einem sehr ernsthaften Blick. Die Öllampe warf flackernde Schatten auf Mrs. Jenkins Gesicht. Ihre Haut war von einem warmen, bronzefarbenen Ton und ihre großen, dunklen Augen stachen entschlossen glänzend aus einem weichen, rundlichen Gesicht hervor. Trotz ihres entschlossenen Auftretens, wirkte sie auf Samuel verletzlich. Der Musher kraulte Figaro, der sich allmählich beruhigte und die Stiefel der Frau neugierig beschnupperte, nachdenklich den Kopf. Für ihn selbst war es im Grunde genommen von Vorteil, wenn er sich nicht alleine mit seinen Hunden auf den Weg machte. Einen Partner zu haben, bedeutete mehr Sicherheit, insbesondere im Krankheitsfall oder wenn man gar angegriffen wurde.

    “Dass Sie mir neue Erkenntnisse und Ihren Wissensschatz anbieten, ehrt Sie. Ich bin nie abgeneigt, mich neuen Sprachen zu öffnen oder von den Kenntnissen anderer zu profitieren und zu lernen und biete im Austausch stets mein eigenes Wissen an. Jedoch …”, Sam machte eine kleine Kunstpause, faltete seine schmalen Hände mit den langen Fingern und stützte sein Kinn auf die Fingerkuppen. Er musste ihr klarmachen, dass es zwar bewundernswert war, dass sie es geschafft hatte, den beschwerlichen Weg von Skagway nach Dawson City zu meistern, doch dass die Goldsuche noch einmal ganz andere Risiken barg.
    “Nun … es ist … beeindruckend, dass Sie von Skagway hierher gefunden haben. Einige scheitern bereits an dieser Aufgabe. Doch Mrs. Jenkins … Sie sollten wissen, dass die Goldsuche noch einmal weitaus herausfordernder ist. Sie ist nicht nur beschwerlich und besonders um diese Jahreszeit gefährlich. Sie verändert Menschen, hat manchen in den Wahnsinn getrieben. Außer mir und meinen Hunden würden Sie in den nächsten Wochen und Monaten kaum Gesellschaft haben. In der Wildnis da draußen lauern nicht nur verwilderte und kranke Hunderudel verantwortungsloser Musher und Eisbären, oh nein. Andere Goldsucher werden versuchen, Ihnen Ihre Funde streitig zu machen und dafür wird ihnen jedes Mittel recht sein. Es ist nicht ungewöhnlich, dass man überfallen oder bedroht wird. Was ich sagen will ist … die Goldsuche kann das Beste im Menschen hervorbringen, aber weitaus häufiger ist das Gegenteil der Fall.”

    Samuel, der sich noch weiter vorgebeugt und leise, aber eindringlich zu der Frau gesprochen hatte, lehnte sich zurück und ließ ein tiefes Seufzen vernehmen, während er sich das antrocknende Blut von seinen spröden Lippen wischte. Er war ausgelaugt und ermattet von seiner letzten Suche und obwohl sein Verstand nach wie vor klar arbeitete, fühlte er sich heute nachgiebiger. Ob es seine offensichtliche Müdigkeit war, oder Mrs. Jenkins Beharrlichkeit, wusste er nicht. Der Musher drehte die nun leere Kaffeetasse zwischen seinen langen Fingern, musterte die junge Frau mit nachdenklich zusammengezogenen Augenbrauen und fügte eindrücklich hinzu:
    “Was ich Ihnen versuche zu vermitteln, Mrs. Jenkins, ist, dass Sie da draußen in der Wildnis in Situationen geraten werden, die Ihnen bislang vollkommen unbekannt sind. Die Sie vor Angst erstarren lassen werden oder ihre bisherige Moral so sehr herausfordern könnten, dass Sie hinterher mit sich selbst nicht mehr klarkommen. Sich vielleicht sogar hassen. Ich will … dass Sie sich dessen bewusst sind. Und alles, was ich von Ihnen verlange, ist, dass sie mir vertrauen und mir gehorchen. Denn dies wird Ihr Überleben sichern. Wenn ich Ihnen sage, dass Sie springen sollen, dann springen Sie. Wenn ich Ihnen sage, dass Sie Puk hier”, er deutete auf den zierlichen Husky, der Jenkins mit schief gelegtem Kopf frech musterte, “zu einem Muff und Handschuhen verarbeiten sollen, dann tun Sie das. Und wenn ich Ihnen mein Gewehr in die Hand drücke und Ihnen befehle, die letzte Kugel mir in den Kopf zu jagen, den Schlitten zu nehmen und zu fliehen, werden Sie dies auch tun. Haben Sie das verstanden?”

    Er machte eine kunstvolle Pause und steckte seine Daumen hinter seine groben Hosenträger. Wie man sich da draußen fühlte, war oft schwer in Worte zu fassen. Sam hoffte, dass er Mrs. Jenkins klarmachen konnte, dass ihr Unterfangen kein Leichtes sein würde und es vielleicht sogar klüger wäre, wieder umzukehren und nach einer anderen Lösung für ihr Problem zu suchen.
    “Wenn Sie trotz all dem noch immer mit mir kommen wollen, werde ich Ihnen das Schießen beibringen, wie man Fallen legt, wie man Wild ausnimmt - falls Sie nicht manches davon bereits beherrschen. Aber Ihre erste Aufgabe werden meine Hunde sein. Sie sind diejenigen, die uns sicher durch Schnee und Eis ziehen werden und damit gebührt ihnen Ihr allergrößter Respekt. Sie werden Sie füttern, sie pflegen, sich um ihre Pfoten kümmern. Kurz gesagt, Sie werden eine Beziehung zu ihnen aufbauen. Denn sollte ich aus welchem Grund auch immer, nicht mehr dazu in der Lage sein, fällt es Ihnen zu, mit Amarok und Zephyr den Schlitten zu führen …”

    Samuel überkreuzte seine schlaksigen Beine, die noch immer in seiner dicken Fellhose steckten und rieb sich die von der kalten Luft geröteten Augen. Seine Haut wurde schon wieder rau und rissig und er wusste, dass dunkle, bläulich violette Schatten unter seinen Augen lagen. Er fragte sich unweigerlich, ob Mrs. Jenkins ihn auch dann so vehement angesprochen hätte, wenn sie nicht wüsste, wer er war. Sam hatte sich nie für eitel gehalten, aber selbst er wusste, dass er nicht dem Bild des typischen, erfolgreichen Mannes von Welt entsprach, mit seiner fast schon zarten Statur, seiner Leichenblässe und der teilweisen Verwilderung, die ihm selbst dann zu eigen war, wenn er frisch gewaschen und in feinen Zwirn gesteckt durch die Gassen marschierte.

    Er fuhr sich durch seine ohnehin schon verwuschelten, feinen Haare, sah Mrs. Jenkins aufrichtig und ehrlich ins Gesicht und merkte abschließend an: “Ich weiß nicht, welche … Geschichten Ihnen zu Ohren gekommen sind, aber ich weiß, dass man munkelt, ich sei verflucht. Jeder, der mit mir Gold gefunden hat, ist wenig später ums Leben gekommen. Wenn Ihnen auch dieses Risiko nicht zu hoch erscheint, bin ich gewillt, über Sie als Partnerin nachzudenken - vorausgesetzt, Sie kümmern sich um meine Hunde, befolgen meine Anweisungen und bringen mir Ihr Können bezüglich fremder Sprachen und Gesellschaftsspielen bei.”

    Permets-tu?

  • Terrah Jenkins

    Wie Mr. Corning auf seinem Stuhl regungslos und seine gelassene Haltung beibehielt, so konnte man meinen, er wäre eine dekorative Skulptur dieser Bar, die jeden Besucher zielführend einschüchtern sollte. Die vergehenden Sekunden zogen sich wie eine gedehnte Ewigkeit. Er war kein Mann, der vorschnell agierte, sondern sein Handeln wohl überlegte. Er nutzte seine jahrelange Erfahrung und seinen klaren Verstand, die Eventualitäten und Risiken für sich und auch für Dritte abzuwägen. Doch noch gab er nichts dergleichen preis und ließ mich zappeln.
    Erst das quietschende Schieben von Holz auf Holz und die Tatsache, dass der kippelige Holzstuhl vor mir, sich bewegte, war seine erste Antwort und offenbar eine Einladung, dass ich mich zu ihm gesellen durfte. Sogar das Reinigen seiner Fingernägel mit dem Klappmesser unterbrach er oder er hatte diese Pflege nun beendet. Eines von beiden würde zutreffen. Losgelöst davon, widmete er sich jedenfalls nun meinem Anliegen und Hoffnung auf eine Einigung keimte in mir auf. Während ich auf dem Stuhl Platz nahm, meinen Rucksack an meine Seite zog, kaute Mr. Corning an seiner Unterlippe und gab noch immer keinen Laut von sich.
    Innerlich brannte ich darauf, seinen Forderungen und seiner Ausführung zu lauschen, auf dass wir uns einigen könnten. Seine Stimme war nun etwas weicher und ich hörte ihm aufmerksam zu, zollte ihm denselben Respekt, wie er ihn mir zuvor erwiesen hatte. Meine anfänglich geäußerten Bedenken bei seiner möglichen Wahl an Forderungen beseitigte er mühelos. Ein knappes dankbares Nicken gab ich ihm als Antwort. Somit führten wir ein konstruktives, zielführendes vertragliches Gespräch, bei dem wir beide Verhandlungspartner auf Augenhöhe waren.

    Jetzt lehnte er sich vor, stützte seine Ellenbogen auf der Tischplatte ab und fuhr eindringlicher mit ernstem Blick fort. Das Flackern der Öllampe auf dem Tisch ließ Schatten unheilvoll auf seinem blassem Gesicht tanzen, seine blauen Augen stachen eisig hervor und gaben ihm eine diabolische Erscheinung.
    Zuerst passte diese visuelle Szene nicht zu seiner zuvor geäußerten Einwilligungsbereitschaft, dass er einen Teil meiner Angebote in Austausch annehmen wolle, doch dies änderte sich schlagartig. Besonders nach seiner rhetorischen Pause, die er gezielt platziert hatte. Hierbei nahm er eine eindringlichere Haltung ein, stützte sein Kinn auf seine rauen Fingerkuppen. Die Stimme nun leiser, gleichbleibend in ihrem nachdrücklichen Ton. Er hatte meine volle Aufmerksamkeit, jede Information wurde aufgenommen, gefiltert, sortiert und verinnerlicht. Den Wahrheitsgehalt zweifelte ich an keiner Stelle an, war teils dankbar für den ungefilterten Input, auch wenn mich bei manchen Anmerkungen eine Gänsehaut beschlich.
    Er berichtete unverblümt von den Herausforderungen und Risiken bei der Goldsuche, die einen in lebensbedrohliche, gar tödliche Situationen bringen würde, und sogar davon, dass es einen selbst ändern könne. Die Natur war zu dieser Jahreszeit eine unverkennbare und nicht zu unterschätzende Gefahr, daneben wilde Tiere, aber auch andere Goldsucher, die in ihrer Gier zu Bestien werden konnten. Inmitten dieser rauen, lebensbedrohlichen Umgebung gäbe es nur uns - Mr. Corning, seine Hunde und mich. Wenn dies funktionieren sollte, so müsste ich Mr. Corning vertrauen, gehorchen und unterstützen. Hiermit wäre ich fein, selbst wenn ich einen Teil meiner Selbstständigkeit aufgeben müsste. Es wäre nur vorübergehend, solange, bis genug Gold gefunden wurde, bis die lästigen etlichen Schulden beglichen wären.

    Er lehnte sich zurück, löste durch das fehlende Schattenspiel auf seinem Gesicht und die entspannte Körperhaltung die bis eben geschaffene angespannte Intensität auf. Automatisch atmete ich selbst tief ein, fast schon erlösend fühlte sich der tiefe Atemzug an, wie die warme Luft die Lungenflügel weitete und den Körper mit Sauerstoff versorgte. Mr. Corning wirkte erschöpft von seiner letzten Goldsuche. Sein Gesicht war von den Strapazen der Natur gezeichnet, Augenringe waren unverkennbar sichtbar und seine Haut war trocken und rissig. Eine ordentliche Mütze Schlaf und eine fetthaltige Creme könnte er gebrauchen. Wild und roh waren gute Bezeichnungen seines Äußeren. Erneut setzte eine Pause ein, in der ich seine Hand beobachtete, wie sie die leere Kaffeetasse auf dem Tisch drehte.
    Überlegte er nun, ob er tatsächlich bereit dazu wäre, mit mir ein Bündnis einzugehen? Würde er nun einen Rückzieher machen, mich abwimmeln und die entfachte Hoffnung in meiner Brust im Keim ersticken? Sofort schlugen in mir die Alarmglocken und meine Gehirnzellen suchten neue Argumentationen, um ihn notfalls vom Gegenteil zu überzeugen, dass er doch mit mir auf Goldsuche ging. Ohne diesen Mann wäre ich verloren und ich hatte nicht vor, nicht alles unversucht zu lassen, um ihn zu überzeugen.
    Angespannt hörte ich seinen eindrücklichen Worten zu und spürte, wie sich meine eigenen Muskeln wieder entspannten, da er weiterhin signalisierte, dass er an einem Bündnis interessiert wäre. Er ließ mich nur mit aller Nachdrücklichkeit wissen, dass das Unterfangen nicht zu unterschätzen wäre und dass ich vollends auf Mr. Corning hören müsste. Welche Situationen einen vor Angst erstarren ließen, einen Menschen zu einem anderen machen würde, definierte er nicht weiter. So oblag es meiner eigenen nüchternen Fantasie, diese zu füllen. Ungeachtet davon würde ich auf den letzten Metern nicht klein beigeben oder gar den Schwanz einziehen. Zu lange hatte ich auf diesen Augenblick hingearbeitet, etliche Summen verschleudert, die Strapazen bis nach Dawson City auf mich genommen und so würde ein Zurück jetzt nicht mehr geben!
    Puk, wiederholten meine Gedanken und zum ersten Mal nahm ich einen der Hunde, in diesem Fall den schwarzen Husky, wahr. Das helle Augenpaar des schwarzen Hundes war mir etwas zu fokussierend und irgendetwas Bedrohliches glaubte ich in ihnen zu sehen. Sollte dieses besonders liebenswürdige Hündchen auf andere Weise eine Verwendung für uns finden, so würde ich nicht zögern, waren direkt meine Gedanken hierzu. Also nickte ich zustimmend. Die Ausführung darüber, dass ich Mr. Corning auf seinen Befehl hin eine Kugel in den Kopf jagen solle, ließ mich schwer schlucken.
    Ein unsicheres Flackern leuchtete in meinen Iriden auf, gefolgt von einer sich ausbreitenden Beklemmung, die ich durch ein erneutes Schlucken herunterwürgen konnte.
    “Ich habe verstanden”, sprach ich deutlich und im festen, unnachgiebigen Ton. Hoffentlich würde ich bis zu jenem Tag genug gelernt haben, um in diesem Notfall auch alleine klarzukommen. Im Augenblick zweifelte ich es stark an und auch die Vorstellung, einen Menschen eigenhändig nieder zu strecken, war etwas Neues für mich. Es galt als verboten und war mit Strafe geahndet - sei es sowohl in meiner Heimatstadt als auch hier in Alaska.

    Erneut setzte eine Pause ein, bei der er seine Daumen hinter die Hosenträger steckte. Normalerweise verhieß diese Körperhaltung etwas Positives, da es oftmals von Selbstbewusstsein und Zuversicht zeugte. Bei Mr. Corning war ich mir allerdings unsicher, denn er wollte mir unmissverständlich klar machen, welchen Preis mein Vorhaben für mich haben könnte. Nur jetzt würde ich nicht kneifen. Nicht mehr. Felsenfest von meiner Entscheidung überzeugt, wollte ich mit diesem Mann nach Gold suchen. Koste es, was es wolle!
    Sollte ich nicht mehr heimkehren, so hätte ich es zumindest versucht. Immer noch besser, als ein klägliches Leben in Armut zu führen, sich weiter zu verschulden und die nächste Generation mit dieser Last das Leben zu erschweren. Eine teuflische Spirale der Knechtschaft. Etwas, wofür ich meine Mutter und meine Brüder verachtete, die in ihrer Stumpfheit und Trägheit nicht weiter als bis zum Abend dachten. Wie könnte man nur einen so beengten Horizont haben? War es Egoismus oder Sorglosigkeit? Darauf hatte ich nie eine Antwort finden können.

    Die Worte von Mr. Corning holten mich sofort ins Hier und Jetzt zurück. In Gedanken stimmte ich ihm bereits zu, definitiv werde ich mit Ihnen kommen. Im Schießen und im Fallen legen unterrichtet zu werden, gefiel mir. Bisher hatte ich dazu keine Gelegenheit gehabt, da ersteres als Frau unschicklich wäre - so hieß es - und zweiteres in einer Stadt nie Anwendung fand. Während meiner Reise nach Dawson City hatte ich nicht eine Sekunde daran gedacht, ein Wildtier zu erlegen. Es hätte nur Zeit gekostet und daneben war ich mit ausreichend Proviant ausgestattet. Ein Tier auszunehmen, zu einer Mahlzeit zu verarbeiten und aus dem Fell etwas Neues herzustellen, war mir bekannt. Wobei der Schritt des Gerbens immer einem Fachmann überlassen wurde. Zuhause hatten wir Kaninchen in beengten Käfigen gehalten. Als Kind hatte ich stets die Aufgabe, die Tiere fett zu füttern. Eine persönliche Bindung zu diesen hatte ich nie aufgebaut, da die Tiere mit den langen Ohren und dem typischen frustrierten oder warnenden Hinterlauf klopfen nur ein Mittel zum Zweck waren. Sie ergaben an besonderen Tagen eine fleischhaltige Kost, über die man dankbar war. Von meinem Vater, später von meiner Mutter, hatte ich das Handwerk des Tötens und Ausnehmens gelehrt bekommen. Die Zubereitung zu einem Braten ebenfalls, da dies Frauenarbeit war.
    Die priorisierte Aufgabe, die Pflege und Versorgung der Hunde - mittlerweile verdoppelte sich die Anzahl der Hunde von zwei auf vier -, ließ mich am meisten aufhorchen. Eine ganze Liste an Aufgaben nannte er mir, wie man die Tiere zu pflegen und zu versorgen hatte. Es stand im starken Kontrast zu dem, wie ich sonst Hunde sah. In meiner Heimatstadt liefen die Tiere wild rum, versorgten sich selbst oder waren angekettet und bewachten das Grundstück. Lediglich die Wachhunde wurden gefüttert, aber sonst gab es keine weitere Zuwendung oder Pfege von deren Besitzern. Nimmt mich, Mr. Corning, auf den Arm?, zwang sich mir diese Frage auf und ich war fast gewillt mich zu erkundigen. Doch seine Tonlage verriet nichts dergleichen und auch anhand der Augen- oder Lippenpartie war kein Zucken zu vernehmen, als ob er soeben scherzen würde. So unterdrückte ich diese Frage und nahm die Aussage als klare Ansage. Die Hunde würden demnach in meinen Aufgabenbereich fallen - ob ich nun wollte oder nicht.

    Mit seinen langen Fingern strich er sich durch sein braunes Haar und richtete sich nochmals an mich, erwähnte das Gerücht, dass jene, die mit ihm auf Goldsuche erfolgreich waren, wenig später starben. Dann eröffnete er mir deutlich, welche Forderungen er sich für seine Leistung wünschte und erkundigte sich, ob ich nach all dem immer noch interessiert an einer Kooperation mit ihm wäre.
    Verdammt, natürlich, war ich interessiert und selbst die Gerücht, dass nach dem Fund von Gold mit ihm, man sterben könne, wäre mir egal. Ein Ammenmärchen, wie ich es eingestufte, würde mich nicht in die Knie zwingen und selbst wenn ich sterben würde, so würde ich weitere Vorkehrungen treffen, auf dass das Gold selbst nach meinem Tod noch zu meiner Familie käme. Vorbereitung und rechtzeitiges Handeln waren das Mittel zum Ziel!

    Mit festem Blick lehnte ich mich leicht auf dem Stuhl vor und erwiderte ohne Umschweife: “Ich willige Ihren Forderungen ein, lehre Ihnen meine Sprachen, Gesellschaftsspiele und kümmere mich um die Hunde. Des Weiteren werde ich mich an Ihre Anordnungen halten.” Nun reichte ich ihm meine zähe Hand hin, die von den jahrelangen verschiedenen Arbeiten und Strapazen gezeichnet war: Die Oberfläche war rau, aber nicht trocken, an manchen Fingerkuppen waren vom Nähen und Schneiden kleine Schnitte zu erkennen. Manche ausgeheilt, andere noch etwas frisch, da ich in der Schneiderei von Dawson City kleinere Arbeiten verrichtet hatte, um meinen Geldbeutel etwas aufzubessern. Durch den Handschlag forderte ich eine symbolische Form der Vertragseinhaltung ein. Natürlich könnten wir all dies auch schriftlich fixieren, doch Mr. Corning stufte ich als einen ehrlichen Mann ein, der sich an diese Abmachungen auch ohne Schriftstück halten würde. Auf diese symbolische Geste wollte ich jedoch nicht verzichten.
    Doch noch bevor er einschlagen sollte, fuhr ich fort, um ihn über meinen Kenntnisstand zu unterrichten, damit er wusste, wo er mit dem Unterricht bei mir beginnen sollte. Nach wie vor hielt ich Vorbereitung für das Essentiellste und durch das Eingeständnis, meine Schwächen preiszugeben, schuf ich in meinen Augen Transparenz und den Beginn von Vertrauen. Womöglich würde ich zu diesem Mann ehrlicher sein, als ich je zu einem anderen Mann war. Angesichts der Umstände war es mir das wert.
    “Wie man ein Tier tötet, ausnimmt, das Fell abzieht und aus gegerbtem Fell etwas herstellt, bin ich bereits als Kind gelehrt worden. Wie man mit einem Schlagstock jemanden eins über die Rübe zieht, weiß ich ebenfalls, aber wie man mit einer Flinte oder Pistole umgeht oder Fallen stellt, weiß ich nicht. Mit Hunden kenne ich mich auch nicht aus, genauso wenig mit deren Pflege oder gar dem Mushen. Ich bitte Sie mir, all dies zu unterrichten, damit ich Ihren Anforderungen gerecht werde.” Als letztes schob ich folgende Bitte nach: “Und bitte seien Sie immer ehrlich zu mir, damit ich weiß woran ich bin und wie ich mich verbessern kann. Heuchelei oder Verschwiegenheit bin ich leid, besonders angesichts der Tatsache, dass wir als Team fungieren müssen.”

    Es war aufregend nun endlich an diesem Punkt angekommen zu sein. Das Ziel war zum Greifen nah und schon jetzt gab mein Herz in der Brust Freudenhüpfer von sich. Zuversicht stimmte mich heiter und beflügelten schon jetzt den Wunsch, den Anforderungen von Mr. Corning gerecht zu werden, mit dem Training zu beginnen, ob nun durch direkte Praktiken oder durch das Aneignen von Theorie. In meinen grünen Augen war zu erkennen, dass ich Feuer und Flamme war und mit dieser Motivation schaute ich zu Mr. Corning.

  • Mrs Jenkins zog sich den von ihm angebotenen Stuhl heran, schenkte ihm ihre volle Aufmerksamkeit und hörte zu - und sie tat es, ohne ihn zu unterbrechen. Samuel entspannte sich zum ersten Mal tatsächlich. Sein Gesicht wurde weicher und sein Blick sanfter, weniger misstrauisch und bohrend, als er seinen Teller und seine Tasse von sich schob. Die junge Frau schien nicht nur robust und bodenständig zu sein, sondern auch höflich. Zu viele hatten ihn bereits in seinen Ausführungen unterbrochen und wollten von den Gefahren, die ihnen bevorstehen, nichts wissen. Mrs. Jenkins wirkte etwas angespannt und unsicher, aber dennoch nach wie vor entschlossen, ihn zu begleiten, was Samuel insgeheim imponierte. Sie war vernünftig und sich der Herausforderungen bewusst, doch trotzdem entschlossen, sich nicht abschrecken zu lassen. Mrs. Jenkins würde ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren, aber sie war keine Traumtänzerin.

    Der Musher lauschte nun seinerseits ihren Worten. Er hatte bereits geahnt, dass die junge Frau vermutlich aus einem ähnlichen sozialen Milieu stammen musste, wie er. Ihre Kleidung verriet dies und nun auch ihre Erzählungen. Mrs. Jenkins war harte Arbeit gewohnt und sie war offenkundig nicht zimperlich. Sie würde ihm draußen in der Wildnis sicherlich von Nutzen sein, mehr als jene Gecken, die bereits reich waren und trotzdem hier aufkreuzten, nur, um alles zu verlieren.

    “Sie scheinen wahrhaftig über ihr Vorhaben lange und gründlich nachgedacht zu haben, nicht wahr?”, sinnierte er, während er Figaro, der es sich jaulend auf seinem Schoß bequem machen wollte, mit sanfter Gewalt wieder zurück auf den schmutzigen Boden der River Rats Bar schubste.
    “Bleib!”, befahl er dem dreifarbigen Husky, der nun Mrs. Jenkins geradezu mitleidheischend anstarrte und fiepte. Sam schnaubte belustigt, knuffte ihn in die pelzige Schulter und fuhr sich über seine wunden Augen. Himmel, er war furchtbar müde, trotz des starken Kaffees und er hoffte wirklich, dass seine Erschöpfung nicht sein Urteilsvermögen trübte. Denn er hatte gerade so eben beschlossen, Mrs. Jenkins mitzunehmen. Samuel unterdrückte mit Mühe ein Gähnen und musterte die ihm dargebotene Hand aus glasigen Augen. Ein paar Schnitte, einige Schwielen. Robuste Arbeiterhände, die mit anpacken konnten und es auch tun würden. Seine eigenen Hände wirkten im Vergleich geradezu grotesk, fand er. Lange, schmale Finger, geradezu feingliedrige Pianistenhände, sah man von seinen eigenen Verletzungen und Schwielen ab, sowie der trockenen, rissigen Haut. Leider hatte er nie die Gelegenheit gehabt, wirklich ein Instrument zu lernen - außer seiner Mundharmonika. Er schlug ein und umfasste ihre Hand kurz mit sanftem Druck, ehe er sie genauso schnell wieder losließ.

    “Fein … ich werde Ihnen eine Chance geben. Ich nehme an, Sie haben sich in einem der Hotels hier eingemietet? Verraten Sie mir welches und ich hole Sie morgen früh um sieben dort ab! Ich besitze ein weitläufiges Grundstück hier in Dawson City und werde Sie so das Schießen lehren können. Und ich denke …”
    Er schenkte ihr ein hintergründiges Lächeln in dem eine Spur von Jungenhaftigkeit lag und packte Puk im Nackenfell, der den Wirt, der heraneilte, um Samuels Teller und seine Tasse mitzunehmen mit boshaftem Blick und hochgezogenen Lefzen bedachte: “… so können Sie auch Einblicke in das Mushen erhalten. Mein Schlitten ist klein und leicht, aber er wird von acht Hunden gezogen. Und sie alle haben ihre eigene … Persönlichkeit.”
    Sam bedachte sie mit einem ruhigen, abgeklärten Blick. Ihre Fronten waren nun geklärt. Er winkte Richard mit einer knappen, etwas herrisch wirkenden Handbewegung heran, um seine Mahlzeit zu bezahlen und ihm gleichzeitig ein durchaus üppiges Trinkgeld zu spendieren.
    “Falls Sie keine weiteren Fragen mehr haben, werde ich mich zurückziehen. Sollten Sie hier noch etwas essen oder trinken wollen, fühlen Sie sich frei, dies zu tun und sehen Sie es als bezahlt an.”
    Mit diesen Worten schlüpfte Samuel in seine Robbenfelljacke, tippte sich an eine imaginäre Hutkrempe und warf Mrs. Jenkins noch einen kurzen Blick zu, bevor er mit seinen Hunden im Schlepptau die Bar verließ. Die Müdigkeit brachte Samuel dazu, beim Gehen etwas zu wanken. Wer ihn nicht kannte, könnte ihn glatt für einen der Säufer halten, die die Bar umgeben von Zigarrenrauch und einem penetranten Geruch nach Alkohol heimsuchten.

    Er würde sich nun seine wohlverdiente Mütze Schlaf holen und morgen sehen, was der Tag brachte. Es juckte ihm bereits in den Fingern, erneut auf Goldsuche zu gehen und den Chilkoot Pass zu bezwingen. Und es erfüllt ihn mit einer Art kribbeligen Vorfreude, dieses Mal eine vielleicht kompetente Partnerin an seiner Seite zu wissen.

    Permets-tu?

  • Richard Thomkins


    Hinter dem Tresen widmete ich meinen üblichen Aufgaben, die mir fließend von der Hand gingen, sei es Kaffee kochen, Essen zubereiten oder benutztes Geschirr zu reinigen und mit einem trockenen, fleckigen Tuch zu polieren. Ein Automatismus, der mir in Fleisch und Knochen übergegangen war, sodass ich mühelos meine Gäste im Blick hatte, auf deren Wünsche reagieren und wenn ich wollte, sogar die Gäste belauschen konnte.
    Wer ein Lokal betrieb, hatte die Effizienz von Klatsch und Tratsch zu verinnerlichen und zu seinen eigenen Vorteilen zu nutzen.
    Denn wer Gäste langfristig in die eigene Stube locken wollte, auf dass die Münzen in die eigene Kasse sprangen, hatte mit Klatsch und Tratsch die Leute bei Laune zu halten. Man lebte hier von den Neuigkeiten, egal ob wahr oder halbwahr oder auch gelogen. Hauptsache ein reger Wechsel von Informationen fand statt, der Anlass bot, sich mit den anderen Städtern von Dawson City darüber auszutauschen. Mr. Corning, so rau und eigenwillig wie der Kerl war, trieb durch seinen Legendenstatus öfter neue Gäste in meine Bar. Die unerfahrenen Leute setzten sich so gerne an den Tresen, tranken und aßen, während ich sie über diesen Kerl unterrichtete, ihnen Geschichten erzählte und ihnen die Hoffnung gab, dass Mr. Corning vielleicht am kommenden Tag in die Bar käme. Über Wochen hielten sich die Neulinge in meinem Lokal auf, bezahlten tüchtig und lauschten aufmerksam, wenn ich wieder eine Geschichte über Mr. Corning aus dem Hut zog.
    Etwas, das mir mit der jungen Frau, die vor Mr. Cornings Stammplatz stand, nicht gelungen war. Die Frau dürfte ziemlich knapp bei Kasse sein, da sie in der Stadt gefühlt jeden Inhaber nach Arbeit gefragt hatte. Bei manchen hatte sie für kleinere Handarbeiten eine Stelle bekommen, um lästige Dinge zu erledigen, wozu der Inhaber und seine Angestellten keine Lust hatten. Billige Arbeitskräfte nahm man gerne an, wobei ich die Frau abgewiesen hatte. Sonst hätte sie noch sonstige Vergütungen in meinem Hause verlangt, von Nachlässen bei Speisen oder Getränken.
    Erneut warf ich einen Blick zu dem Tisch am Kamin. Die beiden unterhielten sich noch immer. Worum genau, war offensichtlich, aber worüber im Konkreten, war die spannendere Frage. Sie würde mit Mr. Corning zusammen auf Goldsuche gehen wollen, doch mit welchen Mitteln versuchte sie den Kerl zu überzeugen?
    Als Weibszimmer würde sie sich an ihm die Zähne ausbeißen, so wie er in distanzierter und abgeneigter Haltung auf seinem Stuhl saß und einem der Hunde den Kopf kraulte. Die schwarze tollwütige Thöle mit den eisblauen Augen hatte diesen dämonischen Glanz aufgesetzt, der mir selbst jedes Mal einen Schauer über den Rücken jagte. Zwar behauptete Mr. Corning, dass seine Hunde besser gepflegt waren, aber so sehr sich die beiden, der schwarze Köter und Mr. Corning fast wie Zwillinge, glichen, wäre es auch kein Wunder. Wer verriet schon die eigene Familie…

    Die Androhung von Mr. Corning, als er seine Bohnen und Kaffee bestellt hatte, lag mir noch immer im Magen und ich fürchtete, dass wenn ich den Radius zu seinem Tisch hinter meinem Tresen verringern würde, so würde er mir wirklich seine schwarze Bestie auf mich hetzen. Also blieb ich außer Hörreichweite und beäugte das Ganze aus dem Blickwinkel.


    Für eine Sekunde hatte ich weggeschaut, mich um eine Bestellung der zwei Herren am Tresen befasst, um ihnen das Bier nachzuschenken. Als ich wieder zur Ecke schaute und glaubte, die Frau wäre gegangen. Fast schon triumphierend fühlte es sich an, dass wieder ein Neuling eine Abfuhr von Mr. Corning erhalten hatte.

    Dann stellte ich erschrocken fest, dass die Frau bei ihm mit am Tisch saß und deren Unterhaltung fortgeführt wurde. Wie zum Teufel? War sie so dreist und hatte sich einfach zu ihm gesetzt oder hatte Mr. Corning ihr den Platz angeboten? Oh, meine Gedanken überschlugen sich und beflügelten meine innere Gerüchteküche, die ebenso köchelte wie die Suppe im Topf, die in der kleinen Küche im Nebenraum ungeachtet brodelte.


    Terrah Jenkins


    Die hohen Ansprüche von Mr. Corning an seinen Partner waren berechtigt, aufgewogen mit dem, was einem fern von Dawson City erwartete: ein raues Land, eine noch rauere Natur mit Gewalten, die kein Erbarmen kannten; hinzukamen lebensbedrohliche wilde Tiere, darunter der Mensch selbst. In Wahnsinn getriebene Menschen, die nach Gold gierten und vor nichts zurückschrecken würden. Menschen, die zu Bestien geworden waren, so hatte er sie bezeichnet. Wer sich dieser Unternehmung stellen wollte, hatte mit allen Wassern gewaschen zu sein, seinem Partner zu vertrauen und bereits zu sein, selbst über die eigenen Grenzen zu schreiten. In der Tat, ich war mir meines Vorhabens bewusst. Auf seine eher rhetorisch gestellte Frage reagierte ich nicht, schaute ihn nur mit weiterer Entschlossenheit an und bemerkte, wie einer der Hunde an ihm hinaufklettern wollte. Heulend, nahezu protestierend kommentierte der Hund sein Tun, wurde jedoch zurechtgewiesen und auf den Boden zurückgedrängt. Auf dem dunklen Holz waren dunklere Spuren zu erkennen, als hätte der Hund mit seinen plüschigen Pfoten die Holzoberfläche gewischt. Mit einem Fiepen tat der Hund weiter seinen Unmut kund, schaute nun zu mir, in der Hoffnung, ich würde seinen Herrn belehren oder ihn auf meinen Schoß nehmen.
    Die langen schmalen Finger von Mr. Corning knufften maßregelnd in den dicken Pelz am Schulterbereich des Hundes.
    Ein bezaubernder, hartnäckiger und jammernder Geselle, dachte ich bei dem Exemplar, unterdrückte es, meine mangelnde Begeisterung für den Vierbeiner nach außen hin zu zeigen. Selbiges galt für den schwarzen Hund, der mit seinen stechend blauen Augen eindeutig eine offensivere Haltung einnahm. Man konnte nur hoffen, dass dieser mehr bluffte, als ernsthaft zubeißen wollte.
    Irgendwie würde ich mit den Hunden zurecht kommen, würde mit ihnen zurechtkommen müssen, da es eine der Forderungen von Mr. Corning war. Pflichtbewusst und mit Sorgfalt würde ich dieser und auch all den anderen Forderungen nachkommen.

    Die Müdigkeit und Erschöpfung war dem Mann anzusehen, schon mehrfach hatte er sich die geröteten, trockenen Augen gerieben und Gähner unterdrückt, die seinen Brustkorb geweitet hatten. Die Luft hatte er langsam durch seine spröden, halb blutig gebissenen Lippen entlassen.

    Es verging eine kurze Weile bis Mr. Corning meine Hand ergriff und dadurch den symbolischen Vertrag mit mir schloss. Eine kurze, eher flüchtige Geste, die für mein kaufmännisches Verständnis und meine Zwecke allerdings ausreichte. Seine Handfläche fühlte sich trocken und rau an. Voller Elan stand ich vor ihm, war bereit, auf der Stelle mit dem Training zu beginnen und von ihm zu lernen. So kamen seine folgenden Worte einer gefühlten Zurückweisung gleich, da er alles auf den morgigen Tag schob. Angesichts der sichtbaren Tatsache, wie erschöpft er war, konnte ich es mit einer Spur von Ungeduld nachvollziehen. Er brauchte eine ordentliche Mütze Schlaf, um sich zu erholen, den Körper zu regenerieren, um wieder ausgeschlafen bei Kräften und klar bei Verstand zu sein. Heute wäre er nicht mehr zurechnungsfähig und noch weniger in der Lage, jemanden etwas Neues beizubringen. Also schluckte ich meinen Protest hinunter und nickte ihm akzeptierend zu.

    Aus dem Blickwinkel sah ich, wie Mr. Corning den schwarzen Hund mit den gebleckten Zähnen am Nacken hochhielt, musterte sein schwer zu deutendes Lächeln, das ihn wacher wirken ließ.
    Hastig räumte der Barinhaber Mr. Thomkins das Geschirr und die Tasse weg, sah zu, dass er schleunigst Land gewann und sich wieder hinter dem Tresen begab. Indes vollendete Mr. Corning seinen Satz, wodurch sein Lächeln omenhaft vielsagender wurde. Er spielte auf die verschiedenen Hunde und deren Persönlichkeiten an. Ich hoffte, dass es ein nicht noch böshaftigeres Exemplar als dieses schwarze Ungetüm in seinem Rudel gäbe. Fest hielt er den Griff um den Nacken geklammert. Morgen würde ich es herausfinden, so würde ich alles auch auf mich zukommen lassen und keine weitere Zeit von Mr. Corning verschwenden.

    Auf das knappe herrische Winkzeichen kam Mr. Thomkins wieder vor seinem Tresen hervor. Beglich zügig die Rechnung mit ihm, starrte er mit großen Augen auf den schwarzen Hund, während er sich in seiner hohen Fistelstimme für das Trinkgeld bedankte. Auf den Hinterbeinen tänzelte das schwarze schlanke Tier, versuchte sich vom Boden abzustoßen, um nach vorne zu schnellen. Mit dem Portmonee in der Hand verschwand der Inhaber der Bar ebenso schnell wieder, um hinter dem Tresen Zuflucht zu finden.
    “Im Red Tree Hotel. Ich habe keine weiteren dringenden Fragen”, teilte ich ihm stattdessen mit, verabschiedete mich und richtete ihm meinen Dank aus, da er mir ein Frühstück spendierte, “Bis morgen, Mr. Corning und haben Sie vielen Dank für die Einladung.”
    Als er sich die silbrige Robbenfelljacke überzog, wirkte er zum einen roher und wilder, zum anderen erschien sein Körperbau kräftiger und breiter. Nur noch sein blasses Gesicht war zu erkennen, aus denen die graublauen Augen durch die gerötete Sklera vervorstachen. In einer höflichen Geste, des Antippens des Hutes, den man zur Begrüßung oder Verabschiedung vor einer Dame abnahm, verabschiedete er sich. Fast automatisch erwiderte ich seine Höflichkeit mit einem Hofknicks. In gerader Körperhaltung stellte ich mein linkes Bein leicht nach hinten, um dezent in die Knie zu gehen, den Kopf leicht gesenkt, den Blick weiterhin auf Mr. Corning gerichtet, um meine Knie wieder durchzudrücken und den Knicks damit zu beenden. Der dreifarbige Hund war bereits an die Seite seines Herrn gesprungen, während der Schwarze etwas ungeduldig auf und ablief. Kaum hatte sich Mr. Corning abgewandt, öffnete die Tür und war durch die Türschwelle geschritten, erlaubte sich das Mistvieh nach meinen Schuhen zu schnappen. Schnell zog ich mein bekleideten Füße weg, sodass dieser ins Leere schnappte, mich dann kurz frech mit seinen blauen Augen ansah und die Ohren spitzte, als das Knarren von Holz dem Stampfen durch Schnee wich. Jetzt sprintete der Hund seinem Herrn hinterher.
    Bastardo, fluchte ich dem Hund auf Spanisch hinterher und war mir sicher, dass wir zwei noch ziemlich anecken würden. Hoffentlich würde Mr. Corning alsbald mit der Bitte an mich herantreten, dass das schwarze Ungetüm zu einem Muff verarbeitet werden würde. Als Muff würde der garstige Hund merklich bessere Dienste erweisen, dachte ich verärgert über dieses Vieh, dessen Namen ich bereits vergessen hatte. Im Stillen gab ich ihm den Namen Demonio - spanisches Wort für Demon.

    In der Bar genehmigte ich mir das angebotene Frühstück auf Kosten von Mr. Corning und bestellte mir zudem einen Kräutertee mit Honig. Eine kleine Freude, die ich mir seit langem nicht mehr genehmigt hatte, da das eigene Portmonee diesen Luxus nicht hergab. Mit dem Ersparten hatte ich hauszuhalten, um über die Runden zu kommen, eine bedachte Unterkunft für die Nacht zu haben und bei Möglichkeit meine Ausstattung aufzubessern. Daher konnte ich diese dargebotene Gelegenheit nicht verstreichen lassen und bestellte mir eine wärmende Suppe mit trockenem Brot und dem gesüßten Tee. Der Duft von Pfefferminz und Zitronengras erfüllte meine Nase, vertrieb den stickigen und rauchigen Gestank der Bar, der alles umgab, sich bereits in die Kleidung gesaugt hatte. Die heiße Flüssigkeit schimmerte in einer dezenten grünlichen Nuancen. Feuchter heller Dampf stieg auf und verströmte weiterhin dieses wohlriechende Aroma. Für einen Moment erlaubte ich mir, die Augen zu schließen, mit dem Löffel in der Hand den Tee weiter umzurühren und mir zu vergegenwärtigen, dass ich meinem Ziel einen großen Schritt näher gekommen war. Ich hatte es geschafft, Mr. Corning anzutreffen, ihn sogar davon überzeugt mit mir zusammenzuarbeiten. Jetzt hieße es nur noch darauf zu hoffen, dass er am kommenden Morgen wirklich vor dem Hotel auftauchte und sich nicht in der Zwischenzeit klamm und heimlich aus dem Staub machte. Ein leises Seufzen entfloh meinen Lippen und ich öffnete meine Augenlider, nahm dann einen Schluck vom heißen Getränk. Die dünne, kräutrige-süße Mischung fühlte sich ungemein gut auf der Zunge an und floss sanft den Rachen hinab. Als ich aufschaute, stand der Inhaber neben mir und versah mich mit einem freundlichen Lächeln, dass ich bisher noch nie auf seinem Gesicht gesehen hatte. Verwundert hob ich meine Augenbrauen und fragte ihn mit fester Stimme: “Gibt es ein Problem?” – “Nein, nein”, winkte er mit der Hand ab und sprach weiter in seiner sehr hohen, dünnen und gepressten Stimme, “Sie und Mr. Corning arbeiten nun zusammen, habe ich das richtig verstanden? Erzählen Sie, wie haben Sie es geschafft, den Eigenbrötler zu überzeugen?”

    “Das geht Sie überhaupt nichts an. Ich bitte nun in Ruhe mein Frühstück zu genießen”, wies ich den Inhaber ab und widmete mich demonstrativ der Speise. Unbeirrt blieb der Mann vor dem Tisch stehen, rieb sich leicht die Hände, dann griff er zu seinem Portmonee und unterbreitete mir ein Angebot. Ohne aufzuschauen hörte ich ihm zu, hatte jedoch bereits bei seinem ersten Satz für mich den Entschluss entschieden.
    “Sie sind doch auf der Suche nach Arbeit. Was halten Sie davon, wenn Sie ausnahmsweise in meiner Bar aushelfen. Sie bekommen einen sehr guten Stundenlohn, arbeiten in meiner Bar und erzählen mir, was sie hier mit Mr. Corning besprochen haben und wie sie ihn überredet haben.”
    Trotz seiner Fistelstimme und dass ich sein Gesicht nicht ansah, konnte ich mir das schmierige Grinsen auf seinen Lippen bildlich vorstellen, wie er vor mir stand und mit dem Portmonee frohlockend wedelte. Ich hasste es, wenn man glaubte, man könnte meinen ärmlichen Status für seine Zwecke ausnutzen. Auch wenn ich knapp bei Kasse war, so besaß ich dennoch Stolz und Würde.
    Ein böses Funkeln glitzerte auf meinen hellgrünen Iriden, sahen ihn vorwurfsvoll an, als ich meinen Kopf hob und ihn unverhohlen anschaute. Nun erinnerte ich ihn nachtragend: “Am ersten Tag, als ich bei Ihnen um Arbeit gebeten hatte, hatten Sie mir unmissverständlich klargemacht, dass ich mich zum Teufel scheren sollte und dieses Bar nur als Gast betreten solle. Somit lautet meine Antwort: Nein. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe essen”, legte nun eine schnippische Drohung hinein, damit Mr. Thomkins mich endlich alleine ließ, “sonst erzähle ich jedem, dass Ratten in ihrer Bar sind. Bei der schäbigen Pflege würde es jeder sofort glauben. Das erkläre dann auch die Namensgebung ihrer Lokalität”
    Der Mann zuckte zusammen, reckte seinen Kopf und verließ den Tisch. Seinen gemurmelten Fluch hatte ich deutlich vernommen, reagierte aber nicht weiter darauf.

    Nach dem Frühstück erhob ich mich, verließ die Bar und wünschte unüblicherweise keinen angenehmen Tag. In diese Bar würde ich so schnell keinen Fuß mehr setzen.
    Draußen wirbelte die Kälte um meine Nase, enger umfasste ich meinen Mantel, stapfte dann durch den Schnee und suchte die Geschäfte und Hotels ab, um nach Arbeit zu fragen. Erst am späten Abend kehrte ich wieder ins Red Tree Hotel ein und knabberte ein paar der aufgesparten Zwiebacke. In meinem Notizblock begann ich mit der Skizze eines Mannes, der hinter einem Tisch saß, zu seiner rechten und linken angedeutet jeweils einen Hund. In den folgenden Tagen würde ich an der Skizze weiterarbeiten. Doch vorerst würde dies als Gedankenstütze reichen, dazu notierte ich unten rechts das Datum, den Namen der Lokalität River Rats Bar. Dies stellte den schriftlichen Beweis des Erfolgs dar. Eine kleine Trophäe auf dem Weg zum ersten Goldstück, das mir ein kleines Lächeln auf die müden Gesichtszüge schickte.
    Nachdem ich mich bettfertig gemacht hatte und mich in das muffige Kissen geschmiegt hatte, schlief ich bereits ein.

    *

    In den frühen Morgenstunden erwachte ich zeitig, spürte die Energie und den Tatendrang, der den Ablauf nach dem Aufstehen beschleunigte. Frisch hergerichtet und streifte mir nach und nach die beige, gefütterte Leinenhose, das verblichene Herrenhemd über, gefolgt von dem schweren Wollkleid, das den meisten Teil meines Körpers bedeckte und wärmte, darüber den schweren Lammfellmantel, danach die Schuhe und die Handschuhe. Währenddessen schob ich mir die restlichen Zwiebacke in den Mund, um eine kleine Grundlage zu haben. Viertel vor sieben warf ich mir den Rucksack über die Schulter und verließ das Zimmer. In dem Rucksack befand sich mein Hab und Gut, das ich ungerne unbeaufsichtigt lassen wollte.


    So verließ ich das Red Tree Hotel, stellte mich auf die vom Schnee freigeräumte Holzveranda und wartete auf die Ankunft von Mr. Corning. Das Treiben in der Stadt erwachte langsam, die ersten Lichter flackerten im Inneren der Häuser und kündigten das alltägliche routinierte Treiben an. Ein Trot, dem ich selbst ab heute entfliehen würde, da ich nicht länger Teil dieses städtischen Lebens sein würde, sondern mit Mr. Corning an den Aufgaben arbeitete, denen ich pflichtbewusst nachgehen sollte. Alles war er mir heute beibringen würde, würde ich mit Ehrgeiz verfolgen, die Grundlagen schaffen, um diese weiter auszubauen. Gespannt und mit einer Spur von Freude begegnete ich dem Training. Demgegenüber schlich sich die Unsicherheit ein, ob er auch wirklich kommen würde. Die Furcht, er könne es sich anders überlegt haben, stand mit einer schwergewichtigen Ungewissheit im Raum, die sich erst auflösen würde, wenn er mit dem Schlitten und den Hunden in die Stadt gefahren käme.

    Einmal editiert, zuletzt von Liliace (16. Februar 2025 um 17:10)

  • Die eisige Luft stach Samuel in die ohnehin schon gereizten und geröteten Augen, als er sich mit Puk und Figaro auf den Weg zu seiner spartanisch eingerichteten Behausung machte. Das Knirschen des Schnees unter seinen müden, ungewöhnlich schwerfälligen Schritten schaffte es fast, sämtliche anderen Geräusche der Stadt auszublenden. Sam speiste jeden, der ihm begegnete und mit ihm sprechen wollte, mit einem kurzen, rüden Nicken ab und verlor auch beim Anmelden seines neuen Claims nicht viele Worte. Der junge Musher bildete sich für sein Leben gerne ein, dass er über unerschöpfliche Energiereserven verfügte, doch besonders heute bewiesen ihm seine schmerzenden Glieder und seine wunde Haut wieder einmal das Gegenteil.

    Als er endlich an seinem Haus ankam, fühlte er die bleierne Müdigkeit, die sich seiner bemächtigte, umso deutlicher. Mühsam stieß er die hölzerne Tür auf und pfiff seine Hunde herbei. Auch, wenn er ihnen die Zeit auf seinem weitläufigen Grundstück gönnte, so wollte er die Vierbeiner jetzt in seiner Nähe haben. Zum einen, weil Thomkins nicht ganz Unrecht mit seinen Behauptungen hatte - Sam sah sich tatsächlich als Teil des Rudels. Und zum anderen, weil die Vierbeiner eine wohlige Wärme verströmten. Sam drückte schmerzerfüllt aufstöhnend seinen schmalen Rücken durch und entledigte sich dann seiner Kaninchenfellhandschuhe, sowie seiner Stiefel. Er streifte Robbenfelljacke und Hose ab und hängte sie neben seinem gusseisernen Zimmerofen, den er soeben angefacht hatte, zum Trocknen auf, während Puk seine Stiefel neben das schmale, eigentlich zu kleine Bett stellte. Der ängstliche Hermes wuselte ihm glücklich fiepend um die Beine und schlug ihm seinen verstümmelten Schwanz gegen ein knubbeliges Knie.
    “Gute Hunde!”, murmelte Samuel sanft und kraulte jedem der Vierbeiner kurz den massigen Kopf. Dann schlüpfte er aus seinem dicken, aber einfachen, wollweißen Leinenhemd und seiner braunen, etwas abgetragenen Hose, die er unter dem Robbenfell trug. Samuel zog sich seine Waschschüssel heran und unterzog sich einer schnellen, aber gründlichen Katzenwäsche, die ebenfalls seine Haare mit einbezog. Sie wirkte belebend auf seinen müden Geist, aber dennoch würde er heute sein Häuschen nicht mehr verlassen. Er musste sich auch körperlich regenerieren, um Mrs. Jenkins morgen gut unterrichten zu können. Der Pragmatiker in ihm hielt es für sinnvoll, sie zuerst im Mushen, dem Legen von Fallen und der Pflege seiner Hunde zu unterweisen. Sein innerer Zyniker war der Meinung, dass das sichere Bedienen einer Flinte oberste Priorität haben sollte - man wusste ja schließlich nie, welchen Bestien man in der Wildnis begegnete …

    Samuel seufzte, als er in den fast blinden, kleinen Spiegel sah und beschloss, den aussichtslos erscheinenden Kampf gegen seine trockene, wunde Haut fortzuführen, indem er sich eine fettige Creme um die Augen und auf die Hände schmierte. Nachdem er seine Hände gereinigt hatte, öffnete er seinen schiefen Kleiderschrank und griff sich ein neues Hemd und eine neue Hose.
    Mittlerweile fühlte er sich fast wieder menschlich. Satt, sauber und trocken. Sam griff nach einer seiner Öllampen und sinnierte darüber nach, ob er sich noch kurz an seinen hölzernen Schreibtisch setzen und einen Brief an seine Schwester Judith schreiben sollte. Doch er entschied, dass er dafür noch Zeit hatte. Sie hatte ihm erst geantwortet und ihm stolz berichtet, dass sie in einer Wollspinnerei Arbeit gefunden hatte und dort mittlerweile zu den fleißigsten Arbeiterinnen gehörte, was Sam mit Stolz und einer gewissen Genugtuung erfüllte. Judith war dabei von ihrem tyrannischen Vater unabhängig zu werden, genau wie er.
    Der Musher warf seinem schmalen Bett einen kurzen Blick zu, rümpfte die Nase und machte es sich schließlich auf dem dicken Teppich auf Karibufellen bequem, der in der Mitte des kleinen, aber sauberen Raumes lag. Seine Hunde gesellten sich um ihn herum, als er nach einer abgegriffenen Ausgabe von Shakespeares “Sommernachtstraum” griff. Es dauerte nicht lange, da zog ihn Morpheus auch schon in sein Reich. Sam schlief so reglos wie ein Toter, seine Atemzüge tief und gleichmäßig, nur von einem gelegentlichen Husten unterbrochen, der ihn zu dieser Jahreszeit oft quälte. Amarok hatte sich als Stütze unter seinen Kopf gelegt, während der weiße, stets freundliche Zephyr seinen Kopf auf seiner Brust abgelegt hatte und seine beiden Hündinnen, Vila und Eos, es sich an seiner Seite bequem gemacht hatten. Geri, der immer Hunger hatte, suchte in seinen Manteltaschen nach Futter, während Figaro sich etwas abseits der ganzen Meute zum Schlafen legte und Hermes sich wärmend zu seinen, in dicke Wollsocken gepackten Füßen, niederließ. Puk jedoch positionierte sich in der Nähe der Fenster und spähte in die Dunkelheit, die sich mit dem Ende des Tages über Dawson City herabsenkte.

    *

    Am nächsten Morgen stand Samuel in aller Herrgottsfrühe auf. Nachdem er seine Hunde gefüttert hatte, genehmigte er sich ein karges Frühstück, bestehend aus Brot und Hartkäse, das er mit etwas Wasser herunterspülte. Und dann wurde es auch schon Zeit, seine treuen Vierbeiner anzuschirren. Eigentlich hatte er gehofft, dies in aller Ruhe vor seiner Haustür tun zu können, da sein Haus etwas außerhalb der Stadt lag - doch das Glück war ihm natürlich nicht hold. Mrs. Williams, die Frau des Bürgermeisters, trippelte in einen eleganten Pelzmantel gehüllt, die verschneite Straße entlang. Die ältere Dame hatte die Angewohnheit, ihre Nase stets in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken und liebte es, über das Leben anderer zu urteilen. Für sie mussten all jene, die nicht ihrem engstirnigen Weltbild entsprachen, gemaßregelt und zurechtgebogen werden. So auch Samuel.
    “Ah, Mr. Corning!”, grüßte sie ihn auch sogleich, als sie sich mit ihm auf Augenhöhe befand. Naserümpfend warf sie einen verurteilenden Blick auf Puk, der sich in seinem Geschirr verheddert hatte und dabei offenbar den größten Spaß seines Lebens empfand.
    “Wie ich sehe, brechen Sie schon wieder auf? Alleine?”, fragte sie, während sie ihn aus großen, blauen Augen ansah, die Unschuld heuchelten, wo keine war. Samuel beschloss, sie zu ignorieren, solange es ging und befreite Puk aus seiner Misere.
    “Wissen Sie, ein Mann Ihres Alters sollte nicht so viel allein sein, noch dazu da draußen in der Wildnis!”
    Sie lachte künstlich auf und fuhr in ihrer Maßregelung fort: “Warum lassen Sie sich nicht endlich nieder und suchen sich ein nettes, häusliches Mädchen? Sie haben so viel Gold gefunden, Sie könnten ohne Probleme heiraten und eine Familie haben! Gönnen Sie sich doch mal eine Pause.”
    Samuel verdrehte die Augen. Dieses Thema schon wieder … Er schwang sich auf seinen Schlitten und warf Mrs. Williams einen boshaften Blick zu, der dem von Puk in nichts nachstand. Der junge Goldsucher wusste genau, dass sie und ihr Mann ihm am liebsten sämtliches Gold abknöpfen wollten, damit sie ihr luxuriöses Leben noch ausschweifender gestalten konnten. Es passte ihnen nicht, dass er lieber in Schulen und Krankenhäuser für jene investierte, die sich ohnehin kaum die Kleidung leisten konnten, die sie am Leibe trugen. Und der einfachste Weg, um ihn gefügig zu machen, schienen in ihren Augen die Fesseln einer Ehe zu sein. Samuel wurde allein bei dem Gedanken daran schon unbehaglich.

    “Mrs. Williams”, nuschelte er undeutlich, während er sich den Schal über Mund und Nase wickelte und die Kapuze um seinen Kopf herum festzurrte.
    “Warum wollen Sie ausgerechnet mich einem zarten, jungen Ding zumuten? Ich hätte Sie für umsichtiger gehalten, was ihre Sorge um die holde Weiblichkeit dieser Stadt anbelangt - insbesondere, da sie selbst zwei Töchter haben.”
    Bevor Mrs. Williams ihren Mund empört aufklappen konnte, brauste er mit seinem Schlitten davon. Seine eigentlich ganz gute Laune war verflogen. Während des Frühstücks hatte er sich sogar darauf gefreut, Mrs. Jenkins zu treffen und ihr das Schießen beizubringen. Doch dass jeder hier seine Meinung zu ihm und der Art und Weise, wie er sein Leben gestaltete, entweder hinter seinem Rücken oder dreist direkt kundtun musste, setzte ihm, entgegen der landläufigen Meinung, zu. Mit finsterem Blick fuhr er auf schnellstem Wege zum Red Tree Hotel. Schnee stob um ihn herum auf und verlieh sowohl seinen Hunden, als auch ihm einen wilden, majestätisch-frostigen Glanz, als er vor dem Hotel ankam und das Gespann durch ein langgezogenes “Whoaah!” zum Stehen brachte. Amarok und Zephyr kamen seinem Befehl sofort nach. Gut gefüttert und kräftig hielten sie knapp vor Mrs. Jenkins an, die - sehr zu Samuels Missfallen - von den Töchtern des Bürgermeisters umringt war. Die brünette Mary rümpfte bei seinem Anblick die Nase noch mehr. Anscheinend war sie von Mrs. Jenkins schon nicht angetan, doch seine Anwesenheit schien sie noch weiter zu irritieren. Sam verstand wahrlich nicht, wie die Bewohner Dawson Citys Puk noch für einen Dämon halten konnten, sobald sie die ältere der Bürgermeister-Töchter kennengelernt hatten …
    “Miss und Miss Williams … Mrs. Jenkins …”, grüßte er frostig, als er von dem Schlitten abstieg und sich den Schnee von der Kleidung klopfte. Wenigstens hatte die Salbe seine Hautbeschwerden über Nacht etwas gelindert …

    “Guten Morgen, Mr. Corning!”, grüßte ihn Rachel mit einem strahlenden Lächeln und einem formvollendeten Knicks, während ihre Schwester sich demonstrativ ihren teuren Muff vor die Nase hielt und hüstelte, so als würde er übel riechen.
    “Ich habe mich gerade ein wenig mit Mrs. Jenkins hier unterhalten. Wissen Sie, sie kam mir ein bisschen verloren vor, wie sie hier vor dem Hotel stand und da dachte ich mir … vielleicht tut ihr Gesellschaft ja gut!”
    Die jüngere Tochter des Bürgermeisters steckte sich eine erdbeerblonde Locke, die aus ihrem eleganten, weißen Fellmützchen entwischt war, hinter die Ohren und drehte sich nach Mrs. Jenkins um.
    “Werden Sie mit ihm auf Goldsuche gehen? Dann brauchen Sie bessere Handschuhe, Ihre sind etwas löchrig. Ich könnte Ihnen meine …”. setzte sie ihren fröhlich-enthusiastischen Wortschwall fort, nur um mahnend von ihrer Schwester unterbrochen zu werden.
    Rachel …”
    “Ich bin sicher, dass Mrs. Jenkins ihre Kleidung sorgfältig ausgewählt hat. Und jetzt entschuldigt uns, die Damen …”, meldete sich Samuel diplomatisch, aber knapp zu Wort, während er in Richtung seines Schlittens gestikulierte. Es wäre wohl besser, wenn Mrs. Jenkins aufstieg und sie mit ihrem Training beginnen konnten. Samuel hatte für seinen Geschmack heute bereits zu viele Mitglieder der Bürgermeisterfamilie getroffen. Und er war nicht darauf erpicht, zusätzlich auch noch dem Anstandswauwau der jungen Damen über den Weg zu laufen, dem sie bestimmt entwischt waren.

    Wäre er weniger von Trotz, Stolz und einem allgemeinen Misstrauen gegenüber Menschen beseelt, er würde wohl versuchen, sich mit dem Bürgermeister und seiner Familie gut zu stellen. Doch Mary ließ jeden spüren, dass sie glaubte, er stünde weit, weit unter ihr. Und Rachel … Rachel passte einfach nicht ins Bild. Manchmal tat sie ihm sogar ein bisschen leid, wenn sie in ihren hübschen Kleidern durch die Stadt flanierte, aber dank ihres hilfsbereiten und naiven Charakter weder in der Oberschicht, noch bei den Arbeitern Anschluss fand. Vielleicht lag es auch an ihrer zarten Konstitution und ihrer schwachen Gesundheit, wer wusste das schon.

    “Kommen Sie”, sagte er leise zu Mrs. Jenkins. “Ich denke, Sie können Ihre … Unterhaltung an einem anderen Tage fortführen.” Insgeheim nahm er an, dass ihr seine Unterbrechung Recht kam.
    “Stellen Sie sich vor mich und halten Sie sich an der Stange vor sich fest!” Samuel wies auf die Handlebar. Die Hunde würde er Mrs. Jenkins später vorstellen. Jetzt war ihm erst einmal daran gelegen, zu seinem Grundstück zu gelangen und damit außer Reichweite neugieriger Augen und Ohren.
    “Viel Erfolg!”, rief ihnen Rachel zu, während sie sich ihre ovale, silbern glänzende Brille zurechtrückte. Sam quittierte dies mit einem knappen Kopfnicken, ehe er selbst auf den Schlitten stieg und seinem Gespann das Kommando zum Laufen gab.

    Permets-tu?

    3 Mal editiert, zuletzt von Jehanne (16. Februar 2025 um 20:15)

  • Terrah Jenkins


    Die Luft war kalt. Durch die geringe Luftfeuchtigkeit wirkte die Temperatur aber annehmbar und mild, zumindest wenn der Wind nicht über nackte Haut fuhr. Nur leicht zog eine Brise durch die schachbrettförmigen Straßen und Gassen von Dawson City, konnte ungehindert einmal Hindurchfegen und den lockerliegenden Schnee in einen aufwärtsgerichteten Strudel aufwirbeln lassen.

    Der Schnee auf den Straßen, den Vordächern und Dächern der überwiegend aus Holz erbauten Stadt glitzerte in der sanften Morgenröte, gab der weißen frostigen Decke einen warmorangenen Glimmer. Dieser abgelegene Stadtteil mit den verblassten Fassaden wurde durch die Farbnuancen leicht aufgewertet und hätte ein charmantes Gemälde abgeben können. Dennoch konnte die kurzfristig neugewonnene Farbe nicht über den Verfall hinwegtauschen. Über kurz oder lang würden an den Fassaden und den Dächern Renovierungen benötigt werden, um dem harschen Winter und Niederschlägen zu trotzen. Der gestiegene Zuzug von Goldsuchern, die den Schlagzeilen nach Gold! Gold! Gold! Gold! in den Extrablättern folgten, rührten bereits zu einem kleinen finanziellen Aufschwung, die die begrenzten Ressourcen an Unterkünfte noch nicht auffangen konnte. Schon jetzt war es schwierig eine Unterkunft zu bekommen, da viele von ihnen bereits vermietet waren oder die Preise für eine Übernachtung angezogen wurden. Der Bedarf war höher als das Angebot. Neue Gebäude müssten zeitnah errichtet werden. Eine Angelegenheit, die bei den Konferenzen im Idealfall bereits thematisiert wurden.
    Der Schnee reflektierte das Morgenlicht, stach in den Augen und erschwerte die Sicht. Leicht kniff ich meine Lider zusammen, behielt die Wege im Blick, die Mr. Corning mit seinem Schlitten zum Hotel nehmen konnte. Noch würde er pünktlich kommen, dachte ich geduldig, fühlte aber dieses Kribbeln von Ungewissheit unter meiner Haut. Was wäre, wenn er nicht käme… eine meiner größten Sorgen, da ich mit dem Unterfangen direkt beginnen wollte und keinen weiteren Tag mit der Suche nach Mr. Corning verschwenden wollte. Denn schließlich hatte ich ihn gefunden und dazu gebracht, mit mir ein Bündnis zu schließen.

    Zwei Damen schlenderten entlang der schmalen, vom Schnee geräumten Holzverandas der aneinandergereihten Häuser und Läden. Sie trugen teure, schicke Kleider, deren Saum unter dem wärmenden Mäntel hervorlugte. Ihre hoch geschlossenen Schuhe unter den Röcken waren ebenso hochpreisig und wärmenden wie deren Handschuhe. Welche Summen ihr heutigen Outfit kosten würde, malte ich mir nicht aus - Summen für Kleidung, die für jemanden wie mich utopisch waren. Kleidung hatte immer einen praktischen Bezug, hatte der Situation dienlich zu sein und im Idealfall lange zu halten. Egal, mit wie vielen Flicken oder neuen Nähten der Stoff am Ende zusammengehalten wurde.
    Sie unterhielten sich ausgelassen, als die eine von ihnen plötzlich gekünstelt auflachte. Automatisch legten sich meine feinen Nackenhaare auf. Bissig, aber mit trockenem Gemüt kommentierte ich deren Präsenz, die High-Society bliebt es, sich unter das niedere Volk zu mischen. Es war ein Unterschied, ob jemand meines gesellschaftlichen Ranges einen Kommentar in diese Richtung abgab, oder ob sich jemand aus der gehobenen Schicht über jemanden wie mich lustig machte. In diesem Falle war meine gedankliche Äußerung spitzer Natur gegen die feinen Damen, die ich klischeehaft als alberne, unbesorgte und naive Tratschtanten abstempelte. Wenn ich mich nicht irrte, waren es die Töchter des hiesigen Bürgermeisters Williams.
    Mit ein wenig mehr Respekt würde ich den Damen wohl oder übel begegnen müssen, dennoch lag wenig Entzücken in meinem Gesicht, als die ältere von ihnen mich ansprach.

    “Warten Sie auf jemanden, Misses…”, erhob die Brünette ihre Stimme, beäugte mich abfällig von oben bis unten, so wie sie es bereits aus der Entfernung getan hatte.
    Sie muss wohl kurzsichtig sein, wenn sie sich nun so ausgiebig mein Erscheinungsbild ansah, dachte ich verächtlich und mit spitzer Zunge. Ich hasste es, herablassend behandelt zu werden; hasste des dümmliche Grinsen auf den Lippen von Leuten, die nur nach dem Äußeren und sich eines Klischees bedienten… ich war selbst nicht von diesem einfachen Muster befreit, mit denen man Fremdes oder Anderes sich gezielt vom Hals oder auf Abstand halten konnte. Ein Mechanismus von Selbstschutz haftete diesem Verhalten zum Teil auch bei mir an.
    “Sie wirken alleine gelassen”, schob sie nun nach, wartete noch immer auf eine Antwort meinerseits und dass ich mich ihr vorstellte. Leicht verschränkte ich meine Arme vor der Brust und gab nonverbal mein Desinteresse kundt. Schnallen würde sie es nicht, aber ein Versuch wäre es wert. Innerlich betete ich, dass Mr. Corning bald aufschlagen würde, um mich vor einer tiefgreifenderen Unterhaltung, Spott oder Schlimmeres zu bewahren.
    “Ich bin Rachel Williams. Das ist meine ältere Schwester Mary Williams. Wir sind die Töchter vom Bürgermeister Williams”, kam ihre jüngere Schwester nun zu Wort. Ihre Stimme war ungemein freundlich und fröhlich, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Innerlich fühlte ich mich herausgefordert und glaubte, dass die jüngere mir etwas vorspielen wollte, mich aufziehen wollte. So wie es bereits ihre ältere Schwester tat. In den Augen von Rachel lag jedoch ein aufgeschlossener, unbedarfter Glanz.
    Sie öffnete ihren Mund, um fortzufahren. Ihre Schwester unterband sie sofort mit einem ermahnenden Blick, sah dann gespielt erwartungsvoll zu mir. “Nun, Sie kennen jetzt unsere Namen. Mit wem haben wir das Vergnügen”, sagte sie geheuchelt und schob ihr Kinn vor.

    “Mrs. Jenkins”, gab ich knapp wieder, wandte mein Augenpaar von ihnen ab und schaute die Straße hinauf.
    “Auf wen warten Sie, Mrs. Jenkins? Holt Sie ihr Ehemann gleich ab?”, eine Spur von Neid vermochten meine Ohren in der Stimme von Mary gehört zu haben. Das Mädel presste ihre Lippen unzufrieden aufeinander.
    Da beide noch ihren Mädchennamen trugen und sich mit diesem wie selbstverständlich vorgestellt hatten, waren sie noch nicht unter die Haube gekommen oder noch niemanden versprochen. Als Dame ihres edlen Standes und ihres Alters wäre eine zeitnahe Liierung angebracht. Doch in dieser Ortschaft dürfte es schwierig sein, eine passable Partie zu finden, die den Ansprüchen von Bürgermeister Töchtern gerecht werden würde. Die meisten der Menschen, die hier durchreisten waren Goldsucher, hoffnungsvolle und doch verlorene Seelen, die nach dem großen Reichtum suchten. Sonst war die Stadt gefüllt mit Warenhändler, Ladenbesitzer und Hotelbesitzer, Arbeiter der örtlichen Sägemühle und der Schifffahrtsgesellschaft am Yukon River sowie anderen Handlangern, die ihr Brot durch Tagesarbeiten verdienten. Ihre Eltern würden gewiss einen Edelmann, einen Geschäftsmann oder einen Mann mit viel Besitz und dem entsprechenden Geldbeutel als annehmbar für ihre Töchter erachten.
    Dass eine Fremde und jemand meiner niedrigen Herkunft mehr Glück - sofern man es denn Glück nennen wollte - bei der Partnerwahl hatte, war ihr offensichtlich ein Dorn im Auge.
    “Ich habe einen Termin wahrzunehmen und werde bald abgeholt. Ich danke Ihnen für Ihre Fürsorge, doch bedarf es dieser nicht”, versuchte ich vor allem die ältere Schwester mit gespielter Freundlichkeit abzuwimmeln, “ich möchte Sie nicht weiter aufhalten. Einen angenehmen Tag noch.” – “Dann sind sie alleine in Dawson City, Mrs. Jenkins?!”, bohrte Mary spitzfindig und halb tadelnd nach, schien über die Möglichkeit halbwegs gespielt überrascht und musterte mich eingehend. Nach ihrem und dem allgemeinen Verständnis dieser Gesellschaft lief eine Frau meist mit ihrem Vormund herum, vor allem, wenn man von außerhalb kam und in einem Ort nicht ansässig war. Den Leuten, denen es zu suspekt war, konnte ich ein unterschriebenes Schriftstück meines Mannes vorlegen, aus dem sein Einverständnis zu meiner Unternehmung hervorging. Doch diesen beiden würde ich mit Sicherheit nichts davon zeigen. Weder waren sie vom hiesigen Wachdienst noch ein Inhaber einer Unterkunft, bei dem ich mir ein Zimmer mietete.

    Ein Lichtblick erschien am anderen Ende der Straße, ein Schlitten gezogen von Hunden sauste durch das auffliegende Schneegestöber heran, auf den Kufen stand ein Mann, dessen silbrige Kleidung, die von Mr. Corning sein musste. Oh, ich sandte ein stilles Gebet gen Himmel, und bat inständig, dass es Mr. Corning wäre, der mich von den Weibszimmern retten würde. Ich wollte Mary nicht weiter Zündstoff bieten, auf dass sie wilden Tratsch über mich verbreitete und mir den Aufenthalt in Dawson City erschwerte. Dass meine Wenigkeit bereits seine Runde gemacht haben könnte, nahm ich stark an. Hatte ehrlich gesagt, nichts anderes von dieser und jeglichen anderen Städten erwartet, die ich bereits durchreist hatte. Aber zumindest wollte ich meine Privatsphäre weitestgehend gewahrt haben und augenblicklich schnüffelte die Zuller zu sehr in meinem herum. Sollte sie gefälligst ihre eigene Nase anpacken und vor ihrem Hof kehren, anstelle vor meinem!
    Den beiden Damen schenkte ich keine weitere Beachtung, hielt mein Augenpaar auf den herannahenden Hundeschlitten gerichtet. Fast als würde das Ausblenden der Schwester, diese in Luft auflösen können.

    Mit einem “Whoaah” von ihrem Herrn verlangsamten die Hunde die Geschwindigkeit abrupt und kamen mit dem Schlitten vor den Stufen zum Red Tree Hotel zum Stehen. Energiegeladen und bereit weiterzulaufen, schauten sie über ihre plüschigen kräftigen Schultern zu ihrem Musher, der zuerst das Gespann mit dem Anker im Schnee befestigte. Der Schneeanker hielt die Hunde davor zurück, sich alleine mit dem Schlitten auf ein Abenteuer zu begeben.
    “Miss und Miss Williams … Mrs. Jenkins …”, begrüßte er uns eisig, eisiger als die frische Brise, die durch die Stadt fegte. Was einen leicht zusammenzucken ließ. Sein finsteren Gesichtsausdruck unterstrich seine genervte Haltung und seine Reserviertheit, die er gegen die Williams Schwestern, die Menschheit und wohl auch gegen mich empfand. In der River Rats Bar hatte ich einen ersten Eindruck von seiner Einstellung gegenüber Menschen mitbekommen, der sich nun festigte.
    Gestern musste er wohl einen verhältnismäßig guten Tag gehabt haben, wenn ich es geschafft hatte, ihn zu überzeugen.
    Unbeirrt von seinem Auftreten begrüßte Rachel Mr. Corning mit einem formvollendeten Damenknicks. Im starken Kontrast hielt sich Mary zurück, hustete in ihren Muff, ehe sie die Situation nach ihrem Belieben erklärte.

    “Ich habe mich gerade ein wenig mit Mrs. Jenkins hier unterhalten. Wissen Sie, sie kam mir ein bisschen verloren vor, wie sie hier vor dem Hotel stand und da dachte ich mir … vielleicht tut ihr Gesellschaft ja gut!”
    Heuchlerin, dachte ich anklagend mit schmalen Augen und warf ihr einen finsteren Blick zu, von dem sie nichts mitbekam, da sie zu Mr. Corning sprach und ein verlogenes, hilfsbereites Lächeln aufsetzte.
    Indes kam Rachel zu einer klugen Schlussfolgerung und wollte wissen, ob sie damit rechtbehalten solle: “Werden Sie mit ihm auf Goldsuche gehen? Dann brauchen Sie bessere Handschuhe, Ihre sind etwas löchrig. Ich könnte Ihnen meine …”
    Sofort unterband Mary ihre Schwester die Handschuhe abzustreifen und einer fremden Frau zu geben.
    Zeitgleich verlagerte ich mein Gewicht auf das Hinterbein, um Abstand zu gewinnen. Ich wollte keine Hilfe und auch keine Almosen, selbst wenn Rachel Williams es durchaus gut meinte. Sie war ein ganz anderer Schlag als ihre Schwester, hilfsbereiter und naiver.
    Wäre nur sie an diesem Morgen aufgetaucht, hätte ich ihr jegliche Lügen auftischen können, ohne dass sie auch nur eine angezweifelt hätte.
    Der diplomatische Einwand von Mr. Corning überraschte mich am Rande des Verstandes, da ich ihm dieses Geschick bei seiner miesen Laune nicht zugetraut hätte. Die Chance nutzend und nicht weiter hinterfragend, nickte ich bekräftigend mit den Kopf, dass ich meine Kleidung wohl wissentlich ausgewählt hatte und keine augenblickliche Verbesserung benötigte.

    “Angenehmen Tag”, sagte ich hastig, schritt sofort die Stufen hinab und in den Schnee, um an Mr. Cornings Seite zu treten. Auf seine geflüsterten Worte hoben sich meine Augenbrauen skeptisch. Er glaubte doch hoffentlich nicht ernsthaft, dass ich mit den feinen Damen der Gesellschaft pflegte zu verkehren?!
    Aus seiner Mimik und seinem kühlen Augenpaar konnte ich nichts deuten, wie er meine persönlichen Präferenzen einstufte.

    Zuvor legte ich meinen Rucksack auf den Schlitten, dann schnürte ich meine Kapuze fester um den Kopf.
    Ohne länger Zeit zu vergeuden, befolgte ich der Anweisung von Mr. Corning schweigsam. Achtsam und etwas unsicher platzierte ich meine Füße auf den langen Kufen, packte mit den behandschuhten Händen die Stange vor mir, um mich festzuhalten. Bisher hatte ich nur wenige Gelegenheit gehabt, mit einem Hundeschlitten zu fahren, weshalb mir die Physik noch nicht vertraut war.
    Rachel rief uns “Viel Erfolg” zu, als Mr. Corning sich auf die Kufen stellte, sich ebenfalls am Schlitten festhielt und den Schneehaken löste. Auf das Zeichen von Mr. Corning setzten sich die Hunde zügig in Bewegung, sodass der Schlitten mit einem Ruck anfuhr. Voller Energie und Freude hätten sich die Hunde ins Gespann gehängt, zogen nun das Gefährt hinter sich und lauschten aufmerksam den Befehlen von ihrem Herrn. Bellend schien sich ein Teil der Hunde gegenseitig anzufeuern und anzuspornen. Aus der Stadt raus kam es zu einer U-förmigen Wende und so zog die Stadt zu unserer Rechten an uns vorbei.

    Welcher Ort unser Ziel wäre, wusste ich nicht, aber im Augenblick war die Distanz zu den beiden Damen, zum Stadtleben und das Wissen, dass es heute in die lehrreiche Ausbildung ging, ausreichend genug für mich. Für Fragen würde ich später reichlich Zeit finden.
    Die uns umgebende Kälte und der Zugwind blies unangenehm ins Gesicht. So tief wie möglich versuchte ich mein Gesicht in dem Kragen meines Mantels zu vergraben, der Kälte auszuweichen oder ihr weniger Angriffsfläche zu bieten. Die eisige Kälte entzog meinen Wangen das Blut, der stechende Schmerz wurde beißend, bis dieser nach nur weiteren wenigen Minuten verschwand. Die Gesichtsmuskulatur war wie gelähmt. Zwischen dem Lammfellkragen stieg mein warmer Atem auf. Die Feuchtigkeit sammelte sich auf meinem Gesicht und im Kragen, wo dieser zu kleinen Kristallen gefror. Unangenehm oder beißend fühlten sich die Kristalle nicht mehr an, da die Haut bereits taub war.
    Fest umklammerten meine eingepackten Handschuhe die Stange. Mit dem Körper glich ich mich dem Wanken des Schlittens an und bemerkte, wie Mr. Corning sich bewusst mit dem Körper in die Kurven legte.

    Die Geräusche der Stadt waren schon lange verklungen, nur noch das Schneiden des Schlittens, das Knirschen der Hundepfoten auf dem Schnee waren zu vernehmen. Wenn die umliegenden Bäume zu viel Gewicht auf ihren Kronen trugen, kam die Schneemasse mit einem dumpfen, leicht knirschenden Geräusch auf den schneebedeckten Boden an. Die Stille war beruhigend und befremdlich zugleich.
    In der Ferne zeichnete sich ein Haus ab. Eine große Fläche umgab das Holzhaus und mit einem großen Abstand das Örtchen. Es bot eine erste Einschätzung der Dimensionen dieses Grundstücks, das mich sprachlos werden ließ. An sich schien das Haus einsam und verlassen, nur ein dünner Rauchfaden wirbelte aus dem Schornstein hervor und demonstrierte Leben. Die Spuren im Schnee vor dem Haus deuteten ebenfalls auf Leben hin.

    Auf Ansage von Mr. Corning steuerten die Hunde auf das Haus zu, die etwas widerwillig grummelten. Die Tour war ihnen zu kurz. Ihre Leiber und ihre Herzen fühlten sich noch nicht ausgepowert genug an, aber gehorsam lenkten diese ein. Mit dem Schneeanker sicherte Mr. Corning den Schlitten.
    Ich hatte etwas Mühe, mich von der Stange zu lösen, an der ich mich festgehalten hatte. Meine Glieder, besonders die Extremitäten mit den feinsten Kapillaren, waren steif und langsam in ihren Ausübungen. Das Blut war ihnen gänzlich entwichen und würde bald als ein böses Kribbeln zurückkehren. Kälte konnte ein sehr unangenehmer Begleiter sein, stellte ich früh auf meiner Reise nach Dawson City fest.
    Noch immer sprachlos nahm ich das Haus ins Visier, sah dabei zwei mal fast ungläubig zu dem Mann neben mir, dem dies alles gehören musste.

    “Das gehört Ihnen? … Ihnen alleine?”, langsam kehrte meine Stimme zurück, die Verwunderung und Erstaunen verlauten ließ. Von dem Eindruck und der Vorstellung war ich wie erschlagen. Es gab so viele Ungereimtheiten zwischen meiner Vorstellung von dem, wie ein reicher Mann gekleidet, sich zu artikulieren und zu leben hatte. Und nichts davon traf auf Mr. Corning zu. Er brach die Stereotype, die sich seit meiner Kindheit in meinem Schädel gefestigt hatte. Anstelle eines pompösen Fellmantels, einem schicken Zylinder und feinen Schuhen trug er die pragmatische Seerobbenrobe und unter seiner dicken Kapuze erwartete ich den Anblick seiner struppigen braunen Haare. Anstelle eines schnöden, damen- und mengebegeisternden Redners war er distanziert, kühl und misstrauisch - demgegenüber musste man ihm seine Intelligenz lassen, mit der er aufmerksam andere studierte, vorausschauend und berechnend dachte. Sein Grundbesitz demonstrierte mir seine finanzielle Sicherheit, wobei er dennoch alleine lebte. Ich erinnerte mich nicht daran, dass er in der River Rats Bar einen Ring getragen hatte und auch so hatte niemand verlauten lassen, dass er verheiratet wäre. Die Gerüchteküche außen vorgenommen, da hieße es, er hätte sich mit einer Indiohexe eingelassen…
    Dass er Geld besaß, war offensichtlich. Schließlich war er ein begabter und legendärer Goldsucher, dennoch traf mich die Realität wie ein Schlag, auf die ich nicht vorbereitet war. In meinen Kreisen war dies unvorstellbar und absurd, in solch einem Luxus zu schwelgen und zugleich nicht versnobt und im materiellen Sinne prahlerisch zu sein.
    In diesem Haus konnte eine ganze Großfamilie unterkommen, wenn nicht sogar auch die ältere und die nächste Generation, sofern man so hauste, wie viele der Familien in meinem Geburtsviertel.
    Erneut wanderte mein Augenpaar prüfend und skeptisch von ihm zum Haus und wieder zurück.

    4 Mal editiert, zuletzt von Liliace (22. Februar 2025 um 13:13)