Lundt war kein Krieger - und auch kein begnadeter Redner. In seinen Augen war er noch nicht einmal besonders mutig. Er war einfach nur Dorfschneider, hatte für jeden ein offenes Ohr, ein grübchenreiches Lächeln und einen freundlichen Spruch auf den Lippen. Dass es einmal so weit kommen würde, dass er seinen langjährigen Freund Thure vor einer wütenden Meute verteidigen musste, die ihm nach dem Leben trachtete, nun, das hatte er nicht kommen sehen. Sicher, Lundt wusste, dass die Menschen hier ihre Vorurteile gegen den Wildhüter hatten. Sie beobachteten sein verkürztes Bein mit abergläubischem Misstrauen und anstatt sich darüber zu freuen, dass er meistens unverletzt aus dem Wald zurückkehrte und sie über den Winter versorgte, tuschelten sie hinter seinem Rücken. Munkelten, dass er mit den Nachtmahren, die in den Tiefen der Wälder lauerten, im Bunde stand. Lundt hatte das immer als Unsinn abgetan. Als dümmliches, teils eifersüchtiges Geschwätz von Narren. Doch heute … heute hatte Thure einen Nachtmahr verteidigt. Und nicht nur irgendeinen. Er hatte dafür gesorgt, dass der große Nachtmahr nicht zu Schaden kommen würde. Und seine Gründe dafür gleich mitgeliefert. Was sein Freund gesagt hatte, mochte absurd klingen. Aber Lundt glaubte ihm und er wusste, dass Viviane das auch tat. Seine Tochter, Elaine, war ohnehin ganz vernarrt in seinen ruppigen Freund. Nur die Jäger, die gekommen waren und natürlich Gismelas geifernde Meute - die sahen das ganz anders. Abwechselnd schrien einige nach Thures Kopf, andere wollten am liebsten jetzt gleich in den Kerker gehen, um ihn aufzuschneiden und zu sehen, wo er sein Nachtmahrfell versteckt hatte. Dem Schneider wurde es ganz übel bei so viel Gewaltbereitschaft. Also hatte er seinen Mut zusammengekratzt, sich erhoben und der Menschenmenge so laut er konnte entgegengerufen:
“Hört ihr euch eigentlich zu? Wisst ihr, was ihr da vorschlagt? Ihr wollt Thure umbringen und seine Gründe für die Schonung des Nachtmahrs interessieren euch gar nicht. Habt ihr nur einmal - ein einziges verfluchtes Mal - euren Verstand eingeschaltet und euch gefragt, was hätte passieren können, wenn er Recht hat? Thure handelt nicht aufs Geratewohl, das sollte jedem von euch hier klar sein.”
“Ich weiß nur, dass er ein Monster geschützt hat. Und wer tut so etwas? Richtig, andere Monster. Ich habe es gleich gesagt, schon bei seiner Geburt - mit dem Krüppel stimmt etwas nicht”, konterte Gismela zornig, das faltige Gesicht zu einer bösartigen Fratze verzogen.
“Und was sind Elaine und Ensi für dich, Gismela? Ebenso todeswürdig? Immerhin … sind sie auch anders zur Welt gekommen”, fauchte Viviane bedrohlich leise, ihr hübsches Gesicht so ernst, so bedrohlich, dass es hätte einem Racheengel gehören können.
“Nun … ich … es sind Kinder. Deine Tochter verkehrt nicht mit Monstern”, versuchte sich die alte Frau herauszureden. Aber so ganz wollte ihr das nicht gelingen.
“Du hast gerade selbst gesagt, dass Thure bereits seit seiner Geburt verflucht sei. Deine Anklage hatte nichts mit den Nachtmahren zu tun - zunächst”, sagte Viviane mit verschränkten Armen. Die kleine Elaine, die zwischendurch begonnen hatte zu weinen, schöpfte neue Hoffnung. Sie klammerte sich am Rock ihrer Mutter fest, schenkte Yorick, der mit ihrem Vater sprach ein Lächeln und flüsterte mit großer Begeisterung und glänzenden Augen:
“Alte, blöde Spinatwachtel!” Schimpfwörter waren etwas Tolles. Und wenn sie sich gegen Gismela richteten, die gerade gegen ihren Lieblingsjäger hetzte - umso besser!
“Elaine!”, mahnte Lundt - sehr, sehr halbherzig - ehe er sich dem alten Jäger zuwandte. Yorick machte auf ihn einen ganz vernünftigen Eindruck. Zäh, aber das Herz am rechten Fleck. Er glaubte ihm, dass er seine Leute unter Kontrolle hatte.
“Nun, hoffen wir, dass meine Frau sie anständig durch die Mangel dreht. Vertrau mir, sie kann das hervorragend.” Lundt wirkte grimmig. Ein seltsamer Anblick für die meisten Dorfbewohner, die ihn sonst nur als Sonnenschein kannten, mit seinem breiten Lächeln und seinen wüsten Haaren. Einige schienen durch seine ungewohnte Ernsthaftigkeit, durch die Tatsache, dass er laut geworden war und geflucht hatte, verunsichert zu sein. Sie starrten nicht mehr nur Gismela an, sondern auch ihn. Und seine Frau, die sich gegen die alte Frau zur Wehr setzte. Lundt hoffte, dass sie die Gemüter wieder beruhigen würden. Aber er hatte nicht vor, zu einer Art Anführer zu werden. Dazu war er einfach aus dem falschen Holz geschnitzt …
*
Der Schmied hatte einen kurzen Blick auf ihn geworfen - wohl um zu sehen, ob er endlich sein verfluchtes Fell nach außen gestülpt hatte - und dann gegangen. Wortlos, grimmig. Thure atmete erleichtert aus. Er konnte in seiner nassen, dreckigen Zelle hören, wie sich der Streit weiter hochschaukelte. Der Jäger verstand die Worte nicht, aber er hörte Gismela klar und deutlich heraus. Verschwitzt, mit verdrehten Gliedmaßen, nestelte er mit seiner Nadel weiter an seinem Schloss herum. Er hatte keine Ahnung, wie das Ganze ausgehen würde, doch sein Instinkt sagte ihm, dass er besser fliehen sollte. Am besten jetzt.
“Komm schon, komm schon … verdammt!”, keuchte er angestrengt. Doch da, plötzlich, ein leises Klicken und die Eisen, die seine Hände banden, sprangen auf. Die Fußfesseln sollten leichter zu knacken sein. Bald gab es nichts mehr, was den Wildhüter band. Jetzt galt es nur noch, die schwere Eisentür des kleinen Gefängnisses zu knacken. Thure richtete sich auf und lehnte sich an die Wand, um nicht die Balance zu verlieren. Zu seinem Glück vermisste er seinen normalen Stiefel. Seine spezielle Anfertigung für sein verkürztes Bein war ihm nicht während der Rangelei abhanden gekommen. Aber es war dennoch mühseliger zu laufen. Gehetzt spähte Thure durch das kleine, vergitterte Fensterloch. Die Dörfler stritten noch immer, während Lundt versuchte, die Wogen zu glätten.
Thure atmete tief durch, um nicht fahrig oder hektisch zu werden, während er sich daran machte, das Hauptschloss zu öffnen. Als es endlich nachgab, kam ihm das quietschende Geräusch, das die rostige Tür machte, absolut ohrenbetäubend vor. Er verzog gequält das Gesicht, als er so schnell er konnte, aus dem Gefängnis stolperte und sich beeilte, mit den Schatten zu verschmelzen. Sein Verschwinden würde nicht lange unentdeckt bleiben. Vielleicht hatten sie trotz ihres lautstarken Streits die Tür auch gehört und man war ihm bereits auf den Fersen …
*
Thure hatte keinen Plan, nicht wirklich. Er wusste, dass er den Wald nicht wie üblich betreten konnte. In seiner Hütte würden man zuerst nach ihm suchen. Also hatte er sich in die entgegengesetzte Richtung gewandt, schlug sich durch dornige Büsche, die seine Arme und Beine zerkratzten. Seine mit seinem eigenen Blut verstopfte Nase machte ihm das Atmen schwer und sein Bein pochte protestierend, als er den Weg zum Bach einschlug. Lange würde er dieses Tempo nicht mehr durchhalten. Aber Thure stolperte weiter, während die Dunkelheit sich über den verfluchten Wald herabsenkte. Die Sonne ging in einem flammend orangeroten Ball unter. Zum Flüstern und Rauschen der Bäume, dem Lachen von Füchsen und dem Heulen von Wölfen, gesellten sich allmählich andere, unheimliche Geräusche. Keckern, hecheln, ein Schnarren. Thure wusste, dass die Mahre um diese Zeit des Jahres recht friedlich waren, eigentlich sogar normalen Tieren glichen. Aber er war trotzdem auf der Hut. Sicher würde er so schnell ohnehin nirgendwo mehr sein. Nicht in seinem Dorf, nicht in dem Wald, den er immer noch eher als Heimat, als Zufluchtsort ansah.
Waffen hatte er keine mitnehmen können, also musste er sehen, wie er klarkam. Er hoffte inbrünstig, dass wenigstens Lundt nach seinen Hunden sehen würde. Thure quälte sich weiter voran. Vom Fluss, von der Lichtung, war er in diesem Teil des Waldes weit entfernt. Hier ging es ursprünglicher, verworren und verwinkelt zu. Schlingpflanzen bedeckten den Boden, umgestürzte, mit Moos bewachsene Bäume dienten zahlreichen Käfern als Zuhause. Die Krönung stellte ein klarer, rauschender Wasserfall dar, auf den Thure unsicher staksend zuhielt. Erschöpft ließ er sich ins Moos fallen. Seine breite Brust hob und senkte sich rapide und sein Blick verschwamm, als er eine menschlichen Silhouette gewahr wurde, die am Tümpel saß und Wasser schöpfte - und dann mit der Hand in die Wasseroberfläche schlug. Zornig, verbittert. Thure brachte sich ächzend in eine sitzende Position.
“Hallo?”, krächzte er vorsichtig, plötzlich an das Versprechen, das er Basileus gegeben hatte, erinnert. Er hatte ihn darum gebeten, den Wald nicht zu betreten und Thure hatte nicht vorgehabt, dieses Versprechen zu brechen. Aber genau das hatte er getan - zweimal. Einmal, um unerfahrene Jäger zu retten und jetzt, um seine eigene Haut zu retten. Dass ein anderer Mensch hierherkam, war ungewöhnlich. Dass er verdreckt und nackt war, geradezu grotesk. Thure rieb sich die Augen und flüsterte, noch vorsichtiger als zuvor, während er auf den Mann zukroch: “Basileus?”