Die eisige Luft stach Samuel in die ohnehin schon gereizten und geröteten Augen, als er sich mit Puk und Figaro auf den Weg zu seiner spartanisch eingerichteten Behausung machte. Das Knirschen des Schnees unter seinen müden, ungewöhnlich schwerfälligen Schritten schaffte es fast, sämtliche anderen Geräusche der Stadt auszublenden. Sam speiste jeden, der ihm begegnete und mit ihm sprechen wollte, mit einem kurzen, rüden Nicken ab und verlor auch beim Anmelden seines neuen Claims nicht viele Worte. Der junge Musher bildete sich für sein Leben gerne ein, dass er über unerschöpfliche Energiereserven verfügte, doch besonders heute bewiesen ihm seine schmerzenden Glieder und seine wunde Haut wieder einmal das Gegenteil.
Als er endlich an seinem Haus ankam, fühlte er die bleierne Müdigkeit, die sich seiner bemächtigte, umso deutlicher. Mühsam stieß er die hölzerne Tür auf und pfiff seine Hunde herbei. Auch, wenn er ihnen die Zeit auf seinem weitläufigen Grundstück gönnte, so wollte er die Vierbeiner jetzt in seiner Nähe haben. Zum einen, weil Thomkins nicht ganz Unrecht mit seinen Behauptungen hatte - Sam sah sich tatsächlich als Teil des Rudels. Und zum anderen, weil die Vierbeiner eine wohlige Wärme verströmten. Sam drückte schmerzerfüllt aufstöhnend seinen schmalen Rücken durch und entledigte sich dann seiner Kaninchenfellhandschuhe, sowie seiner Stiefel. Er streifte Robbenfelljacke und Hose ab und hängte sie neben seinem gusseisernen Zimmerofen, den er soeben angefacht hatte, zum Trocknen auf, während Puk seine Stiefel neben das schmale, eigentlich zu kleine Bett stellte. Der ängstliche Hermes wuselte ihm glücklich fiepend um die Beine und schlug ihm seinen verstümmelten Schwanz gegen ein knubbeliges Knie.
“Gute Hunde!”, murmelte Samuel sanft und kraulte jedem der Vierbeiner kurz den massigen Kopf. Dann schlüpfte er aus seinem dicken, aber einfachen, wollweißen Leinenhemd und seiner braunen, etwas abgetragenen Hose, die er unter dem Robbenfell trug. Samuel zog sich seine Waschschüssel heran und unterzog sich einer schnellen, aber gründlichen Katzenwäsche, die ebenfalls seine Haare mit einbezog. Sie wirkte belebend auf seinen müden Geist, aber dennoch würde er heute sein Häuschen nicht mehr verlassen. Er musste sich auch körperlich regenerieren, um Mrs. Jenkins morgen gut unterrichten zu können. Der Pragmatiker in ihm hielt es für sinnvoll, sie zuerst im Mushen, dem Legen von Fallen und der Pflege seiner Hunde zu unterweisen. Sein innerer Zyniker war der Meinung, dass das sichere Bedienen einer Flinte oberste Priorität haben sollte - man wusste ja schließlich nie, welchen Bestien man in der Wildnis begegnete …
Samuel seufzte, als er in den fast blinden, kleinen Spiegel sah und beschloss, den aussichtslos erscheinenden Kampf gegen seine trockene, wunde Haut fortzuführen, indem er sich eine fettige Creme um die Augen und auf die Hände schmierte. Nachdem er seine Hände gereinigt hatte, öffnete er seinen schiefen Kleiderschrank und griff sich ein neues Hemd und eine neue Hose.
Mittlerweile fühlte er sich fast wieder menschlich. Satt, sauber und trocken. Sam griff nach einer seiner Öllampen und sinnierte darüber nach, ob er sich noch kurz an seinen hölzernen Schreibtisch setzen und einen Brief an seine Schwester Judith schreiben sollte. Doch er entschied, dass er dafür noch Zeit hatte. Sie hatte ihm erst geantwortet und ihm stolz berichtet, dass sie in einer Wollspinnerei Arbeit gefunden hatte und dort mittlerweile zu den fleißigsten Arbeiterinnen gehörte, was Sam mit Stolz und einer gewissen Genugtuung erfüllte. Judith war dabei von ihrem tyrannischen Vater unabhängig zu werden, genau wie er.
Der Musher warf seinem schmalen Bett einen kurzen Blick zu, rümpfte die Nase und machte es sich schließlich auf dem dicken Teppich auf Karibufellen bequem, der in der Mitte des kleinen, aber sauberen Raumes lag. Seine Hunde gesellten sich um ihn herum, als er nach einer abgegriffenen Ausgabe von Shakespeares “Sommernachtstraum” griff. Es dauerte nicht lange, da zog ihn Morpheus auch schon in sein Reich. Sam schlief so reglos wie ein Toter, seine Atemzüge tief und gleichmäßig, nur von einem gelegentlichen Husten unterbrochen, der ihn zu dieser Jahreszeit oft quälte. Amarok hatte sich als Stütze unter seinen Kopf gelegt, während der weiße, stets freundliche Zephyr seinen Kopf auf seiner Brust abgelegt hatte und seine beiden Hündinnen, Vila und Eos, es sich an seiner Seite bequem gemacht hatten. Geri, der immer Hunger hatte, suchte in seinen Manteltaschen nach Futter, während Figaro sich etwas abseits der ganzen Meute zum Schlafen legte und Hermes sich wärmend zu seinen, in dicke Wollsocken gepackten Füßen, niederließ. Puk jedoch positionierte sich in der Nähe der Fenster und spähte in die Dunkelheit, die sich mit dem Ende des Tages über Dawson City herabsenkte.
*
Am nächsten Morgen stand Samuel in aller Herrgottsfrühe auf. Nachdem er seine Hunde gefüttert hatte, genehmigte er sich ein karges Frühstück, bestehend aus Brot und Hartkäse, das er mit etwas Wasser herunterspülte. Und dann wurde es auch schon Zeit, seine treuen Vierbeiner anzuschirren. Eigentlich hatte er gehofft, dies in aller Ruhe vor seiner Haustür tun zu können, da sein Haus etwas außerhalb der Stadt lag - doch das Glück war ihm natürlich nicht hold. Mrs. Williams, die Frau des Bürgermeisters, trippelte in einen eleganten Pelzmantel gehüllt, die verschneite Straße entlang. Die ältere Dame hatte die Angewohnheit, ihre Nase stets in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken und liebte es, über das Leben anderer zu urteilen. Für sie mussten all jene, die nicht ihrem engstirnigen Weltbild entsprachen, gemaßregelt und zurechtgebogen werden. So auch Samuel.
“Ah, Mr. Corning!”, grüßte sie ihn auch sogleich, als sie sich mit ihm auf Augenhöhe befand. Naserümpfend warf sie einen verurteilenden Blick auf Puk, der sich in seinem Geschirr verheddert hatte und dabei offenbar den größten Spaß seines Lebens empfand.
“Wie ich sehe, brechen Sie schon wieder auf? Alleine?”, fragte sie, während sie ihn aus großen, blauen Augen ansah, die Unschuld heuchelten, wo keine war. Samuel beschloss, sie zu ignorieren, solange es ging und befreite Puk aus seiner Misere.
“Wissen Sie, ein Mann Ihres Alters sollte nicht so viel allein sein, noch dazu da draußen in der Wildnis!”
Sie lachte künstlich auf und fuhr in ihrer Maßregelung fort: “Warum lassen Sie sich nicht endlich nieder und suchen sich ein nettes, häusliches Mädchen? Sie haben so viel Gold gefunden, Sie könnten ohne Probleme heiraten und eine Familie haben! Gönnen Sie sich doch mal eine Pause.”
Samuel verdrehte die Augen. Dieses Thema schon wieder … Er schwang sich auf seinen Schlitten und warf Mrs. Williams einen boshaften Blick zu, der dem von Puk in nichts nachstand. Der junge Goldsucher wusste genau, dass sie und ihr Mann ihm am liebsten sämtliches Gold abknöpfen wollten, damit sie ihr luxuriöses Leben noch ausschweifender gestalten konnten. Es passte ihnen nicht, dass er lieber in Schulen und Krankenhäuser für jene investierte, die sich ohnehin kaum die Kleidung leisten konnten, die sie am Leibe trugen. Und der einfachste Weg, um ihn gefügig zu machen, schienen in ihren Augen die Fesseln einer Ehe zu sein. Samuel wurde allein bei dem Gedanken daran schon unbehaglich.
“Mrs. Williams”, nuschelte er undeutlich, während er sich den Schal über Mund und Nase wickelte und die Kapuze um seinen Kopf herum festzurrte.
“Warum wollen Sie ausgerechnet mich einem zarten, jungen Ding zumuten? Ich hätte Sie für umsichtiger gehalten, was ihre Sorge um die holde Weiblichkeit dieser Stadt anbelangt - insbesondere, da sie selbst zwei Töchter haben.”
Bevor Mrs. Williams ihren Mund empört aufklappen konnte, brauste er mit seinem Schlitten davon. Seine eigentlich ganz gute Laune war verflogen. Während des Frühstücks hatte er sich sogar darauf gefreut, Mrs. Jenkins zu treffen und ihr das Schießen beizubringen. Doch dass jeder hier seine Meinung zu ihm und der Art und Weise, wie er sein Leben gestaltete, entweder hinter seinem Rücken oder dreist direkt kundtun musste, setzte ihm, entgegen der landläufigen Meinung, zu. Mit finsterem Blick fuhr er auf schnellstem Wege zum Red Tree Hotel. Schnee stob um ihn herum auf und verlieh sowohl seinen Hunden, als auch ihm einen wilden, majestätisch-frostigen Glanz, als er vor dem Hotel ankam und das Gespann durch ein langgezogenes “Whoaah!” zum Stehen brachte. Amarok und Zephyr kamen seinem Befehl sofort nach. Gut gefüttert und kräftig hielten sie knapp vor Mrs. Jenkins an, die - sehr zu Samuels Missfallen - von den Töchtern des Bürgermeisters umringt war. Die brünette Mary rümpfte bei seinem Anblick die Nase noch mehr. Anscheinend war sie von Mrs. Jenkins schon nicht angetan, doch seine Anwesenheit schien sie noch weiter zu irritieren. Sam verstand wahrlich nicht, wie die Bewohner Dawson Citys Puk noch für einen Dämon halten konnten, sobald sie die ältere der Bürgermeister-Töchter kennengelernt hatten …
“Miss und Miss Williams … Mrs. Jenkins …”, grüßte er frostig, als er von dem Schlitten abstieg und sich den Schnee von der Kleidung klopfte. Wenigstens hatte die Salbe seine Hautbeschwerden über Nacht etwas gelindert …
“Guten Morgen, Mr. Corning!”, grüßte ihn Rachel mit einem strahlenden Lächeln und einem formvollendeten Knicks, während ihre Schwester sich demonstrativ ihren teuren Muff vor die Nase hielt und hüstelte, so als würde er übel riechen.
“Ich habe mich gerade ein wenig mit Mrs. Jenkins hier unterhalten. Wissen Sie, sie kam mir ein bisschen verloren vor, wie sie hier vor dem Hotel stand und da dachte ich mir … vielleicht tut ihr Gesellschaft ja gut!”
Die jüngere Tochter des Bürgermeisters steckte sich eine erdbeerblonde Locke, die aus ihrem eleganten, weißen Fellmützchen entwischt war, hinter die Ohren und drehte sich nach Mrs. Jenkins um.
“Werden Sie mit ihm auf Goldsuche gehen? Dann brauchen Sie bessere Handschuhe, Ihre sind etwas löchrig. Ich könnte Ihnen meine …”. setzte sie ihren fröhlich-enthusiastischen Wortschwall fort, nur um mahnend von ihrer Schwester unterbrochen zu werden.
“Rachel …”
“Ich bin sicher, dass Mrs. Jenkins ihre Kleidung sorgfältig ausgewählt hat. Und jetzt entschuldigt uns, die Damen …”, meldete sich Samuel diplomatisch, aber knapp zu Wort, während er in Richtung seines Schlittens gestikulierte. Es wäre wohl besser, wenn Mrs. Jenkins aufstieg und sie mit ihrem Training beginnen konnten. Samuel hatte für seinen Geschmack heute bereits zu viele Mitglieder der Bürgermeisterfamilie getroffen. Und er war nicht darauf erpicht, zusätzlich auch noch dem Anstandswauwau der jungen Damen über den Weg zu laufen, dem sie bestimmt entwischt waren.
Wäre er weniger von Trotz, Stolz und einem allgemeinen Misstrauen gegenüber Menschen beseelt, er würde wohl versuchen, sich mit dem Bürgermeister und seiner Familie gut zu stellen. Doch Mary ließ jeden spüren, dass sie glaubte, er stünde weit, weit unter ihr. Und Rachel … Rachel passte einfach nicht ins Bild. Manchmal tat sie ihm sogar ein bisschen leid, wenn sie in ihren hübschen Kleidern durch die Stadt flanierte, aber dank ihres hilfsbereiten und naiven Charakter weder in der Oberschicht, noch bei den Arbeitern Anschluss fand. Vielleicht lag es auch an ihrer zarten Konstitution und ihrer schwachen Gesundheit, wer wusste das schon.
“Kommen Sie”, sagte er leise zu Mrs. Jenkins. “Ich denke, Sie können Ihre … Unterhaltung an einem anderen Tage fortführen.” Insgeheim nahm er an, dass ihr seine Unterbrechung Recht kam.
“Stellen Sie sich vor mich und halten Sie sich an der Stange vor sich fest!” Samuel wies auf die Handlebar. Die Hunde würde er Mrs. Jenkins später vorstellen. Jetzt war ihm erst einmal daran gelegen, zu seinem Grundstück zu gelangen und damit außer Reichweite neugieriger Augen und Ohren.
“Viel Erfolg!”, rief ihnen Rachel zu, während sie sich ihre ovale, silbern glänzende Brille zurechtrückte. Sam quittierte dies mit einem knappen Kopfnicken, ehe er selbst auf den Schlitten stieg und seinem Gespann das Kommando zum Laufen gab.