Beiträge von Jehanne

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    Lundt war kein Krieger - und auch kein begnadeter Redner. In seinen Augen war er noch nicht einmal besonders mutig. Er war einfach nur Dorfschneider, hatte für jeden ein offenes Ohr, ein grübchenreiches Lächeln und einen freundlichen Spruch auf den Lippen. Dass es einmal so weit kommen würde, dass er seinen langjährigen Freund Thure vor einer wütenden Meute verteidigen musste, die ihm nach dem Leben trachtete, nun, das hatte er nicht kommen sehen. Sicher, Lundt wusste, dass die Menschen hier ihre Vorurteile gegen den Wildhüter hatten. Sie beobachteten sein verkürztes Bein mit abergläubischem Misstrauen und anstatt sich darüber zu freuen, dass er meistens unverletzt aus dem Wald zurückkehrte und sie über den Winter versorgte, tuschelten sie hinter seinem Rücken. Munkelten, dass er mit den Nachtmahren, die in den Tiefen der Wälder lauerten, im Bunde stand. Lundt hatte das immer als Unsinn abgetan. Als dümmliches, teils eifersüchtiges Geschwätz von Narren. Doch heute … heute hatte Thure einen Nachtmahr verteidigt. Und nicht nur irgendeinen. Er hatte dafür gesorgt, dass der große Nachtmahr nicht zu Schaden kommen würde. Und seine Gründe dafür gleich mitgeliefert. Was sein Freund gesagt hatte, mochte absurd klingen. Aber Lundt glaubte ihm und er wusste, dass Viviane das auch tat. Seine Tochter, Elaine, war ohnehin ganz vernarrt in seinen ruppigen Freund. Nur die Jäger, die gekommen waren und natürlich Gismelas geifernde Meute - die sahen das ganz anders. Abwechselnd schrien einige nach Thures Kopf, andere wollten am liebsten jetzt gleich in den Kerker gehen, um ihn aufzuschneiden und zu sehen, wo er sein Nachtmahrfell versteckt hatte. Dem Schneider wurde es ganz übel bei so viel Gewaltbereitschaft. Also hatte er seinen Mut zusammengekratzt, sich erhoben und der Menschenmenge so laut er konnte entgegengerufen:

    “Hört ihr euch eigentlich zu? Wisst ihr, was ihr da vorschlagt? Ihr wollt Thure umbringen und seine Gründe für die Schonung des Nachtmahrs interessieren euch gar nicht. Habt ihr nur einmal - ein einziges verfluchtes Mal - euren Verstand eingeschaltet und euch gefragt, was hätte passieren können, wenn er Recht hat? Thure handelt nicht aufs Geratewohl, das sollte jedem von euch hier klar sein.”
    “Ich weiß nur, dass er ein Monster geschützt hat. Und wer tut so etwas? Richtig, andere Monster. Ich habe es gleich gesagt, schon bei seiner Geburt - mit dem Krüppel stimmt etwas nicht”, konterte Gismela zornig, das faltige Gesicht zu einer bösartigen Fratze verzogen.
    “Und was sind Elaine und Ensi für dich, Gismela? Ebenso todeswürdig? Immerhin … sind sie auch anders zur Welt gekommen”, fauchte Viviane bedrohlich leise, ihr hübsches Gesicht so ernst, so bedrohlich, dass es hätte einem Racheengel gehören können.
    “Nun … ich … es sind Kinder. Deine Tochter verkehrt nicht mit Monstern”, versuchte sich die alte Frau herauszureden. Aber so ganz wollte ihr das nicht gelingen.
    “Du hast gerade selbst gesagt, dass Thure bereits seit seiner Geburt verflucht sei. Deine Anklage hatte nichts mit den Nachtmahren zu tun - zunächst”, sagte Viviane mit verschränkten Armen. Die kleine Elaine, die zwischendurch begonnen hatte zu weinen, schöpfte neue Hoffnung. Sie klammerte sich am Rock ihrer Mutter fest, schenkte Yorick, der mit ihrem Vater sprach ein Lächeln und flüsterte mit großer Begeisterung und glänzenden Augen:
    “Alte, blöde Spinatwachtel!” Schimpfwörter waren etwas Tolles. Und wenn sie sich gegen Gismela richteten, die gerade gegen ihren Lieblingsjäger hetzte - umso besser!
    “Elaine!”, mahnte Lundt - sehr, sehr halbherzig - ehe er sich dem alten Jäger zuwandte. Yorick machte auf ihn einen ganz vernünftigen Eindruck. Zäh, aber das Herz am rechten Fleck. Er glaubte ihm, dass er seine Leute unter Kontrolle hatte.
    “Nun, hoffen wir, dass meine Frau sie anständig durch die Mangel dreht. Vertrau mir, sie kann das hervorragend.” Lundt wirkte grimmig. Ein seltsamer Anblick für die meisten Dorfbewohner, die ihn sonst nur als Sonnenschein kannten, mit seinem breiten Lächeln und seinen wüsten Haaren. Einige schienen durch seine ungewohnte Ernsthaftigkeit, durch die Tatsache, dass er laut geworden war und geflucht hatte, verunsichert zu sein. Sie starrten nicht mehr nur Gismela an, sondern auch ihn. Und seine Frau, die sich gegen die alte Frau zur Wehr setzte. Lundt hoffte, dass sie die Gemüter wieder beruhigen würden. Aber er hatte nicht vor, zu einer Art Anführer zu werden. Dazu war er einfach aus dem falschen Holz geschnitzt …

    *

    Der Schmied hatte einen kurzen Blick auf ihn geworfen - wohl um zu sehen, ob er endlich sein verfluchtes Fell nach außen gestülpt hatte - und dann gegangen. Wortlos, grimmig. Thure atmete erleichtert aus. Er konnte in seiner nassen, dreckigen Zelle hören, wie sich der Streit weiter hochschaukelte. Der Jäger verstand die Worte nicht, aber er hörte Gismela klar und deutlich heraus. Verschwitzt, mit verdrehten Gliedmaßen, nestelte er mit seiner Nadel weiter an seinem Schloss herum. Er hatte keine Ahnung, wie das Ganze ausgehen würde, doch sein Instinkt sagte ihm, dass er besser fliehen sollte. Am besten jetzt.
    “Komm schon, komm schon … verdammt!”, keuchte er angestrengt. Doch da, plötzlich, ein leises Klicken und die Eisen, die seine Hände banden, sprangen auf. Die Fußfesseln sollten leichter zu knacken sein. Bald gab es nichts mehr, was den Wildhüter band. Jetzt galt es nur noch, die schwere Eisentür des kleinen Gefängnisses zu knacken. Thure richtete sich auf und lehnte sich an die Wand, um nicht die Balance zu verlieren. Zu seinem Glück vermisste er seinen normalen Stiefel. Seine spezielle Anfertigung für sein verkürztes Bein war ihm nicht während der Rangelei abhanden gekommen. Aber es war dennoch mühseliger zu laufen. Gehetzt spähte Thure durch das kleine, vergitterte Fensterloch. Die Dörfler stritten noch immer, während Lundt versuchte, die Wogen zu glätten.

    Thure atmete tief durch, um nicht fahrig oder hektisch zu werden, während er sich daran machte, das Hauptschloss zu öffnen. Als es endlich nachgab, kam ihm das quietschende Geräusch, das die rostige Tür machte, absolut ohrenbetäubend vor. Er verzog gequält das Gesicht, als er so schnell er konnte, aus dem Gefängnis stolperte und sich beeilte, mit den Schatten zu verschmelzen. Sein Verschwinden würde nicht lange unentdeckt bleiben. Vielleicht hatten sie trotz ihres lautstarken Streits die Tür auch gehört und man war ihm bereits auf den Fersen …

    *
    Thure hatte keinen Plan, nicht wirklich. Er wusste, dass er den Wald nicht wie üblich betreten konnte. In seiner Hütte würden man zuerst nach ihm suchen. Also hatte er sich in die entgegengesetzte Richtung gewandt, schlug sich durch dornige Büsche, die seine Arme und Beine zerkratzten. Seine mit seinem eigenen Blut verstopfte Nase machte ihm das Atmen schwer und sein Bein pochte protestierend, als er den Weg zum Bach einschlug. Lange würde er dieses Tempo nicht mehr durchhalten. Aber Thure stolperte weiter, während die Dunkelheit sich über den verfluchten Wald herabsenkte. Die Sonne ging in einem flammend orangeroten Ball unter. Zum Flüstern und Rauschen der Bäume, dem Lachen von Füchsen und dem Heulen von Wölfen, gesellten sich allmählich andere, unheimliche Geräusche. Keckern, hecheln, ein Schnarren. Thure wusste, dass die Mahre um diese Zeit des Jahres recht friedlich waren, eigentlich sogar normalen Tieren glichen. Aber er war trotzdem auf der Hut. Sicher würde er so schnell ohnehin nirgendwo mehr sein. Nicht in seinem Dorf, nicht in dem Wald, den er immer noch eher als Heimat, als Zufluchtsort ansah.

    Waffen hatte er keine mitnehmen können, also musste er sehen, wie er klarkam. Er hoffte inbrünstig, dass wenigstens Lundt nach seinen Hunden sehen würde. Thure quälte sich weiter voran. Vom Fluss, von der Lichtung, war er in diesem Teil des Waldes weit entfernt. Hier ging es ursprünglicher, verworren und verwinkelt zu. Schlingpflanzen bedeckten den Boden, umgestürzte, mit Moos bewachsene Bäume dienten zahlreichen Käfern als Zuhause. Die Krönung stellte ein klarer, rauschender Wasserfall dar, auf den Thure unsicher staksend zuhielt. Erschöpft ließ er sich ins Moos fallen. Seine breite Brust hob und senkte sich rapide und sein Blick verschwamm, als er eine menschlichen Silhouette gewahr wurde, die am Tümpel saß und Wasser schöpfte - und dann mit der Hand in die Wasseroberfläche schlug. Zornig, verbittert. Thure brachte sich ächzend in eine sitzende Position.
    “Hallo?”, krächzte er vorsichtig, plötzlich an das Versprechen, das er Basileus gegeben hatte, erinnert. Er hatte ihn darum gebeten, den Wald nicht zu betreten und Thure hatte nicht vorgehabt, dieses Versprechen zu brechen. Aber genau das hatte er getan - zweimal. Einmal, um unerfahrene Jäger zu retten und jetzt, um seine eigene Haut zu retten. Dass ein anderer Mensch hierherkam, war ungewöhnlich. Dass er verdreckt und nackt war, geradezu grotesk. Thure rieb sich die Augen und flüsterte, noch vorsichtiger als zuvor, während er auf den Mann zukroch: “Basileus?”

    Thure fixierte den blonden Jäger mit einem gehetzten Blick. Krüppel, Hohlkopf - all das scherte ihn im Moment nicht. Es waren nichts als verletzende Worte, die er oft genug gehört hatte und die ihm jetzt nichts anhaben konnten. Eine Reaktion würden die beiden Jungspunde darauf nicht erhalten. Es galt, Basileus zu schützen und damit auch sein Dorf.
    Nein. Nein, ihr tut uns keinen Gefallen!” Der Wildhüter schüttelte seinen Kopf so vehement, dass ihm seine langen, wilden Haare in die Augen fielen. “Ihr verkennt die Lage. Stirbt der Nachtmahr wird unser Dorf nicht erlöst - es wird endgültig der Dunkelheit anheimfallen. Denn wir büßen mit ihm."

    Thure sagte die Wahrheit, er war sich sicher. Die Überzeugung darüber spiegelte sich in seinen melancholischen Augen, der Ernsthaftigkeit in seinen harten, kantigen Zügen. Doch - noch konnte er dies nicht beweisen. Er hörte das irre Lachen des jungen Jägers und spannte sich noch weiter an. Natürlich glaubten sie ihm nicht. Hielten ihn für wahnsinnig, völlig durchgedreht. Die Bogensehne knirschte bedrohlich, doch bevor Thure etwas Unüberlegtes tun konnte, nahm er am Rande seines Geistes knirschende Schritte wahr und sah vage die tanzenden Lichter von Fackeln in der Dunkelheit. Ein älterer Jäger trat selbstbewusst in sein Blickfeld, bedeutete ihm, seinen Bogen zu senken. Zögernd und unendlich langsam kam der Wildhüter seiner Aufforderung nach, während sein Blick zwischen Basileus und dem Jäger hin und her irrlichterte.

    “Wenn Ihr ihn tötet, wird unser Dorf mit ihm fallen. Wir sind verflucht, wir alle, genau wie er. Durch seinen Tod wird es keine Erlösung geben”, wiederholte er sich eindringlich. In der kleinen Menge, die dem alten Jäger gefolgt war, konnte er Gismelas triumphierendes Gesicht ausmachen - natürlich. Aber auch Lundt war mitgekommen. Totenbleich und mit offenem Mund starrte er ihn ungläubig an. Ungläubig, aber wenigstens nicht offen feindselig, so wie der Schmied und der Scharfrichter, so wie die anwesenden Ältesten.
    Der Wildhüter wollte gerade zu einer weiteren Erklärung ansetzen, als Basileus sich mit wütendem Gebrüll auf Leif stürzte. Thure vernahm Wut - aber auch Schmerz. Bei genauerem Hinsehen sah der Nachtmahr noch geschwächter und magerer aus, als einige Stunden zuvor. Magerer - und menschlicher. Thure zwang sich, ruhig zu bleiben, während er in Basileus’ leere Augenhöhlen blickte. Stumm versuchte er, ihn um Gnade zu bitten. Darum diese elenden Nichtwisser zu verschonen. Die Bitte lag in seinem müden, melancholischen Blick, seiner zusammengesunkenen Körperhaltung - dem tiefen Seufzen, das seiner Kehle entfloh. Und wie durch ein Wunder erhörte Basileus ihn.

    Thure stieß den Atem, von dem er gar nicht gemerkt hatte, dass er ihn angehalten hatte, hörbar wieder aus. Dann zeichnete sich Sorge auf seinem harten Gesicht ab. Sorge um Basileus’ Wohlbefinden, aber auch um Leifs, der ohnmächtig und blutend auf dem laubbedeckten Waldboden log. Er schickte sich an, sich neben den jungen Jäger zu knien, als ihm etwas die Beine wegzog. Mit einem dumpfen Aufprall, der ihm die Luft aus den Lungen presste, kam er auf dem blutigen Waldboden auf. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er in den geheimnisvollen Sternenhimmel - und in Gismelas vor Hass verzerrtes Gesicht vor sich. Erik, der Schmied stand mit grimmiger Miene über ihm und setzte ihm seinen Schmiedehammer auf die Brust.
    “Das Biest kennt dich, Krüppel. Du kannst dich nicht mehr herausreden. Du und es, ihr habt miteinander zu schaffen. Vielleicht hilft uns ja auch dein Tod …”, grollte er, das Gesicht zu einer rachsüchtigen Fratze verzogen. Thure konnte es ihm noch nicht einmal verübeln. Er hatte seine Frau an die Nachtmahre verloren und suchte verzweifelt nach einem Schuldigen.

    Ehe der Wildhüter Gelegenheit bekam, zu widersprechen, wurde er grob hochgerissen und auf die Beine gezogen. Hände in seinem Rücken und an seinen Armen schubsten und zogen ihn harsch nach vorne, so dass ihm nichts anderes übrigblieb, als sich dem Mob zu ergeben, der ihn sicher mit finsteren Absichten zurück ins Dorf bugsierte. Hinter sich hörte er Lundt, wie er seinen Namen rief und dann eindringlich auf Yorick einredete:
    “Ich kenne Thure schon mein ganzes Leben lang, bitte, tut etwas - er ist kein schlechter Mensch, es muss eine Erklärung dafür geben, es muss!”
    Der schmächtige Schneider hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Vargas und Yorick dabei zu unterstützen, Leif zu tragen. Und er hatte offensichtlich beschlossen, Thure zu glauben. Dass ihn das retten würde, bezweifelte der Jäger allerdings stark …

    *
    Trübes Morgenlicht fiel auf Thures Gesicht, stach in seinen Augen. Die kleine Zelle war feucht und kalt, selbst jetzt, im Sommer. Jeder Knochen in Thures Körper schmerzte. Er hatte damit gerechnet, dass die Meute Blut sehen wollte und da ihnen Basileus’ Ableben dank ihm nicht vergönnt war und Leif schlimme Verletzungen davongetragen hatte, hatte er für ihre Rache herhalten müssen. Im Grunde genommen hatte er es Lundts Besonnenheit, erstaunlicherweise manchen der nicht ortsansässigen Jäger und Ragunds Fürsprache zu verdanken, dass er nur halb tot, anstatt wirklich unter der Erde, in seiner Zelle saß.
    Nun wollten sie ihn beobachten. Sehen, ob er sich nicht auch noch in einen Mahr verwandeln würde. Doch zu seinem Glück hatten sie dies anscheinend über ihre Streitigkeiten vergessen. Thure konnte sie hören, wie sie auf dem Dorfplatz noch immer lautstark debattierten, wie mit ihm zu verfahren sei. Thure reckte sich ein bisschen, doch die vergitterten Fenster des kleinen Gefängnisses mit den dicken Steinmauern waren zu winzig, um etwas zu erkennen.

    Ächzend und stöhnend versuchte der Wildhüter, sich in eine bequemere Position zu bringen. Kein leichtes Unterfangen, da seine Hände und Füße in Eisen gelegt worden waren. Zudem hatte man ihn geprügelt. Seine Nase schmerzte und war durch geronnenes Blut verstopft, seine Rippen knackten und knirschten bedrohlich und ihm fehlte ein Stiefel. Jetzt fliehen zu wollen, war keine gute Idee. Doch Thure wusste, dass die Stimmung der Dörfler schnell umschlagen konnte. In einem Moment waren sie noch mit seiner Gefangenschaft zufrieden und im nächsten würden sie ihn hängen sehen wollen. Oder noch Schlimmeres. Thure hoffte inständig, dass sie ihre Mordlust nicht an Créon und Calan auslassen würden. Nein, er musste hier raus, koste es, was es wolle. Er musste seine Haut retten - und nach Basileus sehen. Er hatte so krank, so schwach gewirkt, als die Eisennetze seine Haut verbrannten. Und wenn er wirklich mehr war, als ein Mahr, wenn er wirklich ein Mann war, genau wie er, dann hatte auch er Hilfe und Zuwendung verdient.

    Thure vollführte ein paar schmerzhafte Drehungen, ehe er erreicht hatte, was er suchte: Eine kleine Nadel, versteckt in seinem Hemdärmel. Konzentriert versuchte er, damit das Schloss an seinen Handgelenken zu knacken. Er mühte sich redlich ab - so lange, bis er Schritte hörte und wie ein rostiger Schlüssel sich quietschend im Schloss des kleinen Gefängnisses drehte. Thure versteckte die silbrig glänzende Nadel wieder und versuchte, unverdächtig auszusehen. Verletzt. Gebrochen. Vielleicht sogar ein bisschen durcheinander und verwirrt. Es wäre ungünstig, wenn man annahm, dass er noch dazu in der Lage war, einen Ausbruchsplan zu verfolgen …

    Thure, Lundt und Viviane sahen den restlichen Dörflern dabei zu, wie sie tanzten, sangen und tranken, wobei Lundt dem Met auch etwas mehr zusprach. Der Schneider hatte darauf bestanden, Thure mitten in der Nacht zu seiner Hütte zu begleiten, nachdem dieser das Angebot abgelehnt hatte, bei ihm und seiner Familie zu übernachten. Der Jäger wollte nach Calan sehen. Der große Hund erholte sich zwar zusehends - aber heute Nacht waren eigentümliche Gestalten in ihrem Dorf zu Gast und es behagte ihm nicht, ihn zu lange alleine zu lassen. Am Ende hielten ihn ein paar der Trunkenbolde, die dämlich genug waren, sich dem Waldrand zu nähern, noch für einen Nachtmahr oder provozierten ihn, nur um dann dem Tier die Schuld zu geben. Darauf konnte Thure verzichten.

    “War doch ein netter Abend, nicht?”, fragte Lundt breit grinsend, während er Thure durch die hölzerne Tür seiner Hütte folgte und sich auf dem Fußboden niederließ, um Calan den Kopf zu tätscheln.
    “Armer, armer Junge, hm? Elaine hat schon erzählt, dass er verletzt wurde. Aber nicht nur er, oder?”
    Lundt warf seinem Freund einen durchdringenden Blick zu, der dafür sorgte, dass Thure unruhig auf seiner Bettstatt herumzurutschen begann. Er und der Schneider hatten üblicherweise keine Geheimnisse voreinander. Thure schätzte Lundts sonniges Gemüt, das er an seine Tochter offensichtlich weitervererbt hatte. Und er glaubte auch nicht, dass er ihn dafür verurteilen würde, wenn er ihm die Geschehnisse der letzten Tage offenbarte. Lundt würde besorgt sein, ganz bestimmt. Um die Sicherheit seiner Familie und seiner Freunde, aber er würde verstehen, warum er den Herrn der Nachtmahre nicht getötet hatte. Erst Recht, wenn er ihm erzählen würde, dass er wohl einst auch nur ein Mensch gewesen war. Doch … womöglich würde er den Schneider mit diesem Wissen in Gefahr bringen. Und so antwortete der Jäger eher ausweichend:

    “Du weißt doch, Verletzungen bleiben bei meinem Tagewerk nicht aus, weder für mich, noch für meine Hunde. Uns geht es gut. Das ist, was zählt, oder nicht?”
    Thure schenkte seinem Freund ein sehr schief geratenes Lächeln, was dieser mit einer gerunzelten Stirn und einem nervösen Zucken seiner etwas abstehenden Ohren beantwortete.
    “Es war also wirklich deine Arbeit als Jäger, als Wildhüter, ja? Kein … übereifriger Ältester oder jemand aus dem Dorf? Ich muss niemandem mit meiner Schere die vorwitzige Nase abschneiden?”
    Lundt tarnte seine Sorge hinter einem weiteren Lächeln, krempelte die lindgrünen Ärmel seines Hemdes hoch und entblößte schmale, hagere Unterarme. Wenn irgendjemand in einer Prügelei mit fanatischen Dörflern den Kürzeren ziehen würde, dann er. Aber es war klar, dass Lundt für seinen Freund einstehen würde. Thure überkam eine jähe Welle der Zuneigung für den schmächtigen Mann. Er lag so falsch, so unendlich falsch mit seinen Vermutungen, aber seine Loyalität war rührend.
    “Nein … nein, wirklich, du musst dir keine Sorgen machen, es ist alles …”

    Weiter kam Thure nicht. Denn im selben Augenblick hallte ein markerschütternderndes Heulen durch den Wald. Es klang ganz nah. Lundt zuckte zusammen.
    “Was war das?”, sagte er ängstlich. Das Heulen … es hatte nicht menschlich geklungen, nicht ganz. Thure hatte den Verdacht, dass es sich um Basileus handelte - und dass er fürchterliche Schmerzen ertrug. Doch er wusste nicht, weshalb. Setzte ihm die seltsame Wandlung, in der er sich gerade befand, schrecklich zu? Griffen ihn die anderen Nachtmahre in Scharen an, weil er offensichtlich geschwächt war? Oder … oder hatte sich einer dieser dämlichen Jäger in den Wald geschlichen, um sein Schicksal herauszufordern?
    “Ach, verflucht!”, knurrte Thure, während er sich sein Wams überwarf und nach Bogen, Köcher und Jagdmesser griff. Er hatte Basileus versprochen, sich aus dem Wald fernzuhalten und nun würde er dieses Versprechen brechen müssen. Er konnte nicht einfach tatenlos in seiner Hütte sitzen bleiben. Entweder stand Basileus’ Leben auf dem Spiel - oder das eines unerfahrenen Jungspunds. Egal, was es war, er musste handeln.
    “Was hast du vor?”, fragte Lundt, der sich mittlerweile auch erhoben hatte, besorgt.
    “Du willst da doch nicht reingehen, oder?”
    “Ich muss wohl, denn es sieht ganz danach aus, als ob irgendein Wahnsinniger unbedingt Held spielen wollte!”, gab Thure barsch zurück, während er aus seiner Tür eilte, Créon im Schlepptau.
    “Und du bist der nächste Wahnsinnige, der Held spielen will, ja?” Lundt war ihm aus der Hütte gefolgt. Er packte ihn an der Schulter und sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an:
    “Geh’ da nicht rein, Thure. Wir wissen doch gar nicht, was los ist.”
    Thure achtete nicht auf Worte seines Freundes. Es tat ihm im Herzen leid, doch er spürte, dass er nach dem Rechten sehen musste.
    “Es tut mir Leid”, flüsterte er. “Aber ich muss. Es ist in Ordnung, wenn du das nicht verstehst, Lundt. Lass mich los! Lass mich los und geh nach Hause!”
    Thure schüttelte den Arm des Schneiders ab und hielt mit großen, wackeligen Schritten auf den Waldrand zu. Lundts bange Rufe ignorierte er mit schlechtem Gewissen.

    Das Heulen wurde immer lauter, je länger er den Fluss entlang hastete. Thure konnte froh sein, dass er die Wälder wie seine Westentasche kannte, sonst wäre er sicher bereits umgeknickt oder der Länge nach hingefallen. Die Muskeln seines verkümmerten Beines protestierten und schickten heiße Schmerzen durch seinen Körper. Gerade, als der Jäger glaubte, nicht mehr zu können, schälte sich eine grauenhafte Szenerie aus dem Dunkel vor ihm. Basileus lag besiegt und durch silberne Netze gebunden auf dem morastigen Waldboden. Zwei junge Jäger, wild entschlossen, sich einen Namen zu machen, hatten es geschafft, ihn in seinem geschwächten Zustand zu bändigen. Einer der beiden, der mit den auffällig hellen Haare, hielt dem Nachtmahr eine todbringende Klinge gegen den Nacken.

    Thures Mund wurde staubtrocken. Er hatte keine Zeit, nachzudenken. Keine Zeit, sich mit den Konsequenzen seines Handelns zu beschäftigen. Wie fremdgesteuert legte er einen Pfeil auf seinem Bogen an und zielte auf den jungen Jäger. Créon knurrte.
    “Haltet ein! Ihr habt kein Recht, euch in diesen Wäldern aufzuhalten!”, hörte er sich heiser hervorstoßen. Wenn er so derangiert aussah, wie er gerade klang, könnte man ihn zurecht fürchten. Oder für wahnsinnig halten. Besessen. Doch das war Thure im Moment egal. Alles, was er wusste, war, dass Basileus mehr war als nur ein Mahr. Er war ein Mensch, dem Schlimmes widerfahren war. Und er verdiente es nicht, zu sterben.

    *

    “Ich hole Hilfe, hörst du?!”
    Thure beachtete ihn nicht. Für einen Moment war Lundt versucht, seinem Freund zu folgen. Doch er wusste, dass er kaum im Wald überleben würde. Und … Thure verhielt sich seltsam. Gehetzt. So, als ob er sich fürchten würde. Es war besser, wenn Lundt ins Dorf zurück lief und Hilfe anforderte. Er wollte den Jäger nicht mutterseelenallein im Wald wissen. Das … oder mit einem neunmalklugen Halbstarken, der den Helden spielen und sich das nicht nehmen lassen wollte.

    Der Schneider warf sich herum und rannte. Er rannte so schnell, dass ihm die Seiten weh taten und er kaum mehr Luft bekam, als er auf dem Dorfplatz schlitternd zum Stehen kam.
    “H-hilfe”, würgte er hervor, während er sich krümmte. Seine Locken hingen ihm nass geschwitzt in die Stirn, als er mit verschwommenem Blick wahrnahm, wie einige Gestalten auf ihn zuliefen.

    Vielleicht hatte Basileus Recht und die tragische Geschichte der Familie, die hier einst gelebt hatte, würde ihnen nicht weiterhelfen. Und dennoch …
    “Das mag sein”, sagte er ächzend, während er sich dankbar auf die robusten Schultern des Nachtmahrs stützte, “doch unsere Dorfältesten schweigen sich auch über diese Vorkommnisse aus. Wenn es so unwichtig wäre, einfach nur ein weiteres, unbedeutendes Stück Geschichte, das nichts mit dem Fluch zu tun hat … warum ist ihnen so sehr daran gelegen, dass alles Wissen über diese Ruinen für uns verborgen bleibt?”, fragte er nachdenklich. Der Jäger stützte sich noch ein Stückchen des Weges auf Basileus, ehe er seufzend zum in der Ferne grün schimmernden Waldrand sah. Natürlich war Thure bewusst, dass der Mahr ihn heute nicht weiter begleiten konnte. Die ersten Händler waren bereits eingetroffen und mit ihnen ganze Scharen an Jägern und Glücksrittern. Manche der Männer stammten aus anderen Königreichen und unterstanden dem König höchstselbst, was sie in ihrem Geschick, aber auch ihrer Blutlust gefährlich machte. Andere waren nichts weiter als verarmte Bauern, die darauf hofften, sich mit dem Fell der Nachtmahre eine satte Prämie zu verdienen. Und viele dieser armen Seelen hofften natürlich darauf, dass sie es sein würden, die Basileus zur Strecke brachten.

    “Ich danke dir für deine Unterstützung, Basileus”, sagte Thure leise.
    “Pass’ … auf dich auf. Viele, die heute zu Besuch kommen, sind auf eine aufregende Hetzjagd, etwas Ruhm und Geld aus. Königliche Jäger schätzen das Wild, das sie jagen nicht und Nachtmahre noch viel weniger.”
    Der hoch gewachsene Mann verzog angewidert das Gesicht. Bald würde er sich mit ihren prahlerischen Gesprächen herumschlagen müssen, was unweigerlich dazu führte, dass er noch mehr als Sonderling angesehen wurde. Thure fiel es sehr schwer, seine Abscheu gegenüber jenen, die Schwächere aus Spaß jagten, drangsalierten oder töteten, zu verbergen. Er machte sich auf einen unangenehmen Abend gefasst, der vermutlich alleine durch Elaines sonniges Gemüt, frisch gebackenes Brot und ein paar Becher Met erträglich wurde.
    Thure hob die linke Hand zögerlich zum Gruß und humpelte auf den Waldrand zu. Vielleicht hätte er mit der Ausbesserung seiner Stiefel noch etwas warten sollen. Die Sohlen waren noch recht hart und er musste sie einlaufen. Ein Unterfangen, das Basileus zu Recht als schmerzhaft erkannt hatte. Für jemanden, der sich für ein totales Monster hielt, besaß er erstaunlich viel Mitgefühl. Aber das wollte Thure ihm nicht sagen, jedenfalls heute nicht. Der Mahr hatte bereits jetzt Bedenken, dass er der trügerischen Stille der Nachtmahre zum Opfer fiel - diese Bedenken wollte er nicht weiter anfachen.

    *

    Es war bereits dunkel, als der Jäger sich zum Fest begab. Zum einen hatte er noch etwas in dem kleinen Büchlein gelesen, leider, ohne neue Erkenntnisse zu gewinnen. Und zum anderen konnte er so den ausgelassenen Tänzen und dem großen Reigen entgehen. Es kam zwar nicht oft vor, dass man ihn zum Tanzen aufforderte, aber wenn es tatsächlich passierte, fühlte Thure sich furchtbar schäbig, wenn er Interessierte abweisen musste. Er war froh, dass er laufen konnte. Tanzen war für ihn ein Unding, erst Recht, wenn er auch noch führen sollte.

    Der Dorfplatz war hell von Fackeln und kleinen Lampions erleuchtet. Glühwürmchen tanzten durch die Nacht und der Duft von Gebratenem und süßem Gebäck wehte zu ihm herüber. Die bunten Gewänder der Menschen schimmerten im warmen Licht des großen Sonnwendfeuers. Händler priesen noch immer ihre Waren an und Abenteurer und Jäger hatten es sich auf hölzernen Bänken oder auf weichen Fellen auf dem Boden bequem gemacht. Thure selbst trug nur wenige seiner Felle bei sich, die er verkaufen konnte. Ihm war es wichtig, dass die Dörfler für den Winter versorgt waren. Allzu viel wollte er nicht nach außerhalb verkaufen …

    “Da bist du ja! Wir haben dich bereits gesucht!”, ertönte eine amüsiert klingende Stimme hinter ihm. Lächelnd drehte sich der Jäger um und blickte in Vivianes sommersprossiges Gesicht.
    “Meine schlechtere Hälfte besorgt uns etwas Braten und Brot … ein ziemlich schwieriges Unterfangen heute”, stellte Elaines Mutter mit vielsagendem Blick auf die Menschenmenge fest. Die kleine Elaine, die sich am Rock ihrer Mutter festklammerte und mit großen Augen die Jäger und ihre Hunde betrachtet hatte, wandte sich Thure entrüstet zu:
    “Du hast den Reigen verpasst. Mit Absicht!”, hielt sie ihm schmollend vor. Thure schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln und brummte: “Das letzte Mal bin ich dir nur auf die Füße getreten, Prinzessin”, erinnerte er sie, woraufhin Viviane leise auflachte.
    “Allerdings und als Lundt dich stützen wollte, seid ihr umgekippt.”
    Thure verzichtete darauf, Viviane daran zu erinnern, dass ihr Gatte, auch bekannt als ihre schlechtere Hälfte, zu diesem Zeitpunkt fast zwei Krüge Met getrunken hatte.

    Stattdessen führte er die zierliche Frau und ihre Tochter zu einer eher wackeligen Bank, die aus diesem Grund wahrscheinlich frei geblieben war, und winkte Lundt, der geduldig auf ihr Essen wartete, zu.
    “Es sind … sehr viele Jäger gekommen. Mehr, als in den vergangenen Jahren”, sagte Viviane vorsichtig. “Natürlich gibt es auch einige Kauflaute, die versuchen, ihre Töchter oder ihre Söhne zu verheiraten. Aber …” Die blonde Frau ließ ihre Satz unbeendet. Thure wusste, was sie meinte. Die Atmosphäre war anders als sonst. Ausgelassen, ja, aber mit einem fast schon gierig aufgeregten Unterton. So, als erwartete die Menge, dass etwas Großes passierte. Ein Spektakel, etwas, das in die Geschichte einging.
    Basileus’ Tod, zum Beispiel?, fragte eine kleine, gehässige Stimme in seinem Hinterkopf.
    Thure schüttelte sich, schenkte Viviane ein etwas gequält wirkendes Lächeln und schnaubte: “Hoffen wir, dass wir in Frieden feiern können. Ich bin es wahrlich Leid, mit blutdürstigen, halbstarken Aufschneidern sinnlose Diskussionen zu führen. Niemand ist je an den Herrn der Nachtmahre nahe genug herangekommen, um ihm das Fell zu versengen.”
    Außer dir, und jetzt hilfst du ihm - genau, wie Gismela schon immer behauptet hat, flüsterte die Stimme weiter. Ehe Thure sich weiter selbst geiseln konnte, drängte sich Ludt auch schon mit ihrem Essen durch die Menschenmenge. Er war für einen Mann sehr schmal und zierlich, besaß hohe Wangenknochen und wüste, graubraune Locken, die sich wild um seinen Kopf kringelten. Ludt beugte sich zu Viviane herunter, um ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen zu hauchen. Der Schneider lächelte warm in die Runde, was ein paar markante Grübchen in seine schmalen Wangen grub und dafür sorgte, dass seine haselnussbraunen Augen fast vollständig in einem Meer an Lachfältchen untergingen. Kaum jemand im Dorf hatte je verstanden, warum sich die schöne Viviane, mit der anmutig gebogenen Nase, den dicken, blonden Locken und der zarten Haut ausgerechnet für den schmächtig Lundt entschieden hatte - Thure konnte diese Entscheidung tatsächlich sehr gut nachvollziehen.
    “Schön, dass du doch noch gekommen bist. Elaine hat dich schon vermisst. Viel zu tun in den Wäldern?”, fragte Lundt mitfühlend und stellte Brot, Braten und einen Becher Met vor Thure ab.
    Der Jäger winkte ab: “Mach’ dir um mich keine Gedanken. Wo sind Ensi und seine Eltern?”
    “Sehen sich nach einem neuen Umhang für ihn um. Die kommen sicher gleich - aber bis dahin …” Lundt erhob seinen Becher und sagte feierlich mit dem ihm angeborenen Optimismus: “... auf ein paar ausgelassene Tage. Ich bin sicher, dass wir irgendwann wieder ins Licht zurückkehren werden.”
    Thure trank und grinste breit. Bislang war der Abend doch gar nicht so schlecht …

    “Es gehört meinen Hunden und mir, ja”, gab Sam knapp Auskunft, während er seine Vierbeiner auf das große Grundstück entließ. Bellend und spielerisch nacheinander schnappend balgten sie sich im Schnee. Nur Amarok sah dem Treiben mit einer Miene zu, die besagte, dass er ein solches Verhalten seiner Artgenossen für unter seiner Würde hielt. Dem weißen Zephyr war eher daran gelegen, sich schwanzwedelnd zu Mrs. Jenkins zu gesellen und sie mit schief gelegtem Kopf und einem breiten Hundelächeln im flauschigen Gesicht zu mustern.
    “Sie sind durchgefroren”, stellte der Musher sachlich fest. Er deutete mit einem Kopfnicken auf das von Schnee und Eis glänzende Holzhaus.
    “Kommen Sie herein und wärmen Sie sich etwas auf. So können wir die Routen durchgehen, die wir nehmen werden. Und danach … bringe ich ihnen das Schießen bei. Angesichts der Tatsache, dass immer mehr neue Goldsucher hier eintreffen, halte ich das für sinnvoll”, sagte Samuel düster.
    Seine Stimme klang durch den Wollschal, den er sich vor den Mund gewickelt hatte, etwas gedämpft, als er auf sein Haus zustapfte und wartete, bis Mrs. Jenkins ihm folgte. Seine mürrische Laune hielt noch immer an, aber die Tatsache, dass er der Bürgermeister-Familie doch noch entronnen war, hob sie etwas. Zephyr und Geri, der hoffnungsvoll an Mrs. Jenkins Rucksack schnupperte, folgten ihnen ins Haus und hinterließen kleine Pfützen auf dem dunklen Holzboden. Der Musher entledigte sich seiner warmen Stiefel und seiner Robbenfellrobe. Er hängte sie unzeremoniell an eines von mehreren Karibugeweihen, die er in der Nähe des Kamins angebracht hatte. Nicht als Trophäe oder Zierde. Doch Sam war der Meinung, dass man alles von einem Tier verwerten sollte, wenn man es erlegt hatte.

    “Ihre Jacke können Sie ebenfalls zum Trocknen aufhängen!”, murmelte er leise, während er das Feuer im Kamin wieder anfachte. Allmählich kehrte das Leben unangenehm ziehend oder auch schmerzhaft stechend wieder in seine tauben Glieder zurück. Mrs. Jenkins musste es sicher ähnlich ergehen. Mit von der plötzlich zurückkehrenden Wärme geröteten Wangen und von der Kapuze zerzausten Haaren machte Sam sich daran, Tee aufzubrühen und etwas Brot und Käse bereitzustellen. Er bildete sich wahrlich nicht ein, ein guter Gastgeber zu sein, und wenn er ehrlich war, hatte er daran auch wenig Interesse. Aber er wusste zumindest einigermaßen, was sich gehörte. Mit stoischer Miene stellte er die beiden dampfenden Tassen auf seinem wackeligen Holztisch ab, auf dem er bereits Karten und seine Notizen ausgebreitet hatte. Im Grunde genommen, wäre es für ein Greenhorn wie Terrah einfacher, direkt hier, am Klondike River, nach Gold zu suchen. Doch seit einigen Monaten trafen immer mehr Goldsucher und Glücksritter ein, viele davon regelrecht brutal, wenn es um ihre vermeintlichen Claims ging. Die Goldvorkommen in Kanada waren weniger umkämpft, aber schwerer zu erreichen. Mrs. Jenkins würde mit ihm und den Hunden entweder erneut den Chilkoot Pass überqueren müssen oder sie könnten sich an den White Pass begeben.

    “Setzen Sie sich”, sagte er leise, während er sich über die Augen rieb. Samuel klopfte Geri, der drauf und dran war, sich dem auf dem Tisch liegenden Käse zu schnappen, mit Schwung auf die Nase.
    “Verfressenes Biest!”, knurrte er, doch er bedachte den Hund mit einem warmen Blick, den er Menschen praktisch nie zuteilwerden ließ.
    “Mrs. Jenkins … ich habe mir Gedanken um unsere … Expedition gemacht. Die Goldvorkommen hier im Yukon sind einfacher zu erreichen, doch seit den vergangenen Monaten stärker umkämpft. In Kanada ist es - zumindest bislang - weniger wahrscheinlich, dass wir auf allzu viel Konkurrenz treffen. Aber der Weg ist beschwerlicher. Ich weiß, dass sie den Chilkoot-Pass bereits überquert hatten. Kein leichtes Unterfangen …”, sagte er fast schon anerkennend, während er mit einem langen, schwieligen Finger die Routen nachfuhr.
    “Der White Pass ist weniger steil, doch ich habe gehört, dass es dort angeblich vor Banditen und Kriminellen nur so wimmelt. Allerdings … wenn etwas hervorragend in Dawson City gedeiht, dann sind es Gerüchte.”
    Er grinste schief und vielleicht ein klein bisschen boshaft, als er daran dachte, dass es über ihn sicher auch einige unschmeichelhafte Geschichten gab. Und dank Mary würde Mrs. Terrah Jenkins mit Sicherheit auch bald einen zweifelhaften Ruf bekommen. Die ältere Bürgermeistertochter neidete ihr bestimmt ihren Gatten oder vielmehr ihren Status als verheiratete Frau. Für Mary gab es wenig Interessenten unter den Betuchten Bürgern der noch jungen Stadt, was ganz sicher nicht an ihrem Aussehen lag, sondern eher an ihrem biestigen Charakter. Dasselbe konnte man allerdings nicht über ihre jüngere Schwester Rachel sagen. Doch bevor Mary nicht unter der Haube war, würde Mr. Williams Rachel weiterhin hüten wie seinen Augapfel. Samuel drehte eine braune Haarsträhne zwischen seinen Fingern und beschloss, wieder auf das eigentliche Thema zurückzukommen. Tagträumereien und Grübeleien, noch dazu über die Bürgermeisterfamilie, waren hier fehl am Platze.

    Samuel räusperte sich, neigte seinen Kopf in Terrahs Richtung und seufzte:
    “Ich … möchte Ihnen gerne die Wahl überlassen, wo Sie mit Ihrer Goldsuche beginnen möchten. Finden werden wir es so oder so”. Er zuckze mit dem Selbstbewusstsein eines Mannes, der noch nie einen Kampf verloren oder vor einer Herausforderung davongelaufen war, nonchalant mit den Achseln.

    Mit nachdenklichem Blick schlürfte Samuel wenig elegant seinen Tee und wartete geduldig auf eine Antwort. Er hatte soeben beschlossen, dass er Mrs. Jenkins an seinem Repetiergewehr anlernen würde. Alternativ besaß er auch einen Revolver - doch für eine Anfängerin war es einfacher, mit einem Gewehr zu zielen. Und auch, wenn ein Revolver im Vergleich zu einem Gewehr klein und zierlich aussah, so hatte er in der Regel doch einen stärkeren Rückstoß.
    “Sie sagten, Sie haben noch nie ein Gewehr bedient, nicht wahr? Erwarten Sie zu Beginn keine allzu großen Erfolge”, mahnte er vorsichtshalber an. Samuel war lieber ein Pessimist. So lebte es sich - in seinen Augen - eigentlich ganz gut. Erwarte das Schlimmste und freue dich, wenn alles glatt geht …
    Er schenkte der jungen Frau noch ein wenig Tee nach. Vielleicht war es ganz gut, wenn sie bald mit den Schießübungen begannen. Mrs. Jenkins schien sich von seinem Haus, von der schieren Größe, geradezu erschlagen fühlen. Sam konnte es ihr nicht verdenken. Auch er fühlte sich manchmal unwohl in dem großen Anwesen. Wären seine Hunde nicht, hätte er wohl des Nachts Bedenken, dass ihm hinter irgendeiner Biegung plötzlich ein Einbrecher begegnen könnte.

    Alain schnaubte belustigt durch die Nase, als er einer dunkel gekleideten Frau gewahr wurde, die sich mit dem Einsatz von Ellenbogen und Charme zu seiner Rezeption vordrängelte. Im Schlepptau hatte sie einen jungen Mann, der im direkten Vergleich zu ihr wie eine kleine, graue Maus wirkte. Unscheinbar, etwas schüchtern. Es überraschte den Hotelerben nicht, dass ihm die junge Dame ziemlich unverblümt ihre Papiere vor die Nase knallte und ihm sofort mitteilte, was sie wollte.

    „Ah, bienvenue dans le château du lac sinistre. Es ist mir eine Ehre Ihren Wünschen nachzukommen! Alain de Grailly ist mein Name“, begrüßte er die Dame mit rauer Stimme und einem treuherzigen Blick aus funkelnden graugrünen Augen, während er auf der Tastatur seines PCs herumhackte, die Bücher des Schlosses kurz durchsah und sich die Papiere zu Gemüte führte. Jetzt erinnerte er sich. Die Geschwister Fèvre hatten recht spät im Jahr reserviert. Der Aufenthalt schien für die beiden eine eher spontane Entscheidung gewesen zu sein. Die meisten Zimmer mit Seeblick waren zum Zeitpunkt ihrer Buchung bereits vergeben gewesen – und so war ihnen die ehemalige Kemenate geblieben. Diese wurde üblicherweise eher gemieden - und das hatte einen guten Grund, wenn man denn an Geistergeschichten glaubte.

    „Nun, Madame et Monsieur Fèvre”, begann er mit einer kleinen, gutmütig spöttischen Verbeugung in Richtung des jungen Mannes, der ihn wie eine Erscheinung anstarrte. Ob er ihn wohl für einen Geist des Schlosses hielt? Alain warf ihm ein verspieltes, kleines Zwinkern zu, ehe er sich wieder seiner zugegeben sehr attraktiven Schwester zuwandte: “Wie ich sehe, haben sie sich für die ehemalige Kemenate im dritten Stock entschieden. Ich muss Sie jedoch warnen!“

    Alain beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern.

    „Angeblich soll dort eine weiße Dame umgehen. Ein rachsüchtiger Geist einer jungen Mademoiselle, die kurz vor ihrer Hochzeitsnacht ermordet wurde – wenn Sie mich fragen, wäre ich darüber auch ziemlich erbost.“

    Er hielt ihr die Schlüssel mit einem unverbindlichen Lächeln unter die Nase und fügte hinzu:

    „Praktisch gesehen, könnte es sein, dass Sie mich das ein ums andere Mal in Ihrem Korridor antreffen – einige Bilder bedürfen einer liebevollen Restaurierung. Doch falls sie sich weder an Geistern noch an meiner Wenigkeit stören … gehört das Zimmer Ihnen. Und sollten Sie noch Fragen haben, habe ich stets ein offenes Ohr für Sie – vielleicht auch zwei.“

    Er rückte sein tiefrotes Gilet zurecht und begann sich einzugestehen, dass er gerade so eben ein paar Flirtversuche gestartet hatte. Nichts Ungewöhnliches für ihn, aber ein kleiner, naiver Teil von ihm hatte gehofft, dass ihm seine Lust auf Abenteuer seit seiner Dozentin gründlich vergangen wäre. Dies schien nicht der Fall zu sein. Und außerdem fühlte er sich hier nach all den Jahren immer noch wie ein kleiner Vogel, den man gegen seinen Willen in einen langweiligen Käfig eingesperrt hatte. Und so musste er aus dem Käfig das Beste machen, nicht wahr?

    Alain erinnerte sich an die Worte seiner Mutter. Dass es noch freie Plätze bei der Geistertour heute Abend gab. Vielleicht sollte er die beiden davon in Kenntnis setzen. Sie wirkten zumindest so, als ob sie Interesse daran haben könnten, auch wenn sie einen weniger aufgekratzten Eindruck machten, als die üblichen Abenteurer und Phantasten, mit denen er sich sonst so herumschlug. Einige von ihnen hatten gar schon versucht, mit den Geistern zu kommunizieren. Es war geradezu lächerlich grotesk gewesen …

    “Wenn Sie beide heute Abend Zeit und Muße haben - es sind noch Plätze bei unserer Geistertour frei. Wir treffen uns um elf Uhr hier in der Eingangshalle. Und falls Sie sich nach ihrer Reise ausgehungert fühlen sollten - das Restaurant bereitet ab achtzehn Uhr Abendessen zu.”
    Der Hotelerbe fuhr sich kurz durch den bart und versuchte, die Lage in der Eingangshalle einzuschätzen. Einige Gäste begannen aufgeregt miteinander zu tuscheln und ein paar anklagende Zeigefinger wurden erhoben. Es war nicht unbemerkt geblieben, dass sich das Geschwisterpaar vorgedrängelt hatte. Alain interessierten solche Belanglosigkeiten herzlich wenig. Wenn der Rest der Gäste nicht in die Pötte kam, brauchten sie sich eben nicht zu wundern … Dennoch … ein kleines Wort der Warnung konnte nicht schaden. Er grinste, zog die Augenbrauen hoch und raunte den beiden zu:
    “Oh … Vielleicht räumen Sie besser das Feld. Die beiden Rentner hinter Ihnen sind, glaube ich, ganz erpicht darauf, sie wegen Vordrängelei an den Pranger zu stellen - und ja, wir haben hier einen. Oder Ihnen ihre Fußhupe auf den Hals zu hetzen!”
    Alain betrachtete den kleinen, aufgeregt kläffenden Hund mit einer Mischung aus Angst und kaum verhohlener Verachtung. Wenn die Biester wenigstens gut erzogen wären, aber nein. Sie waren klein, sahen niedlich aus und ihre ältlichen Besitzer waren meist vollkommen nachlässig, was die Erziehung anbelangte.

    Lavendelschloss
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    Es zeichnete sich ab, dass es ein extraordinär anstrengender Tag werden würde. Das Restaurant war für heute Abend ausgebucht, die Hälfte der Gäste hatte sich für eine Geistertour angemeldet und die andere Hälfte schien ganz erpicht auf eine Planwagenfahrt zu sein. Ältere Damen rannten hektisch vor seiner Rezeption auf und ab, hatten ihre Schlüssel vergessen, ihren Handtaschen-Wauwau verloren – naja, irgendeine lächerliche Tragödie passierte immer. Alain störte sich nicht allzu sehr daran. Er bewahrte sich sein jungenhaft charmantes Lächeln, fuhr sich durch die dichten, etwas verschwitzten schwarzen Locken und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Es war Hochsaison – natürlich würde es stressiger sein, als sonst. Das Schloss vibrierte und summte förmlich vor Leben – gäbe es da nicht die vermutlich über hundert Geister, die es angeblich bevölkerten.
    Alain schnaubte spöttisch durch die Nase. Was für ein Humbug! Geister und Dämonen gab es genausowenig, wie es Götter gab.

    Viel mehr Sorgen bereitete ihm, dass eines ihrer Zimmermädchen seit einigen Wochen verschwunden war. Das Einzige, was die Polizei von ihr hatte finden können, war ein ein paar Meter vom See entfernt liegender Schuh. Taucher hatten den trügerisch harmlos in der Sonne glitzernden See durchsucht und doch keine Leiche gefunden. Die Polizei hatte mit Hundestaffeln die umliegenden Weinberge, Lavendelfelder und Teile des Waldgebietes durchkämmt - erfolglos. Keine weiteren Hinweise, nichts. Und dennoch beharrte Alain stur und steif darauf, dass es für all das eine logische Erklärung geben musste, die entweder weitaus hässlicher als Dämonen und Geister war - oder geradezu banal. Wer weiß, vielleicht war die Arme einfach nur vor seiner tyrannischen Mutter geflüchtet. Und dabei hatte sie die Chance ergriffen, noch dazu vor ihrer eigenen, erzkonservativen Familie davonzulaufen, die wiederum wild entschlossen war, bei der ganzen Sache an ein Verbrechen zu glauben. Verübeln könnte er es ihr nicht. Seine werte Frau Mutter, Madame de Grailly, war der Meinung, dass neunzig Prozent der Menschheit weit unter ihr standen und sie hatte eine beinahe schon sadistische Freude daran, dies den Pöbel spüren zu lassen.

    Als hätten seine düsteren Gedanken den Teufel persönlich heraufbeschworen, rauschte sie auch schon in einer Wolke aus teurem Parfum und Haarspray heran. Alains Mutter drückte Rücken, Arme und Beine immer so gerade durch, dass es den Anschein erweckte, sie hätte einen Stock verschluckt. Oder auch mehrere. Im Gegensatz zu Alains wildem Lockenschopf, waren ihre Haare stets tadellos gebändigt und ihr Make-up war perfekt. Der junge Hotelerbe versuchte gar nicht erst, seinen durchzechten Zustand zu verbergen, als sie ihn kritisch von oben bis unten musterte.
    “Morgen!”, gähnte er und schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln, das Gäste üblicherweise von seinen Augenschatten und der vornehmen Leichenblässe, die sein Gesicht zierte, ablenkte. Bei seiner Mutter hatte dieser Trick leider noch nie funktioniert …
    “Alain!”, grüßte sie ihn frostig, während sie mit angewidertem Gesichtsausdruck an seinem blütenweißen Kragen herumfummelte.
    “Himmel, knöpf dir dein Hemd anständig zu, es muss doch nicht jeder deine … deine Eskapaden von letzter Nacht sehen. Kein Anstand, kein Benehmen!”, fauchte sie kopfschüttelnd.
    Alain öffnete demonstrativ noch einen weiteren Knopf, verdrehte genervt seine hellen, grau- grünen Augen und seufzte mit einer Stimme, die so kratzig war, dass man glauben könnte, er würde gerade die schlimmste Grippe ausbrüten:
    “Mutter … Keiner achtet auf meinen Hals, außer dir. Was willst du? Wie du siehst, gibt es bald einiges zu tun!” Er deutete vielsagend auf die Eingangshalle des alten Schlosses, in der sich eine kleine Menschentraube angesammelt hatte. Phantasten und Abenteurer, beschloss der junge Hotelerbe - aber immerhin keine stinkend reichen Damen, die ihm ihren bissigen Dämon, den sie ernsthaft als Hund bezeichneten, in den Arm drückten.

    “Ich will”, sagte Madame de Grailly, während sie brüskiert die spindeldürren Arme vor ihrer üppigen und ganz sicher nicht natürlichen Oberweite, verschränkte, “ … dass du dich tadellos benimmst und unserem Unternehmen keine Schande bereitest, hast du verstanden? Gott, allein wenn ich an die letzten Wochen denke. Die Polizei auf unserem Grundstück, es war ein Alptraum! Wir können von Glück reden, dass nach wie vor genug Touristen herkommen. Also … vermassel es nicht, Junge! Oh … und ich erwarte natürlich, dass du die Geistertour heute Abend leitest!”
    Mit einem letzten, naserümpfenden Blick auf seinen Hals und seine wüsten Locken wandte sie sich ab und stolzierte aus dem Raum. Alain zog eine Grimasse. Es war typisch für seine Mutter, dass sie sich zuerst um das Geschäft sorgte und ihr das vermisste Zimmermädchen im Grunde genommen ziemlich egal war. Ersatz fand man in der derzeitigen Wirtschaftslage ja ziemlich schnell.

    Er beschloss, sich von seiner miesepetrigen Erzeugerin den Tag nicht allzu sehr vermiesen zu lassen. Mit einem gewinnenden Lächeln im hübschen Gesicht strahlte er die kleine Menschentraube an, die sich neugierig die alten Ritterrüstungen oder die mittelalterlichen Wandteppiche ansah, die Szenen aus dem Alltag der ehemaligen Grafen zeigten. Irgendwann würde auch dieser Tag sich dem Ende neigen. Und dann würde Alain entweder in aller Ruhe die Porträts seiner Vorfahren im dritten Stock restaurieren oder in irgendeiner Kneipe eine Schönheit aufreißen, die ihm die Nacht etwas versüßte.

    Jolina

    Lavendelschloss

    RPG von Jolina und Jehanne / Grotesk, Horror, Suspense, schwarze Komödie, evtl. (schräge/düstere) Romanze/
    Ein gewagter Sprung ins Reich der Sagen, Mythen und Legenden!/ FSK 18, da sensible Themen wie Flüche, Religiosität, psychische und physische Gewalt, Mord, Klassismus, evtl. Rassismus und Sexismus

    Handlung: Willkommen im “château du lac sinistre”, einem der - angeblich - am schlimmsten verfluchten Gemäuer der Auvergne, das majestätisch zwischen Lavendelfeldern, Weinbergen, düsteren Seen und dichten Wäldern liegt! Seit dem Jahre 1660 befand es sich in der Hand diverser berühmt-berüchtiger Grafen. Hier wurden Bälle abgehalten, bombastische Feste gefeiert, Jagden veranstaltet, hatten liederliche Ehemänner ihre mehr oder minder geheimen Mätressen und Affären. Und - es wurden politische Intrigen gesponnen. Es wurden Anschläge und Morde geplant, sowie durchgeführt. Gift wurde in Weingläser gegossen, Treppen wurden zu Stolperfallen, ja, ganze Zimmer schienen zu Mordkammern zu werden und wer in den Lavendelfeldern und den umliegenden Wäldern verschwand, der wurde oft nie wieder gesehen. Mit der Zeit gab es gar Gerüchte über dämonische Aktivitäten in und um das Schloss herum. Manch einer will einen sogenannten schwarzen Hund als Todesomen im Wald herumspuken gesehen haben, andere glauben, dass in der ehemaligen Kemenate des Schlosses eine weiße Dame ihr Unwesen treibt. In seiner langen Geschichte verzeichnet das Schloss insgesamt 107 mysteriöse Todesfälle und 57 Unfälle ohne Todesfolge.


    Heute treffen Tradition und Moderne in dem Schloss-Hotel in einer eleganten Mischung aufeinander, die besonders die Betuchten des Landes in die dicken Wände des alten Gemäuers zieht. Aber auch Abenteurer und Phantasten mieten sich in den geschichtsträchtigen Zimmern ein, um sich ihre ganz persönliche Portion Grusel abzuholen.

    Inmitten dieser Kulisse befindet sich Alain de Grailly, seines Zeichens Hotelerbe, sowie Rebell ohne Sinn und manchmal auch ohne Verstand, der des Öfteren mit seinen Exzessen und Affären in der Skandalpresse landet. Er ist exzentrisch und kapriziös, trägt stets ein charmantes Grinsen im hübschen Gesicht und frönt einer gefährlichen devil may care-Attitüde. Sehr zum Missfallen seiner Eltern hat er eine Ausbildung zum Hotelmanager ausgeschlagen und wurde stattdessen Restaurator. Doch - weil nach und nach immer mehr Personal unter mysteriösen Umständen verschwindet, muss er im Sommer kurzfristig einspringen, was dem Lebemann mit seinem übertriebenen Freiheitsdrang gar nicht recht ist. Alain glaubt nicht an die Dämonen des Schlosses – die weiße Dame, den schwarzen Hund, kopflose Reiter, Nixen in Seen, die unschuldige Wanderer in die Tiefe ziehen und er wird auch nicht müde, dies mit einem verächtlichen Lächeln kundzutun.
    Doch mittlerweile … mittlerweile fürchtet er, dass manche Gäste nicht so harmlos sind, wie sie scheinen. Manchmal glaubt er, dass die Spukgeschichten jene Art Leute anlockt, die Lust darauf haben, ihre ganz eigene Spukgeschichte nicht nur zu erleben, sondern sie zu kreieren – und die nicht davor zurückschreckt, anderen für ein bisschen Nervenkitzel zu schaden …

    In Kirian Fèvre, einem mysteriösen Bibliothekar, der wohl seine eigenen Gründe hat, das Schloss aufzusuchen, findet Alain einen unerwarteten Verbündeten. Doch ob sie es schaffen werden, Licht ins Dunkel zu bringen oder ob sie am Ende selbst in einem Strudel an dämonischen Aktivitäten versinken, bleibt abzuwarten.

    Kirian Fèvre (Jolina)

    Aussehen: Bitte melde dich an, um diesen Link zu sehen.

    Name: Kirian fèvre (Spitzname: Kir)

    Alter: 23

    Geschlecht: männlich

    Geburtstag: 01.10.

    Berufliches: Kirian arbeitet in einer kleinen Stadtbibliothek als Bibliothekar. Er liebt Bücher und schreibt auch selbst gern. Sein größter Traum ist es, später ein erfolgreiches Buch zu veröffentlichen und ein echter Autor zu werden. Da das Geld jedoch manchmal Recht knapp wird, arbeitet er nebenbei in einem recht angesehenen Café. Dieses liegt in der selben Straße, wie die Bibliothek, in der er ebenfalls arbeitet. Zur Zeit nimmt er sich eine Auszeit von der Arbeit aus persönlichen Gründen, auch wenn ihn das gerade in Geldprobleme zieht.

    Vergangenheit: Kirian lebte schon immer mit seiner Schwester und seiner Mutter zusammen. Nie hatte er seinen Vater kennengelernt, doch seine Mutter tat alles, damit er ein wohlbehütetes Leben führen könnte. Doch eines Tages verschwand sie. Und er, ein erst 14 jähriger Junge, war gemeinsam mit seiner Schwester auf sich allein gestellt. Es war ein Mysterium. Die Polizei fand keine Anhaltspunkte. Seine große Schwester Blair kümmerte sich liebevoll um ihn. Sie tat was nötig war, um zu überleben. Doch es schien Kirian so, als wäre immer mehr dabei als nur der alltägliche Wahnsinn, vor dem sie ihn schützte. Mittlerweile weiß er auch, was sie damals belastete. Beide von ihnen hüten nun ein Geheimnis, welches nie an die Öffentlichkeit geraten darf.

    Mit 15, ein paar Monate nach dem Verschwinden seiner Mutter, brach Kirian die Schule ab und fing an zu arbeiten. Mehrere Minijobs hatte er gleichzeitig und trotzdem schien das Geld vorne und hinten nie zu reichen. Das Verschwinden seiner Mutter belastet ihn heute noch, doch er hat mittlerweile weitere Problemchen, mit denen er fertig werden muss. Zudem ist Kirian schwul und sein Outing stieß bei einigen Bekannten und damaligen Freunden auf großes Entsetzen. Seit einem sehr negativen Ereignis deshalb zog sich Kirian mehr zurück und trägt eine Narbe davon, die ihn wohl immer daran erinnern wird, dass er nicht hetero und somit nicht "normal" ist. Der einzige Anker, den er hatte, war damals seine Schwester. Sein Fels in der Brandung. Sein Rettungsboot auf hoher See. Sie stehen sich immernoch nah, keine Frage. Doch sie haben mittlerweile ein gemischtes Verhältnis. Eine Hass-Liebe sozusagen.

    Charakter: Kirian ist ein positiver Mensch. Er ist hilfsbereit, höflich und sparsam. Ja, sehr sparsam. Er gönnt sich sehr selten etwas aber ist auch nicht neidisch auf jene, die sich das erlauben können. Er liebt seine Arbeit in der Stadtbibliothek und legt nicht viel Wert auf Äußerlichkeiten. Trotzdem ist er von dem Reichtum mancher Menschen immer wieder erstaunt. Kirian ist sehr stur, aber auch rücksichtsvoll anderen gegenüber. Er ist anfänglich schüchtern und mysteriös doch ist, wenn man ihn näher kennt, eine echte Schnattertasche. Er hasst Gewalt, findet sie dumm und unnötig. Die Welt wäre doch viel besser ohne sie. Doch er wird schnell eifersüchtig und ist nachtragend. Er kann Fehler von anderen ihnen immer wieder vorhalten, vorallem wenn sie damit jemanden verletzt haben. Vergeben kann er echt nicht schnell. Seine Sexualität versteckt er meist.

    Interessen: Seine Interessen liegen ganz bei Büchern. Der Flucht aus der Realität. Und das komplett. Er ist wie in einer anderen Welt. Auch wenn er sich schon in seinem echten Leben so fühlt, als seie das alles nicht real. Kirian kann Klavier spielen. Er hat es damals mit seiner Mutter immer gemacht. Doch da es ein kostenspieliges Hobby war, hat er damit aufgehört. Bis heute findet er Klavier jedoch höchst interessant. Zudem ist er sehr tierlieb, Vorallem Katzen hat er besonders gern. Er glaubt sehr an Übernatürliches. Nein, Glauben ist untertrieben..Er weiß es. Aus deinen eigenen Erfahrungen heraus und er ist dabei, mehr über diese Welt zu lernen. Seine ganze Zeit verbringt er mit Recherchen und steckt seine Nase in jedes Buch, welches er dazu finden kann.

    Wünsche: Kirian wünscht sich nur ein normales Leben. Er will seine Dämonen loswerden, im wortwörtlichen Sinne, und am Liebsten neu anfangen. Doch er weiß, dass dies leider nicht funktioniert. Er wünscht sich außerdem jemanden, mit denen er sein Leben verbringen kann. Doch er schottet sich ab, niemand würde mit diesem Geheimnis klarkommen. Wie auch? Er tut es ja selbst nicht.

    Random Facts: Kirian isst sehr gern Schokolade und generell Süßkram. Er ist eine kleine Naschkatze. Außerdem schläft er recht wenig, weshalb er tagsüber oft müde und abwesend scheint. Vor ein paar Jahren fing er an zu rauchen und ist jetzt leider abhängig, auch wenn er sonst jegliche Drogen verabscheut. Selbst Alkohol trinkt er kaum und wenn dann nur in sehr sehr geringem Maße. Er möchte an Liebsten immer bei Sinnen sein, da er oft deinen eigenen Körper nicht unter Kontrolle hat und ihm sein Wille genommen wird. So fühlt es sich zumindest an. Außerdem trägt er eine Brille, ohne die er so gut wie blind durch die Gegend laufen würde. Er hat sich schon immer Ohrringe gewünscht, da er Schmuck liebt, doch war zu ängstlich um sich welche stechen zu lassen. Er kleidet dich unterschiedlich, je nachdem, was ihm gerade gefällt. Da ist er sehr offen. Doch hat er an seinem Hals eine kleine Narbe und an seinem Brustkorb eine breite, große Narbe. Er ist mit Technik sehr unerfahren und unbegabt, sozusagen eine "alte Seele". Er liebt Regen und Regengeräusche, die helfen ihm beim Einschlafen.

    Alain de Grailly (Jehanne)

    Name: Alain de Grailly

    Alter: 25 Jahre alt

    Geschlecht: männlich

    Geburtstdatum: 09. November

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    Berufliches: Eigentlich sollte Alain Hotelmanagement studieren, aber dagegen hat er sich mit Hilfe seines Großvaters väterlicherseits erfolgreich gesperrt. Stattdessen studierte er Chemie und Kunsthistorie und wurde Restaurator. In den Semesterferien half Alain aber stets in dem Hotel seiner Eltern aus, sehr zum Entsetzen seiner Mutter als einfache Bedienung. Und er restauriert und renoviert die Gemälde/ Möblierung des Schlosses – das wiederum finden seine Eltern ganz praktisch. Momentan hilft er wieder im Restaurant-Teil als Bedienung aus, da sie enormen Personalmangel (aufgrund mysteriöser Unfälle der Bediensteten) haben. Manch einer ist erstaunt, den eigentlichen Erben des Schlosses in Kellnerkluft zu sehen, manche finden es peinlich (für ihn und seine Familie), andere wiederum freuen sich darüber und denken sich: Endlich mal ein reicher Typ, der selber anpackt. Und wiederum andere sehen nur einen des Öfteren durchzecht aussehenden Typen, mit alten Piercingnarben und denken, dass das schon seine Richtigkeit hat.


    Vergangenheit: Alain wuchs gut betucht auf. Er besuchte renommierte Schulen, hatte nie Geldsorgen. Das Einzige, was ihm zu schaffen machte, war der grauenhafte Konservatismus seiner ebenso gut betuchten Klassenkameraden und die Ablehnung seiner Großeltern mütterlicherseits, da er nun mal von klein auf aus der Reihe tanzte. Sie verurteilten ihn für seine künstlerische Ader und waren der Meinung, dass er es nie zu etwas bringen würde. Der Junge sollte einen bodenständigen Beruf lernen, fertig! Und er sollte verflucht nochmal ein anständiges Mädchen nach Hause bringen.

    Und so war Alain selten glücklich. Er fand die Regeln, die ihm von zuhause aus auferlegt wurden, zu restriktiv, konnte mit dem Etepetete seiner Mitschüler nichts anfangen. Er wollte sein Leben leben und frei sein dürfen. Bald freundete er sich mit weniger betuchten Kids an, bekam Kontakt zum eher künstlerischen Milieu, rauchte, trank, trug punkige Kleidung, hörte entsprechende Musik und ja – rutschte in den Augen seiner Familie ab.

    Trotzdem war er immer fleißig und schloss nach dem lycée sein Studium erfolgreich ab. Gut, vielleicht hatte die emotionale und finanzielle Unterstützung seines Großvaters damit zu tun – und möglicherweise half es auch, dass er eine heftige Affäre mit seiner Dozentin anfing – aber er ist ein guter Restaurator, Ehrenwort.

    Mittlerweile ist er weniger offen rebellisch. Ein Ohrring und einige nun halb zugewachsene Piercings sind ihm aus dieser Phase geblieben und er trägt in seiner Freizeit bevorzugt schwarz – aber alles in allem kauft man ihm den netten Kellner oder Restaurator ab, wenn da nicht sein freches Mundwerk und sein verschmitztes Grinsen wäre.


    Charakter: Alain ist ein charmanter, sarkastischer Witzbold, der sich gerne auf Flirts einlässt und manchmal auch durchaus etwas distanzlos gegenüber Gästen ist – sofern er glaubt, dass das für diese okay ist. Er strahlt etwas freches, jungenhaftes, Sorgloses aus. Doch das ist zum Teil auch nur Fassade. Tief in sich drin hat er einen ganzen Haufen Probleme, angefangen damit jegliche Autorität anzuerkennen, über geheime Selbstzweifel, ob er wirklich gut genug ist, bis hin zu seinem eher hedonistischen Lifestyle. Es ist eben nicht leicht, ein exzentrischer Künstler zu sein, umgeben von lauter eher konservativ eingestellten Menschen …

    Sein Freiheitsdrang ist recht groß, doch momentan glaubt er, dass er sich noch zügeln muss. Seine Mutter und ihre Familie, nun, die könnte er eher enttäuschen. Aber seinen Vater oder Großvater? Da tut er sich schwer … würde er das Schloss wirklich verlassen, würde er ihnen das Herz brechen. Dass er außerhalb studierte, war für sie schon schwer genug. Also begnügt er sich damit, nachts Pubs aufzusuchen und manchmal durchzecht und verkatert, am nächsten Morgen wieder aufzutauchen. Er war das ein ums andere Mal als Skandalnudel in der französischen Klatschpresse (betrunken, wild mit seiner offensichtlich viel älteren und ärmeren Dozentin knutschend, mit Sidecut und bunten Haaren als Teenie), aber diese Artikel verschwanden dank der Macht seiner Mutter schnell.

    Alain ist das schwarze Schaf der altehrwürdigen Familie Grailly und er bekommt es auch zu spüren – kein Wunder also, dass er sich Bestätigung von außerhalb suchte und sucht.

    Er neigt etwas zur Treudummheit. Freunden, auch jenen, die vielleicht nur an dem Geld seiner Familie interessiert sind und ihn ausnutzen, hält er ewig lange die Stange. Bei Liebschaften ist es nicht anders. Obwohl Alain viel und leichtfertig flirtet und auch leicht zu haben ist, kapiert er das Prinzip One Night Stand oder Affäre nicht. Er kann es immer noch nicht fassen, dass seine Dozentin ihn abserviert hat und zu ihrem Mann zurückgegangen ist – für ihn war es total klar, dass sie daten, hallo?

    Der Gute ist ein bisschen aufbrausend, hat Temperament, streitet sich gerne, ist Diskussionen nicht abgeneigt. Wenn er eine Meinung hat, darf die gerne die gesamte Welt wissen, tzah! Im Schloss ist eh jeder so gediegen und anmutig und langweilig, alles lächelt ein feines, geheimnisvolles Mona Lisa-Lächeln, da wird er wohl aus der Art schlagen dürfen, oder?

    Interessen:

    • Politik: Alain fände es durchaus ok, wenn reiche Leute wie er mehr Steuern zahlen müssten. Seine Eltern finden die Idee natürlich total inakzeptabel.
    • Kunst: Klar, er restauriert alte Bilder und Möbel, aber er porträtiert auch und versucht sich an der ein oder anderen Skulptur
    • Reiten: Seine Familie hat Stallungen und er hat es als Kind gelernt. Die Gäste bekommen Stunden angeboten, da kann er sich ja bitte schön auch auf dem Pferderücken sehen lassen und die verbotenen Pfade rund um die Lavendelfelder abreiten.
    • Boxen: Eigentlich sollte er Fechten lernen, aber wenn er schon kämpfen soll, bitte, dann modern mit vollem Körpereinsatz. Manchmal hat er das Gefühl, dass seine Familie irgendwo im 18. Jhd. stecken geblieben ist …
    • Musik und Tanzen: Klassik, Punkrock, Pop, Filmscores … Alain gibt sich einfach gerne Klangwelten hin und bewegt sich dazu.
    • Übernatürliches: Oh, er glaubt nicht daran, nein! Aber Legenden und Mythen sind interessant, vor allem, weil sich so viele um das Schloss ranken.

    Random Facts:


    • Alains Kieferlinie ist etwas schief und er hatte einige restaurative Arbeiten an seinen Zähnen dank eines Reitunfalls als Vierzehnjähriger.
    • Alain träumt davon, das Schloss endgültig zu verlassen. Aber dazu braucht er – wie er findet – einen „partner in crime“.
    • Alain glaubt nicht an die Gruselgeschichten, die sich um das Schloss, die angrenzenden Felder und Wälder ranken. Deshalb besucht er die berühmt berüchtigten Orte gerne auf, um sich vielleicht doch noch anders belehren zu lassen. Käme es wirklich so weit, würde er vermutlich völlig ausflippen.
    • Alain hat ein sehr verhunztes, selbst gestochenes Tattoo über seinem rechten Hüftknochen aus Jugendtagen. Es sollte eine Motte zeigen, aber naja … vielleicht sollte er darüber nachdenken, es entfernen zu lassen oder sich etwas Anständiges darüber stechen zu lassen. Sein Rücken und sein linker Oberarm, beweisen schließlich, dass es auch anders geht!
    • Er riecht immer dezent nach Lavendel, da er sich gerne in den Feldern aufhält und seine Familie eben mit dem Lavendel in Form von Seifen, Duschgelen und Co. Geld verdient.
    • Alain hat das Rauchen vor Kurzem aufgegeben, weswegen man ihn oft kaugummikauend antrifft.

    Wünsche: Auf der einen Seite wünscht er sich von beiden Seiten seiner Familie Anerkennung und Liebe, will als der akzeptiert werden, der er ist. Und auf der anderen Seite, würde er einfach gerne nicht mehr der kleine Hundewelpe sein, der nach Anerkennung hechelt. Er hat im Moment sogar das Gefühl, dass noch nicht einmal sein Körper vollständig ihm gehört. Jeden Morgen muss er seine wilden, dunklen Locken bändigen, sich in ordentlich gebügelte Kleidung stecken, nein, das ist nicht er, nicht wirklich. Sobald er mit seinen Diensten fertig ist, sieht er dazu, dass er wieder zu seinem ramponierten, rockigen Ich zurückfindet.

    Er wartet auf eine Gelegenheit erneut auszubrechen, so wie er es mit vierzehn und mit zwanzig Jahren getan hat. Manchmal glaubt er, dass er etwas unreif, noch immer sehr kindlich ist – aber kann man ihm das wirklich verübeln?

    Obwohl das einst prächtige Schloss in Teilen noch immer gut erhalten war, bereiteten die steinernen Stufen Thure einiges an Mühe. Sie waren brüchig und fehlten stellenweise ganz. Zudem löste sich das weiche Moos, das die Treppen überwucherte, unter seinen Stiefeln und ließ ihn straucheln. Einmal mehr verfluchte er sein zu kurzes Bein. Warum nur, war er damit geboren worden? Was hatten seine Eltern, was hatte er je verbrochen, dass er so gestraft wurde?

    Basileus hatte diese Probleme nicht. Er sprang voraus und trotz seines abgemagerten Zustandes wohnte seinen Bewegungen eine wilde Eleganz inne.

    “Aber fürchten wir uns denn tatsächlich genug?”, fragte der Jäger, während er sich weiter voran quälte.

    “Wenn ich mir mein Dorf so ansehe, würde ich sagen ja und du und die übrigen Mahre hier müssten praktisch satt und fett gefressen sein. Doch … du hungerst”, stellte Thure sachlich fest. Kurz darauf verlor er mit den Armen rudernd das Gleichgewicht. Hektisch griff er nach Basileus kräftigem Nacken und stolperte in seine Flanke. Es dauerte etwas, bis Thure schwer atmend seine Glieder wieder sortiert hatte. Dankbar schenkte er dem Nachtmahr, der zu seiner Rettung geeilt war, ein schiefes Lächeln.

    “Doch du bist trotz deines desolaten Zustandes noch immer fähig, einen Krüppel davor zu bewahren, sich den Hals zu brechen. Ich danke dir!”

    Der Jäger wischte ein paar lose, blauschwarze Fellfetzen von Basileus Nacken, während er mit seiner Hilfe die restlichen Stufen erklomm. Die unbedarfte Frage des Nachtmahrs sorgte für einen spontanen Heiterkeitsanfall. Thure lachte ungläubig auf und rückte den Blumenkranz zurecht:

    “Was? Glaubst du nicht, dass ich meine Blumenkränze selbst flechten kann?”, begann er gespielt entrüstet, ehe er einlenkte: “Es gibt keine Frau, ich habe keine … keine Geliebte. Du liebe Güte, allein der Gedanke ist geradezu absurd.”

    Er schüttelte nachdrücklich den Kopf, während er sich weiterhin auf Basileus stützte, um den holprigen Boden unbeschadet passieren zu können.

    “Der Kranz ist von Elaine. Sie zählt sechs Sommer und sie ist ein Energiebündel mit tausend Fragen. Sie liebt die kleinen Zicklein, die im Sommer geboren werden und mag es, wenn ich ihr Holzfiguren schnitze. Elaine ist ein kluges Mädchen. Verständig und freundlich. Aber weil sie nur undeutlich sprechen kann, unterschätzt man sie oft.”

    Über Thures hartes Gesicht huschte ein sanftes Lächeln. Elaine war wirklich ein besonderes Kind, genau wie der kleine Ensi. Obwohl beide Probleme damit hatten, bei den anderen Kindern Anschluss zu finden, ließen sie sich nicht unterkriegen. Thure genoss ihre unvoreingenommene Gesellschaft - und die ihrer Familien.

    Er wandte sich Basileus zu und sah in seine dunklen Augenhöhlen: “Sie und ihre Eltern sind anständige Leute. Gütig, freundlich. Wirklich, wenn du sie kennen würdest, würdest du es dir vielleicht noch einmal überlegen, ob ich im Vergleich wirklich ein so guter Mensch bin, wie du glaubst.”

    Thure seufzte und strich gedankenverloren über die erstaunlich weiche Haut des Nachtmahrs, was Créon, der an seine Seite gesprungen war, mit einem missbilligenden Knurren quittierte. In seinem jetzigen Zustand wirkte der Mahr fast schon zerbrechlich, wenn auch nicht harmlos.

    “Es ist ein Jammer, dass auch sie unter dem Fluch zu leiden hat. Elaine hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Wie auch, sie ist noch ein Kind. Aber auch ihre Eltern sind keine … keine Sünder. Und dennoch flüstern die Ältesten ihnen Furcht und Scham ein!”, entrüstete sich der Jäger. Manchmal, so hatte Thure den Eindruck, verschwendete er zu viel Lebenszeit auf seinen unterschwellig immer köchelnden Zorn. Hier gab es einfach so ungeheuerlich viel Ungerechtigkeit …

    Als sie wieder weniger brüchigen Boden unter den Füßen hatten, ließ Thure Basileus’ Hals vorsichtig los und sah sich neugierig um. Sie hatten eine Eingangshalle erreicht, die einst einmal geradezu opulent gewesen sein musste. Ein aufwendiges Mosaik war in den marmornen Boden eingearbeitet worden. Es zeigte brutale Jagdszenen, in deren Mittelpunkt ein prächtiger, weißer Hirsch und eine ganze Meute Schweißhunde standen. Thure rümpfte seine schiefe Nase abfällig. Töten um einer Trophäe willen, nichts weiter, als die schändliche Vernichtung lebendiger, atmender Schönheit … so würde er selbst nie vorgehen. Ansprechender war dagegen das bunte, aufgrund des nur teilweise vorhandenen Daches, unvollständige Deckenfresko. Ausgelassen feiernde und tafelnde Menschen waren darauf abgebildet. Sie neigten sich einander zu, flüsterten und lachten miteinander. Vier der Menschen bildeten das Zentrum der Tafel. Sie hatten dunkles Haar und edle Gesichtszüge. Auf ihren Häuptern ruhten silberne und goldene, mit Blumenranken verzierte Kronen.

    “Glaubst du, das ist die Königsfamilie, die hier einst gelebt hat?”, flüsterte Thure ehrfürchtig. “Was mag ihnen wohl widerfahren sein? Warum endete ihre Linie und seit wann sind sie nicht mehr hier? Das sieht alles recht alt aus und gleichzeitig wirkt es so ... so modern!"

    Zusammen mit Basileus und Créon, der sich plötzlich sehr ruhig verhielt, passierte Thure die Eingangshalle. Eigentlich brauchte er den Nachtmahr nicht mehr als Stütze. Doch die alten Mauern flösten ihm einen Respekt ein, der ihm eigentlich fremd war. Also stützte er sich erneut auf den kräftigen Nacken seines Begleiters. Der Speisesaal war - zumindest in den Augen des Jägers - noch beeindruckender. Dicke, ausgeblichene Wandteppiche zierten die steinernen Wände. Die Sonne schien rot und warm durch die Buntglasfenster und tauchte eine Tafel - dieselbe, die sie auf dem Fresko gesehen hatten - in ein gespenstisch flackerndes Licht. Kostbare Teller, Trinkpokale und Besteck lagen kreuz und quer auf dem Tisch. In Karaffen sammelte sich schon lange eingetrockneter Wein und auf den silbernen Tabletts ragten die längst verblichenen Knochen von Truthähnen, Wachteln und Rehen empor. Die Szene könnte unheimlich, aber friedlich wirken, wären da nicht die umgeworfen Stühle, die Schwerter und Hellebarden, die auf dem staubigen Boden lagen, sowie die fleckig braun eingetrocknete Blutspur, die sich über den Boden zog.

    “Es muss einen Kampf gegeben haben … aber warum und mit wem? Was denkst du?”, hauchte Thure, in seiner Stimme eine Mischung aus Begeisterung und Furcht, aufgrund von so vielen Ungereimtheiten. Sein Forscherdrang war geweckt. Für ihn stand jetzt schon fest, dass er dieses Schloss weiter untersuchen musste. Das Schloss und seine geisterhaften, ehemaligen Bewohner. Créon war in der Eingangshalle zurückgeblieben. Doch der Jäger würde zu gerne noch mehr sehen und wissen.

    “Gehen wir weiter? Ich habe noch etwas Zeit. Wenn du … wenn du möchtest. Wenn es sich noch richtig anfühlt!”, wandte er sich an Basileus. Thure hatte nicht vergessen, dass der Mahr der Meinung war, die Ländereien aus irgendeinem Grund besser nicht zu betreten. Ächzend lehnte der Jäger sich gegen eine raue Wand. Auch, wenn er weitergehen wollte - sein Bein machte ihm heute mehr zu schaffen. Vielleicht lag es an der plötzlichen Hitze.

    Lavendelschloss (Play offen)

    RPG (2er oder Gruppe, beides möglich)/ Grotesk, Horror, Suspense, schwarze Komödie, evtl. (schräge/düstere) Romanze/
    Ein gewagter Sprung ins Reich der Sagen, Mythen und Legenden!/ FSK 18, da sensible Themen wie Flüche, Religiosität, psychische und physische Gewalt, Mord, Klassismus, evtl. Rassismus und Sexismus

    Handlung: Willkommen im “château du lac sinistre”, einem der - angeblich - am schlimmsten verfluchten Gemäuer der Auvergne, das majestätisch zwischen Lavendelfeldern, Weinbergen, düsteren Seen und dichten Wäldern liegt! Seit dem Jahre 1660 befand es sich in der Hand diverser berühmt-berüchtiger Grafen. Hier wurden Bälle abgehalten, bombastische Feste gefeiert, Jagden veranstaltet, hatten liederliche Ehemänner ihre mehr oder minder geheimen Mätressen und Affären. Und - es wurden politische Intrigen gesponnen. Es wurden Anschläge und Morde geplant, sowie durchgeführt. Gift wurde in Weingläser gegossen, Treppen wurden zu Stolperfallen, ja, ganze Zimmer schienen zu Mordkammern zu werden und wer in den Lavendelfeldern und den umliegenden Wäldern verschwand, der wurde oft nie wieder gesehen. Mit der Zeit gab es gar Gerüchte über dämonische Aktivitäten in und um das Schloss herum. Manch einer will einen sogenannten schwarzen Hund als Todesomen im Wald herumspuken gesehen haben, andere glauben, dass in der ehemaligen Kemenate des Schlosses eine weiße Dame ihr Unwesen treibt. In seiner langen Geschichte verzeichnet das Schloss insgesamt 107 mysteriöse Todesfälle und 57 Unfälle ohne Todesfolge.

    Heute treffen Tradition und Moderne in dem Schloss-Hotel in einer eleganten Mischung aufeinander, die besonders die Betuchten des Landes in die dicken Wände des alten Gemäuers zieht. Aber auch Abenteurer und Phantasten mieten sich in den geschichtsträchtigen Zimmern ein, um sich ihre ganz persönliche Portion Grusel abzuholen.

    Inmitten dieser Kulisse befindet sich Alain de Grailly, seines Zeichens Hotelerbe, sowie Rebell ohne Sinn und manchmal auch ohne Verstand, der des Öfteren mit seinen Exzessen und Affären in der Skandalpresse landet. Er ist exzentrisch und kapriziös, trägt stets ein charmantes Grinsen im hübschen Gesicht und frönt einer gefährlichen devil may care-Attitüde. Sehr zum Missfallen seiner Eltern hat er eine Ausbildung zum Hotelmanager ausgeschlagen und wurde stattdessen Restaurator. Doch - weil nach und nach immer mehr Personal unter mysteriösen Umständen verschwindet, muss er im Sommer kurzfristig einspringen, was dem Lebemann mit seinem übertriebenen Freiheitsdrang gar nicht recht ist. Alain glaubt nicht an die Dämonen des Schlosses – die weiße Dame, den schwarzen Hund, kopflose Reiter, Nixen in Seen, die unschuldige Wanderer in die Tiefe ziehen und er wird auch nicht müde, dies mit einem verächtlichen Lächeln kundzutun.
    Doch mittlerweile … mittlerweile fürchtet er, dass manche Gäste nicht so harmlos sind, wie sie scheinen. Manchmal glaubt er, dass die Spukgeschichten jene Art Leute anlockt, die Lust darauf haben, ihre ganz eigene Spukgeschichte nicht nur zu erleben, sondern sie zu kreieren – und die nicht davor zurückschreckt, anderen für ein bisschen Nervenkitzel zu schaden …


    Ich suche: Jemanden (m/w/d), der mit Alain erforscht, warum Angestellte und im weiteren Verlauf der Geschichte auch Gäste verschwinden oder tot aufgefunden werden. Dieser Jemand kann einer der betuchten Gäste sein, ein Abenteurer oder vielleicht auch ein gefährlicher Wahnsinniger. Er sollte Interesse an den Geschichten des Schlosses haben. Ob er daran glaubt oder nicht, ist dir überlassen. Ein ängstlicher Priester oder ein fanatischer Exorzist, der versucht, dahinter zu kommen, wäre auch interessant!
    Es können auch mehrere Leute versuchen, hinter die Geheimnisse des Schlosses zu kommen.

    Generell wäre es gut, wenn wir NPC’s übernehmen würden (Personal des Hotels, Gäste, Reisegruppen).

    Spielmöglichkeiten: Prinzipiell ist hier so gut wie jedes Szenario möglich. Das Verschwinden der Menschen und die Morde können ganz banal sein - oder dein Charakter und Alain stoßen mit ihrer Neugier und ihren Nachforschungen tatsächlich das Tor zur Hölle auf und geraten in einen Strudel aus dämonischer Aktivität. Vielleicht kommen sie mit ihren schlimmsten Ängsten, tiefsten Sehnsüchten und lasterhaftesten Sünden in Berührung, während um sie herum das Schloss vor dem Abgrund steht.

    Interesse? Dann schreibe mich gerne an!

    Thure lauschte wie gebannt der verzerrten Stimme des Nachtmahrs. Was er ihm über die Nachtmahre und den Wald beschrieb, war geradezu abscheulich furchteinflößend und dennoch übte es eine morbide Faszination auf ihn aus. Seine Worte sorgten dafür, dass sich die Nackenhaare des Jägers aufstellten und ihn ein eiskalter Schauer überlief. Dass die Mahre sich von der Furcht der Menschen ernährten, war fast schon poetisch. Denn vermutlich hatte Basileus Recht: Das Dorf summte praktisch vor Verbrechen, Boshaftigkeit und Sünde - Thure selbst wusste, dass auch er nichts weiter als ein elender Sünder war, das hatten ihm die Priester oft genug gesagt. Doch niemand wollte je über diese Wahrheiten sprechen. Nach außen hin versuchte man den schönen Schein zu wahren, während die Dorfältesten immer mal wieder nach einem Opfer suchten, dem sie die Schuld für die Misere geben konnten. Und das … erzeugte Angst. Eine ständige Angst, die sich eines jeden Bewohners bemächtigte und die Thure nur zu oft bis in seine Knochen fühlte. Und die diesen Alptraum am Leben und sie alle darin gefangen hielt …

    “Also überlebt und gedeiht ihr, weil wir Menschen …” Thure leckte sich über seine plötzlich sehr trockenen Lippen und flüsterte: “... weil wir der Sünde nicht widerstehen können, was wiederum Angst gebiert. Weil wir habgierig, neidisch, mörderisch und lüstern sind. Demnach müsste es viele verfluchte Wälder geben, die vor Nachtmahren nur so wimmeln. Oder aber mein Dorf verbirgt ein derart schreckliches Geheimnis, das es noch um ein Vielfaches lasterhafter und deshalb so anfällig für diesen Fluch macht …”

    Der Jäger seufzte schwer, stützte die Ellenbogen auf die Knie und sah Basileus ohne Furcht in die schwarzen, erloschenen Augenhöhlen.
    “Du hast mir gesagt, dass ihr keine Dämonen seid, aber ich verstehe nun, warum die Priester euch als solche ansehen. Sie warnen uns vor Neid und Missgunst, vor Völlerei. Natürlich hindert sie das nicht daran, sich selbst solchen Lastern hinzugeben …”
    Thure lachte bitter auf: “Jedenfalls sagen sie uns, dass wir euch durch unsere Sünden herbeirufen. Dass wir euch damit Macht verleihen. Und auf gewisse Weise ist es wahr, oder? Wir sündigen, wir fallen, wir fürchten uns halb zu Tode - und ihr erstarkt! Es ist unsere Schwäche und das seit Jahrhunderten. Meine Güte … kannst du dir vorstellen, wie alt dieser Fluch ist? Wie alt du vielleicht bist, was du alles schon gesehen und erlebt hast? ”

    Der Jäger dehnte sein verkürztes Bein und schnaubte aufgrund von Basileus’ Amüsement. Es mutete schon ein wenig grotesk an, wie seine Stimme plötzlich weniger verzerrt klang, obwohl er immer noch eindeutig ein Nachtmahr war.
    “Nun, ich könnte dir ein paar Eindrücke von außen liefern. Ich habe gehört, dass das ganz erhellend sein soll. Und überhaupt, woher willst du wissen, dass ich nicht auch ein Monster bin?”, fragte er den Mahr halb scherzend und halb ernst. Manchmal begann Thure nämlich seinen Dorfältesten zu glauben. Manchmal gewann er den Eindruck, dass wirklich irgendetwas ganz und gar nicht mit ihm nicht stimmte. Sei es, weil er nun einmal ein Krüppel war, sei es, weil er zu viele Fragen stellte, anstatt einfach zu folgen, oder weil er lieber dem Bäcker sehnsüchtig nachsah als der hübschen Schafhirtin. Und derart aus der Reihe zu tanzen war für die Ältesten und auch für viele Bewohner tatsächlich monströs …

    “Oh! Oh nein, ich meinte nicht, dass dich ein Edelmann oder gar ein König verflucht hat. Aber … man wird in so einem kleinen Dorf schnell wichtiger, als einem lieb ist, glaub’ mir! Es ist so leicht, Fehler zu begehen, die woanders gar keine wären und um Macht zu haben, muss man nicht erst ein König sein. Hier genügt es, alt und senil zu sein oder blind Regeln zu befolgen …”, brummte Thure resigniert, aber auch etwas bissig. Er sah Basileus dabei zu, wie er aufstand und sich unkoordiniert schüttelte, eher er an dem kleinen Buch, das in Thures Schoß lag, schnupperte. So, wie er sich gerade verhielt, hatte er erstaunlich viel Ähnlichkeit mit seinen beiden großen Hunden, die der Jäger gerne kraulte und tätschelte. Automatisch streckte er eine Hand aus, um ihm dieselbe Behandlung zukommen zu lassen - bis er sich widerwillig daran erinnerte, wen er hier vor sich hatte und sich über seine Leichtsinnigkeit erschrak. War er wirklich so gottverlassen und einsam, dass ihm der Herr der Nachtmahre näher war als die Menschen seines Dorfes? Nein, kein Nachtmahr … Basileus. Basileus, der einst einen anderen Namen hatte und genauso ein Mensch gewesen war, wie er selbst. Der nicht mehr wusste, wie er zu dem geworden war, was er jetzt ist und dem er helfen wollte, das Rätsel zu lösen - um letztendlich das Dorf und auch sich selbst zu befreien. Ohne, dass es nötig werden würde, Blut zu vergießen.

    Thure blätterte unbeirrt weiter in dem Buch, deutete auf eine vor Schmutz und fremden Fingerabdrücken starrende Seite und las weiter: “Ei … Eisen vermag die Bestie zu töten. Doch es ist unerlässlich, den … vollständig …”
    Der Jäger seufzte und gab auf - fürs Erste. Die Seiten waren schmutzig und abgegriffen und er tat sich mit dem Lesen schwerer, als er geglaubt hatte.
    “Ich kann die Worte ab hier nicht mehr entziffern. Eigentlich hatte ich angenommen, dass der Kopf eines Mahrs mit einer eisernen Klinge vollständig abgetrennt werden muss, damit er stirbt. Aber die kleinen Nachtmahre, die wir in unseren eisernen Netzen fangen - sie sterben auch so … Vielleicht ist … wäre es nur … bei dir notwendig. Doch es kann - es sollte - nicht so einfach sein, nicht wahr?”, flüsterte der Jäger leise und senkte betreten den Kopf. Er blickte erneut in die dunklen, ominösen Augenhöhlen, deren sengendes Feuer heute erloschen war.

    “Ich bedaure es, dass ich nichts Besseres gefunden haben, Basileus. Der alte Adalbert hütet jene Bücher, die er nicht in der Bibliothek wissen will. Also habe ich mich während seiner Abwesenheit bei ihm zuhause … etwas umgesehen und ein paar Einbände ausgetauscht. Er ist fast blind und sollte so schnell nichts merken - zumal alle mit den Feierlichkeiten beschäftigt sind …”, gab Thure mit einem Blick zu, der irgendwo zwischen Reumut und rechtschaffener Rebellion schwankte.
    “Ich werde weitersuchen. Nach einem Hinweis und auch nach dir. Nur nicht morgen.”
    Er drehte sich nach den von dunklem Moos und Efeu bewachsenen Ruinen um, gab Créon, der neben ihm döste, aber immer noch die Ohren aufgestellt hatte, einen leichten Klaps.
    “Kennst du die Ruinen? Hast du dich schon darin einmal umgesehen?”, fragte er den Nachtmahr mit neugierigem Blick. Bald würde die Dunkelheit hereinbrechen. Und bevor Thure sich auf das Fest quälte, wollte er seine Zeit wenigstens noch etwas sinnvoll nutzen.

    Die eisige Luft stach Samuel in die ohnehin schon gereizten und geröteten Augen, als er sich mit Puk und Figaro auf den Weg zu seiner spartanisch eingerichteten Behausung machte. Das Knirschen des Schnees unter seinen müden, ungewöhnlich schwerfälligen Schritten schaffte es fast, sämtliche anderen Geräusche der Stadt auszublenden. Sam speiste jeden, der ihm begegnete und mit ihm sprechen wollte, mit einem kurzen, rüden Nicken ab und verlor auch beim Anmelden seines neuen Claims nicht viele Worte. Der junge Musher bildete sich für sein Leben gerne ein, dass er über unerschöpfliche Energiereserven verfügte, doch besonders heute bewiesen ihm seine schmerzenden Glieder und seine wunde Haut wieder einmal das Gegenteil.

    Als er endlich an seinem Haus ankam, fühlte er die bleierne Müdigkeit, die sich seiner bemächtigte, umso deutlicher. Mühsam stieß er die hölzerne Tür auf und pfiff seine Hunde herbei. Auch, wenn er ihnen die Zeit auf seinem weitläufigen Grundstück gönnte, so wollte er die Vierbeiner jetzt in seiner Nähe haben. Zum einen, weil Thomkins nicht ganz Unrecht mit seinen Behauptungen hatte - Sam sah sich tatsächlich als Teil des Rudels. Und zum anderen, weil die Vierbeiner eine wohlige Wärme verströmten. Sam drückte schmerzerfüllt aufstöhnend seinen schmalen Rücken durch und entledigte sich dann seiner Kaninchenfellhandschuhe, sowie seiner Stiefel. Er streifte Robbenfelljacke und Hose ab und hängte sie neben seinem gusseisernen Zimmerofen, den er soeben angefacht hatte, zum Trocknen auf, während Puk seine Stiefel neben das schmale, eigentlich zu kleine Bett stellte. Der ängstliche Hermes wuselte ihm glücklich fiepend um die Beine und schlug ihm seinen verstümmelten Schwanz gegen ein knubbeliges Knie.
    “Gute Hunde!”, murmelte Samuel sanft und kraulte jedem der Vierbeiner kurz den massigen Kopf. Dann schlüpfte er aus seinem dicken, aber einfachen, wollweißen Leinenhemd und seiner braunen, etwas abgetragenen Hose, die er unter dem Robbenfell trug. Samuel zog sich seine Waschschüssel heran und unterzog sich einer schnellen, aber gründlichen Katzenwäsche, die ebenfalls seine Haare mit einbezog. Sie wirkte belebend auf seinen müden Geist, aber dennoch würde er heute sein Häuschen nicht mehr verlassen. Er musste sich auch körperlich regenerieren, um Mrs. Jenkins morgen gut unterrichten zu können. Der Pragmatiker in ihm hielt es für sinnvoll, sie zuerst im Mushen, dem Legen von Fallen und der Pflege seiner Hunde zu unterweisen. Sein innerer Zyniker war der Meinung, dass das sichere Bedienen einer Flinte oberste Priorität haben sollte - man wusste ja schließlich nie, welchen Bestien man in der Wildnis begegnete …

    Samuel seufzte, als er in den fast blinden, kleinen Spiegel sah und beschloss, den aussichtslos erscheinenden Kampf gegen seine trockene, wunde Haut fortzuführen, indem er sich eine fettige Creme um die Augen und auf die Hände schmierte. Nachdem er seine Hände gereinigt hatte, öffnete er seinen schiefen Kleiderschrank und griff sich ein neues Hemd und eine neue Hose.
    Mittlerweile fühlte er sich fast wieder menschlich. Satt, sauber und trocken. Sam griff nach einer seiner Öllampen und sinnierte darüber nach, ob er sich noch kurz an seinen hölzernen Schreibtisch setzen und einen Brief an seine Schwester Judith schreiben sollte. Doch er entschied, dass er dafür noch Zeit hatte. Sie hatte ihm erst geantwortet und ihm stolz berichtet, dass sie in einer Wollspinnerei Arbeit gefunden hatte und dort mittlerweile zu den fleißigsten Arbeiterinnen gehörte, was Sam mit Stolz und einer gewissen Genugtuung erfüllte. Judith war dabei von ihrem tyrannischen Vater unabhängig zu werden, genau wie er.
    Der Musher warf seinem schmalen Bett einen kurzen Blick zu, rümpfte die Nase und machte es sich schließlich auf dem dicken Teppich auf Karibufellen bequem, der in der Mitte des kleinen, aber sauberen Raumes lag. Seine Hunde gesellten sich um ihn herum, als er nach einer abgegriffenen Ausgabe von Shakespeares “Sommernachtstraum” griff. Es dauerte nicht lange, da zog ihn Morpheus auch schon in sein Reich. Sam schlief so reglos wie ein Toter, seine Atemzüge tief und gleichmäßig, nur von einem gelegentlichen Husten unterbrochen, der ihn zu dieser Jahreszeit oft quälte. Amarok hatte sich als Stütze unter seinen Kopf gelegt, während der weiße, stets freundliche Zephyr seinen Kopf auf seiner Brust abgelegt hatte und seine beiden Hündinnen, Vila und Eos, es sich an seiner Seite bequem gemacht hatten. Geri, der immer Hunger hatte, suchte in seinen Manteltaschen nach Futter, während Figaro sich etwas abseits der ganzen Meute zum Schlafen legte und Hermes sich wärmend zu seinen, in dicke Wollsocken gepackten Füßen, niederließ. Puk jedoch positionierte sich in der Nähe der Fenster und spähte in die Dunkelheit, die sich mit dem Ende des Tages über Dawson City herabsenkte.

    *

    Am nächsten Morgen stand Samuel in aller Herrgottsfrühe auf. Nachdem er seine Hunde gefüttert hatte, genehmigte er sich ein karges Frühstück, bestehend aus Brot und Hartkäse, das er mit etwas Wasser herunterspülte. Und dann wurde es auch schon Zeit, seine treuen Vierbeiner anzuschirren. Eigentlich hatte er gehofft, dies in aller Ruhe vor seiner Haustür tun zu können, da sein Haus etwas außerhalb der Stadt lag - doch das Glück war ihm natürlich nicht hold. Mrs. Williams, die Frau des Bürgermeisters, trippelte in einen eleganten Pelzmantel gehüllt, die verschneite Straße entlang. Die ältere Dame hatte die Angewohnheit, ihre Nase stets in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken und liebte es, über das Leben anderer zu urteilen. Für sie mussten all jene, die nicht ihrem engstirnigen Weltbild entsprachen, gemaßregelt und zurechtgebogen werden. So auch Samuel.
    “Ah, Mr. Corning!”, grüßte sie ihn auch sogleich, als sie sich mit ihm auf Augenhöhe befand. Naserümpfend warf sie einen verurteilenden Blick auf Puk, der sich in seinem Geschirr verheddert hatte und dabei offenbar den größten Spaß seines Lebens empfand.
    “Wie ich sehe, brechen Sie schon wieder auf? Alleine?”, fragte sie, während sie ihn aus großen, blauen Augen ansah, die Unschuld heuchelten, wo keine war. Samuel beschloss, sie zu ignorieren, solange es ging und befreite Puk aus seiner Misere.
    “Wissen Sie, ein Mann Ihres Alters sollte nicht so viel allein sein, noch dazu da draußen in der Wildnis!”
    Sie lachte künstlich auf und fuhr in ihrer Maßregelung fort: “Warum lassen Sie sich nicht endlich nieder und suchen sich ein nettes, häusliches Mädchen? Sie haben so viel Gold gefunden, Sie könnten ohne Probleme heiraten und eine Familie haben! Gönnen Sie sich doch mal eine Pause.”
    Samuel verdrehte die Augen. Dieses Thema schon wieder … Er schwang sich auf seinen Schlitten und warf Mrs. Williams einen boshaften Blick zu, der dem von Puk in nichts nachstand. Der junge Goldsucher wusste genau, dass sie und ihr Mann ihm am liebsten sämtliches Gold abknöpfen wollten, damit sie ihr luxuriöses Leben noch ausschweifender gestalten konnten. Es passte ihnen nicht, dass er lieber in Schulen und Krankenhäuser für jene investierte, die sich ohnehin kaum die Kleidung leisten konnten, die sie am Leibe trugen. Und der einfachste Weg, um ihn gefügig zu machen, schienen in ihren Augen die Fesseln einer Ehe zu sein. Samuel wurde allein bei dem Gedanken daran schon unbehaglich.

    “Mrs. Williams”, nuschelte er undeutlich, während er sich den Schal über Mund und Nase wickelte und die Kapuze um seinen Kopf herum festzurrte.
    “Warum wollen Sie ausgerechnet mich einem zarten, jungen Ding zumuten? Ich hätte Sie für umsichtiger gehalten, was ihre Sorge um die holde Weiblichkeit dieser Stadt anbelangt - insbesondere, da sie selbst zwei Töchter haben.”
    Bevor Mrs. Williams ihren Mund empört aufklappen konnte, brauste er mit seinem Schlitten davon. Seine eigentlich ganz gute Laune war verflogen. Während des Frühstücks hatte er sich sogar darauf gefreut, Mrs. Jenkins zu treffen und ihr das Schießen beizubringen. Doch dass jeder hier seine Meinung zu ihm und der Art und Weise, wie er sein Leben gestaltete, entweder hinter seinem Rücken oder dreist direkt kundtun musste, setzte ihm, entgegen der landläufigen Meinung, zu. Mit finsterem Blick fuhr er auf schnellstem Wege zum Red Tree Hotel. Schnee stob um ihn herum auf und verlieh sowohl seinen Hunden, als auch ihm einen wilden, majestätisch-frostigen Glanz, als er vor dem Hotel ankam und das Gespann durch ein langgezogenes “Whoaah!” zum Stehen brachte. Amarok und Zephyr kamen seinem Befehl sofort nach. Gut gefüttert und kräftig hielten sie knapp vor Mrs. Jenkins an, die - sehr zu Samuels Missfallen - von den Töchtern des Bürgermeisters umringt war. Die brünette Mary rümpfte bei seinem Anblick die Nase noch mehr. Anscheinend war sie von Mrs. Jenkins schon nicht angetan, doch seine Anwesenheit schien sie noch weiter zu irritieren. Sam verstand wahrlich nicht, wie die Bewohner Dawson Citys Puk noch für einen Dämon halten konnten, sobald sie die ältere der Bürgermeister-Töchter kennengelernt hatten …
    “Miss und Miss Williams … Mrs. Jenkins …”, grüßte er frostig, als er von dem Schlitten abstieg und sich den Schnee von der Kleidung klopfte. Wenigstens hatte die Salbe seine Hautbeschwerden über Nacht etwas gelindert …

    “Guten Morgen, Mr. Corning!”, grüßte ihn Rachel mit einem strahlenden Lächeln und einem formvollendeten Knicks, während ihre Schwester sich demonstrativ ihren teuren Muff vor die Nase hielt und hüstelte, so als würde er übel riechen.
    “Ich habe mich gerade ein wenig mit Mrs. Jenkins hier unterhalten. Wissen Sie, sie kam mir ein bisschen verloren vor, wie sie hier vor dem Hotel stand und da dachte ich mir … vielleicht tut ihr Gesellschaft ja gut!”
    Die jüngere Tochter des Bürgermeisters steckte sich eine erdbeerblonde Locke, die aus ihrem eleganten, weißen Fellmützchen entwischt war, hinter die Ohren und drehte sich nach Mrs. Jenkins um.
    “Werden Sie mit ihm auf Goldsuche gehen? Dann brauchen Sie bessere Handschuhe, Ihre sind etwas löchrig. Ich könnte Ihnen meine …”. setzte sie ihren fröhlich-enthusiastischen Wortschwall fort, nur um mahnend von ihrer Schwester unterbrochen zu werden.
    Rachel …”
    “Ich bin sicher, dass Mrs. Jenkins ihre Kleidung sorgfältig ausgewählt hat. Und jetzt entschuldigt uns, die Damen …”, meldete sich Samuel diplomatisch, aber knapp zu Wort, während er in Richtung seines Schlittens gestikulierte. Es wäre wohl besser, wenn Mrs. Jenkins aufstieg und sie mit ihrem Training beginnen konnten. Samuel hatte für seinen Geschmack heute bereits zu viele Mitglieder der Bürgermeisterfamilie getroffen. Und er war nicht darauf erpicht, zusätzlich auch noch dem Anstandswauwau der jungen Damen über den Weg zu laufen, dem sie bestimmt entwischt waren.

    Wäre er weniger von Trotz, Stolz und einem allgemeinen Misstrauen gegenüber Menschen beseelt, er würde wohl versuchen, sich mit dem Bürgermeister und seiner Familie gut zu stellen. Doch Mary ließ jeden spüren, dass sie glaubte, er stünde weit, weit unter ihr. Und Rachel … Rachel passte einfach nicht ins Bild. Manchmal tat sie ihm sogar ein bisschen leid, wenn sie in ihren hübschen Kleidern durch die Stadt flanierte, aber dank ihres hilfsbereiten und naiven Charakter weder in der Oberschicht, noch bei den Arbeitern Anschluss fand. Vielleicht lag es auch an ihrer zarten Konstitution und ihrer schwachen Gesundheit, wer wusste das schon.

    “Kommen Sie”, sagte er leise zu Mrs. Jenkins. “Ich denke, Sie können Ihre … Unterhaltung an einem anderen Tage fortführen.” Insgeheim nahm er an, dass ihr seine Unterbrechung Recht kam.
    “Stellen Sie sich vor mich und halten Sie sich an der Stange vor sich fest!” Samuel wies auf die Handlebar. Die Hunde würde er Mrs. Jenkins später vorstellen. Jetzt war ihm erst einmal daran gelegen, zu seinem Grundstück zu gelangen und damit außer Reichweite neugieriger Augen und Ohren.
    “Viel Erfolg!”, rief ihnen Rachel zu, während sie sich ihre ovale, silbern glänzende Brille zurechtrückte. Sam quittierte dies mit einem knappen Kopfnicken, ehe er selbst auf den Schlitten stieg und seinem Gespann das Kommando zum Laufen gab.

    Basileus mahnende Worte fachten die trotzige Rebellion, die Thure seit Kindertagen in seinem Herzen trug, wieder an. Wie oft hatte er dieselben Worte aus Gismelas Mund gehört, wie oft hatten die Gelehrten und sogenannten weisen Männer des Dorfes ihnen eingeschärft, dass es unter schweren Strafen verboten war, zur Sommersonnenwende den Wald zu betreten? Und das, obwohl dies ihre einzige Chance sein würde, das verfluchte Dorf ein für allemal zu verlassen?
    Thure ahnte schon lange, dass die Verbote der Dorfältesten vollkommen eigennützig waren und nicht dem Schutz der Bevölkerung dienten. Sie wollten lediglich verhindern, dass sich die Menschen aus ihrem Einflussbereich entfernten und das Dorf somit langsam ausstarb. Doch warum dies so war - das hatte sich Thure in all den Jahren noch immer nicht erschlossen. Warum wäre es so schrecklich, wenn sie alle die Durchquerung des Waldes während der Sommersonnenwende wagen würden, um irgendwo anders einen Neuanfang haben zu können? Fernab von Angst, Trauer und Leid. Niemand in diesem Dorf lebte tatsächlich. Sie existierten nur noch. Bleiche, bei jedem Geräusch zusammenzuckende Schatten, die mit gesenktem Kopf und auf leisen Sohlen durch die Gassen huschten und sich noch nicht einmal im Schutz ihrer Häuser sicher fühlten. Auch die Ältesten waren nicht glücklich, davon war Thure überzeugt. Vielleicht hatte der Hunger nach Macht, nach Kontrolle sie letztendlich so sehr korrumpiert, dass ihr einziges Lebensziel nun darin bestand, die übrigen Dorfbewohner zu unterjochen. Ja, vielleicht konnten sie sich ein anderes, ein schöneres Leben gar nicht mehr vorstellen …

    Während der Jäger vor sich hinbrütete, vergaß er allmählich seine anfängliche Wut aufgrund Basileus’ Bitte. Der Nachtmahr war ihm - so paradox dies auch klingen mochte - freundlicher gesinnt, als die Dorfältesten. Er bat ihn vermutlich nicht um dieses Versprechen, um ihn beherrschen zu können, sondern weil ihm an seiner Sicherheit gelegen war. Weil er irgendetwas wusste, wovon Thure keinen leisen Schimmer hatte …
    Thure stützte seinen Kopf in die großen, von Schwielen und Narben übersäten Hände und atmete tief ein und wieder aus. Er bedachte Basileus, der heute um so vieles menschlicher, fast schon verletzlich wirkte mit einem nachdenklichen Blick aus seinen stets von Melancholie heimgesuchten Augen und sagte leise: “Ich weiß aber auch, dass die Sommersonnenwende der einzige Zeitpunkt ist, an dem es möglich wäre, den Wald zu durchqueren und ich verstehe nicht, warum unsere Ältesten so vehement dagegen sind. Warum es nicht …”, begann er seine übliche Tirade, die auch Gismela und Ragund bereits zu hören bekommen hatten, doch dann hielt er inne. Er senkte den Kopf, seufzte tief und kraulte Créon, der den Nachtmahr noch immer wachsam beäugte, gedankenverloren den mächtigen Kopf.

    “Ja, ich weiß, dass diese Zeit einen besonderen Einfluss auf die Nachtmahre hat und somit auch auf dich. Doch du bist … du bist menschlicher, als du glaubst und dann bist du es auch wieder nicht!”

    Thure schob Créons Kopf, der leise protestierend fiepte, sanft von seinem Schoß und wandte sich dem Nachtmahr vollständig zu. Sein Kopf schmerzte und brummte, als er es sich erlaubte, die Ketten, die er täglich um seinen Verstand winden musste, um nicht ständig von den Dorfbewohnern geschnitten zu werden, etwas zu lockern. Basileus würde ihn für seine Gedanken vielleicht auslachen oder beißen - aber er würde ihm sonst nichts antun, davon war der Jäger überzeugt.
    Menschlich sein, bedeutet nicht nur, zu großer Güte, guten Taten, zum Schaffen von Kultur, Kunst und Musik fähig zu sein. Ein Mensch zu sein heißt nicht, dass man stets liebevoll ist und nur das Beste will. Ich bin mir sicher, dass ich Menschen kenne, die im Vergleich zu dir ein Monster sind, an dessen Grausamkeit du nicht nur im Entferntesten heranreichen könntest, Basileus!”, begann er seine kleine Rede, während der er, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, mit den Armen gestikulierte.
    “Ich habe gesehen, wie Dorfbewohner auf dem Marktplatz gerädert wurden, weil sie an die falschen Götter glaubten. Wie sie dem Feuer übergeben wurden. Wie man sie, gezeichnet von ausgeklügeleter, grauenhafter Folter an den Pranger gestellt hat. Die Menschen, die dies getan hatten, haben sich an ihren Taten ergötzt. Tust du das, Basileus? Oder die anderen Nachtmahre oder die übrigen Tiere des Waldes? Ich wage es, dies zu bezweifeln!”

    Thure hielt inne und sah den Nachtmahr mit leuchtenden Augen an, das kleine Büchlein noch immer in seinen Händen. Er hatte gesehen, dass Menschen um so vieles monströser sein konnten, als jedes Tier dieses Waldes. Dass sie ihre Gräueltaten bewusst und mit Freude begingen, was eine Sache war, die kein Tier - und vielleicht auch kein Nachtmahr - vermochte.
    Der Jäger ließ seinen Blick über die dunkler werdenden Ruinen schweifen, sog den Duft der Wildblumen ein und lauschte seinem schnell schlagenden Herzen, das allmählich wieder ruhiger wurde. Er rutschte eine Stufe tiefer, was Créon zu einem warnenden Knurren veranlasste, da er sich somit auch näher zu dem Nachtmahr gesellte. Thure räusperte sich, schlang die Arme um seine Knie und seufzte schicksalsergeben: “Nun gut … ich werde der Verlockung widerstehen und den Wald morgen nicht betreten, wie du es wünschst. Ich werde … versuchen, den Feierlichkeiten beizuwohnen. Aber nun … will ich dir vorlesen.”
    Thure schlug das in brüchiges Leder gebundene Buch auf, beugte sich darüber und begann zu lesen. Er hatte Lesen und Schreiben gelernt, aber seine Magister hatten sich nie viel Mühe mit ihm gegeben, weswegen er sich manchmal noch immer schwer tat. Wenn er, ohne sich vorher vorbereiten zu können, lesen sollte, so geschah dies meist stockend und unsicher. Doch der Jäger hatte in der Stille seiner kargen Hütte bereits etwas Vorarbeit geleistet. Nun kam ihm sein gutes Gedächtnis zugute.

    “Hier steht: Der … der Fluch der Perspektive: Der Fluch der Perspektive ist ein sehr alter Fluch und hatte seine Ursprünge bereits in antiken Götterkulten. Üblicherweise braucht es mehrere Priester, um ihn aussprechen zu können. Er sorgt dafür, dass sich das Opfer nach und nach in eine viehische Abscheulichkeit verwandelt, deren feuriger Odem es vermag jeden, der ihr zu nahe tritt, zu versengen. Sie besitzt weder mit einem gewöhnlichen Tier, noch einem Mensch Ähnlichkeit. Es ist ein langsam einsetzender Fluch, der den Betroffenen Stück für Stück verwandelt. Üblicherweise beginnt er in den Extremitäten und setzt sich dann durch den gesamten Körper fort. Der Prozess ist sehr schmerzhaft und mit der Zeit büßt der Betroffene neben seinem menschlichen Äußeren auch seinen Verstand mit ein …”

    Thure hielt inne und fuhr sich durch seinen gestutzt Bart: “Hier fehlen ein paar Seiten und ich vermute, dass es sich dabei sogar um die Fluchformel handeln könnte oder weitere Zutaten, die benötigt werden. Das Buch ist alt, aber der Fluch muss noch um ein Vielfaches älter sein, wenn das Buch ihn so … sachlich beschreibt. Es klingt fast wie eine Anleitung, Ich weiß nicht, ob dir das helfen kann oder ob es sich ganz genau um deinen Fluch handelt. Aber ich nehme an, dass du gezielt verflucht wurdest und es mehrere Menschen auf dich abgesehen hatten. Menschen mit Macht, Wissen und Einfluss …”

    Mrs Jenkins zog sich den von ihm angebotenen Stuhl heran, schenkte ihm ihre volle Aufmerksamkeit und hörte zu - und sie tat es, ohne ihn zu unterbrechen. Samuel entspannte sich zum ersten Mal tatsächlich. Sein Gesicht wurde weicher und sein Blick sanfter, weniger misstrauisch und bohrend, als er seinen Teller und seine Tasse von sich schob. Die junge Frau schien nicht nur robust und bodenständig zu sein, sondern auch höflich. Zu viele hatten ihn bereits in seinen Ausführungen unterbrochen und wollten von den Gefahren, die ihnen bevorstehen, nichts wissen. Mrs. Jenkins wirkte etwas angespannt und unsicher, aber dennoch nach wie vor entschlossen, ihn zu begleiten, was Samuel insgeheim imponierte. Sie war vernünftig und sich der Herausforderungen bewusst, doch trotzdem entschlossen, sich nicht abschrecken zu lassen. Mrs. Jenkins würde ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren, aber sie war keine Traumtänzerin.

    Der Musher lauschte nun seinerseits ihren Worten. Er hatte bereits geahnt, dass die junge Frau vermutlich aus einem ähnlichen sozialen Milieu stammen musste, wie er. Ihre Kleidung verriet dies und nun auch ihre Erzählungen. Mrs. Jenkins war harte Arbeit gewohnt und sie war offenkundig nicht zimperlich. Sie würde ihm draußen in der Wildnis sicherlich von Nutzen sein, mehr als jene Gecken, die bereits reich waren und trotzdem hier aufkreuzten, nur, um alles zu verlieren.

    “Sie scheinen wahrhaftig über ihr Vorhaben lange und gründlich nachgedacht zu haben, nicht wahr?”, sinnierte er, während er Figaro, der es sich jaulend auf seinem Schoß bequem machen wollte, mit sanfter Gewalt wieder zurück auf den schmutzigen Boden der River Rats Bar schubste.
    “Bleib!”, befahl er dem dreifarbigen Husky, der nun Mrs. Jenkins geradezu mitleidheischend anstarrte und fiepte. Sam schnaubte belustigt, knuffte ihn in die pelzige Schulter und fuhr sich über seine wunden Augen. Himmel, er war furchtbar müde, trotz des starken Kaffees und er hoffte wirklich, dass seine Erschöpfung nicht sein Urteilsvermögen trübte. Denn er hatte gerade so eben beschlossen, Mrs. Jenkins mitzunehmen. Samuel unterdrückte mit Mühe ein Gähnen und musterte die ihm dargebotene Hand aus glasigen Augen. Ein paar Schnitte, einige Schwielen. Robuste Arbeiterhände, die mit anpacken konnten und es auch tun würden. Seine eigenen Hände wirkten im Vergleich geradezu grotesk, fand er. Lange, schmale Finger, geradezu feingliedrige Pianistenhände, sah man von seinen eigenen Verletzungen und Schwielen ab, sowie der trockenen, rissigen Haut. Leider hatte er nie die Gelegenheit gehabt, wirklich ein Instrument zu lernen - außer seiner Mundharmonika. Er schlug ein und umfasste ihre Hand kurz mit sanftem Druck, ehe er sie genauso schnell wieder losließ.

    “Fein … ich werde Ihnen eine Chance geben. Ich nehme an, Sie haben sich in einem der Hotels hier eingemietet? Verraten Sie mir welches und ich hole Sie morgen früh um sieben dort ab! Ich besitze ein weitläufiges Grundstück hier in Dawson City und werde Sie so das Schießen lehren können. Und ich denke …”
    Er schenkte ihr ein hintergründiges Lächeln in dem eine Spur von Jungenhaftigkeit lag und packte Puk im Nackenfell, der den Wirt, der heraneilte, um Samuels Teller und seine Tasse mitzunehmen mit boshaftem Blick und hochgezogenen Lefzen bedachte: “… so können Sie auch Einblicke in das Mushen erhalten. Mein Schlitten ist klein und leicht, aber er wird von acht Hunden gezogen. Und sie alle haben ihre eigene … Persönlichkeit.”
    Sam bedachte sie mit einem ruhigen, abgeklärten Blick. Ihre Fronten waren nun geklärt. Er winkte Richard mit einer knappen, etwas herrisch wirkenden Handbewegung heran, um seine Mahlzeit zu bezahlen und ihm gleichzeitig ein durchaus üppiges Trinkgeld zu spendieren.
    “Falls Sie keine weiteren Fragen mehr haben, werde ich mich zurückziehen. Sollten Sie hier noch etwas essen oder trinken wollen, fühlen Sie sich frei, dies zu tun und sehen Sie es als bezahlt an.”
    Mit diesen Worten schlüpfte Samuel in seine Robbenfelljacke, tippte sich an eine imaginäre Hutkrempe und warf Mrs. Jenkins noch einen kurzen Blick zu, bevor er mit seinen Hunden im Schlepptau die Bar verließ. Die Müdigkeit brachte Samuel dazu, beim Gehen etwas zu wanken. Wer ihn nicht kannte, könnte ihn glatt für einen der Säufer halten, die die Bar umgeben von Zigarrenrauch und einem penetranten Geruch nach Alkohol heimsuchten.

    Er würde sich nun seine wohlverdiente Mütze Schlaf holen und morgen sehen, was der Tag brachte. Es juckte ihm bereits in den Fingern, erneut auf Goldsuche zu gehen und den Chilkoot Pass zu bezwingen. Und es erfüllt ihn mit einer Art kribbeligen Vorfreude, dieses Mal eine vielleicht kompetente Partnerin an seiner Seite zu wissen.

    Ferit entfuhr ein amüsiertes Schnauben, als Gareth ihm die Tür des Taxis aufhielt. Er stieß sich prompt den Kopf beim Einsteigen und ließ sich ungelenk auf die Rückbank fallen, während er sich noch immer etwas verkrampft an der glänzenden Broschüre festklammerte. Was der Zirkusartist sagte, klang einleuchtend und ging gleichzeitig doch gegen alles, was er bislang in seinem Leben gelernt hatte. Er seufzte, ließ die Broschüre sinken und lehnte seinen brummenden Kopf an Gareths Schulter. Sein Misstrauen, das er gerne jedem gegenüber zeigte, den er nicht ganz genau kannte, war nicht ganz verschwunden - es war vielmehr so, dass er bei Gareth von Anfang an nicht das beklemmende Gefühl gehabt hatte, übermäßig vorsichtig sein zu müssen, bei allem, was er sagte oder tat. Der junge Mann hatte ihm nie das Gefühl gegeben, in irgendeiner Form unerwünscht zu sein oder dass er plötzlich aufgrund seines Namens, seines Aussehens mit vorurteilsbehafteten Beurteilungen und bohrenden Fragen würde kämpfen müssen.

    “Wahrscheinlich hast du Recht”, räumte Ferit ein, während er gedankenverloren nach Gareths Haaren griff und eine der weichen, feinen Strähnen sanft durch seine Finger gleiten ließ.
    “Also … dann sage ich, ich spring’ und du springst mit, ja? Und wir hoffen gemeinsam, dass uns das Schicksal auffängt - was auch immer dieses Schicksal sein soll.”
    Er drehte den Kopf ein wenig, um Gareth ins Gesicht sehen zu können. Hinter ihm blitzten und blinkten Las Vegas’ Neonreklamen, während der Taxifahrer sie sicher durch die nächtliche Stadt chauffierte.
    “Ich frage besser gar nicht wegen der Hexen, die du kennst, oder? Aber … welche Comics sammelst du? Nicht, dass ich mich damit auskennen würde …”
    Ferit löste seine Finger aus Gareths Haaren und ließ seine Hand langsam sinken, so, als ob sie gerade ohne sein Zutun gehandelt hätte. Er starrte die im Neonlicht glänzenden Strähnen noch eine kleine Weile an, schluckte schwer und war versucht, sich mit brennenden Wangen abzuwenden. Doch im Endeffekt entschied er sich dafür, Gareths verschmitzten Blick standzuhalten. Er grinste, erhob mahnend einen Zeigefinger und fuchtelte damit vor Gars Nase herum: “Hey, das ist kein Krach, das ist Kunst. Und ich bin bereit, es krachen zu lassen. Ich soll doch springen und mein Schicksal herausfordern, oder?”
    Das Taxi kam mit einem kleinen Ruck zum Stehen, der Ferit aus seiner Trance herausriss. Er wandte sich kurz von seinem neuen Freund ab und kramte seine Kreditkarte hervor, um den Betrag auf dem Taxameter zu bezahlen.
    “Danke, Kutscher! Sattel die Pferde!”, verabschiedete er sich winkend und schwankend von dem Fahrer, der ihnen mit einem nachsichtigen Kopfschütteln viel Spaß wünschte. Ferit griff sogleich wieder nach Gareths Hand und zog ihn in Richtung des “Triple Down”.

    “Das Museum hat leider schon geschlossen”, murmelte er undeutlich und reihte sich mit Gar in die Schlange vor dem Club ein.
    “Du bist übrigens auch ziemlich großartig - aber das weißt du, oder?”, fragte er ihn mit einem treuherzigen Funkeln in den Augen. Die kleine Menschenmenge vor ihnen setzte sich aufgeregt schnatternd in Bewegung und Ferit bewunderte die kunstvoll aufgestellten, bunten Haarzacken der Dame vor ihm, sowie die Nieten, die sie in ihrer Lederjacke trug. Einmal mehr kam er sich underdressed vor - aber immerhin fiel er farblich nicht aus der Reihe. Er lehnte sich gegen Gars Schulter, musterte das Gebäude, das auf kunstvolle Art etwas heruntergekommen wirkte und schlug vor: “Wenn du mir noch einen schrecklich süßen Cocktail besorgst, blamiere ich mich beim Tanzen, okay? Extra für dich, weil du …”
    Ferit sah Gareth tief in die Augen und fuhr fort: “ … schöne Augen und weiche Haare hast. Oder du lässt mich an deiner großen Weisheit und deiner … hmm … deiner Welterfahrung teilnehmen und zeigst mir, wie das geht - ganz ohne Zaubertricks.”
    Die Schlange setzte sich erneut in Bewegung und Ferit schlenderte entspannt mit. Allmählich begann er, Gareth zu glauben. Vielleicht waren sie zusammen unbesiegbar und keiner würde ihnen Grenzen aufzeigen oder mit ihnen mithalten können. Und vielleicht, nur vielleicht … würde es für ihn nicht in einer Katastrophe enden, wenn er seinen Begleiter weiter versuchte, so subtil wie eine Dampfwalze anzuflirten. Denn das war es, was er gerade versuchte. Und solange er sich weiterhin schön luftig leicht fühlte, bereit, alles, was ihn einschränkte, über Bord zu werfen, würde er sich dessen nicht schämen müssen.

    Der Wald wurde, seit er denken konnte, stets als Ort der Finsternis und des Unheils wahrgenommen. Niemand betrat ihn gerne und die Dorfbewohner musterten die dunklen Baumwipfel selbst aus der Sicherheit ihrer Häuser heraus mit Argwohn, zuckten beim leisesten Keckern und Kreischen, das zwischen den Ästen hervordrang, zusammen.
    Doch Thure fühlte einen eigentümlichen Frieden, als er Basileus auf leisen Sohlen folgte, während Créon den Nachtmahr noch immer misstrauisch beäugte und seine lange Schnauze schnüffelnd in den Wind hielt.
    Natürlich hatte sich sein Herzschlag für einen kurzen Moment beschleunigt, als der Mahr sich zu ihm herabbeugte, um ihn zu wittern. Doch die schiere Todesangst, der er zuvor verspürt hatte, war einer wohlgesinnten Wachsamkeit gewichen. Der Jäger wusste, dass Basileus auf seine Art durchaus gefährlich war, dass er ihm mit einem schnellen, gezielten Biss, wenn er es wollte, das Genick brechen konnte. Doch er wollte daran glauben, dass dies nicht geschehen würde.

    “Meinem Arm geht es besser. Ich habe ihn so schnell ich konnte verbunden. Du hast mir keinen größeren Schaden zugefügt. Siehst du, er lässt sich wieder bewegen”, sagte er leise, mit einem nachsichtigen Blick auf den Mahr. Thure bewegte seinen Arm kurz demonstrativ hin und her, beugte und streckte ihn und legte Créon eine Hand auf den zottigen Kopf, während er Basileus genauer betrachtete.
    “Du siehst verändert aus. Schmaler, weniger Fell … Die meisten kleinen Mahre ähneln wieder mehr den Tieren, die sie einst waren”, stellte er sachlich fest, während er den Blick durch den dunkler werdenden Wald schweifen ließ. Die untergehende Sonne tauchte alles in ein feuriges Rot und die Ruinen, denen sie sich immer weiter näherten, sahen aus, als wären sie aus einer anderen Welt. Gismela würde wohl glauben, dass die rot gefluteten Fenster und Innenhöfe nichts weiter als Tore zur Hölle darstellen, doch Thure fand, dass dem Ganzen ein gewisser Zauber innelag. Die Ruinen strahlten eine Wärme aus, die er in seinem Dorf oft sehnlichst vermisste.

    Thure lief aufgeregt an Basileus vorbei, in seinen sonst oft melancholisch blickenden, braunen Augen einen kindlich neugierigen Glanz.
    “Ich habe als Kind so oft Geschichten über die alten Burgen und Schlösser gelesen … über die Könige, die hier einst lebten. Dafür bekam ich ziemlich oft auf die Finger geklopft!”
    Thure lachte auf, der Klang irgendwo zwischen heiter und erbittertem Rebellentum.
    “Kennst du denn Geschichten?”, fragte er an Basileus gewandt, während er in den lichtdurchfluteten Innenhof schritt. Efeuranken bedeckten Zinnen und Türme und für eine Ruine war das Schloss erstaunlich gut erhalten. Der Jäger setzte sich auf ein paar moosbewachsene Treppenstufen und kramte ein altes, in Leder gebundenes Buch aus seiner Tasche hervor, sowie ein paar in Stoff gewickelte Erdbeeren und Brombeeren, die er Basileus einladend unter die knochige Nase hielt. Seinen Bogen hatte Thure neben sich abgelegt, ebenso seinen Köcher. Er wusste, dass er leichtsinnig wirken musste, so, als ob er sich für unbesiegbar hielt, obwohl der Wald noch immer vor Gefahren strotzte und der Herr der Nachtmahre direkt neben ihm stand. Doch tatsächlich hatte Thure in seinem Leben eine Lektion sehr schnell gelernt: Wenn Menschen ihm zeigten, wer sie waren, egal, ob im positiven oder negativen Sinne, so sollte er ihnen glauben. Und Basileus hatte ihm, trotz seines Fluches, Gnade gezeigt. Thure hatte jeden Grund, stets wachsam und vorsichtig zu sein - aber er musste nicht zwingend annehmen, dass der Nachtmahr wirklich nichts weiter als ein Monster war.

    “Ich habe bereits gejagt, aber es ist immer besser, mein Messer und meinen Bogen mitzuführen - auch wenn ich durch deine Anwesenheit einen gewissen Schutz hier habe.”
    Der Jäger stopfte sich eine Beere in den Mund und schlug das Buch, das beinahe auseinanderfiel, auf, während Créon seinen massigen Kopf in seinen Schoß legte und Basileus argwöhnisch anstarrte:
    “Du kannst dich vermutlich immer noch nicht an dein altes Leben erinnern, aber ich denke, wir können annehmen, dass du ein Mensch warst … bist. Und dass dich jemand deines Menschseins beraubt hat. Hier könnten wir ansetzen.”
    Er warf Basileus einen fragenden Blick zu, während er seine Beeren langsam zerkaute und blätterte. In einem anderen Leben wäre er vielleicht gar kein Jäger geworden. Die Dorfbewohner vergaßen es gerne, aber Thure kam ursprünglich aus einer wohlhabenden Familie, die erst durch seine Geburt ihr Ansehen eingebüßt hatte. Hätte er mehr Möglichkeiten gehabt, wer weiß, aus ihm wäre vielleicht ein guter Magister geworden.

    Mrs. Jenkins, so schien es Samuel, war zumindest besser vorbereitet, als der Großteil jener, die in Dawson strandeten und erwarteten, dass das Gold einfach so vom Himmel fiel. Was sie sagte, hatte Hand und Fuß und auch ihre Überlegung, sich mit ihm ins Abenteuer zu stürzen, war durchaus klug. Viel zu viele Neuankömmlinge waren geradezu arrogant, lehnten jeden Rat der erfahrenen Goldsucher ab und mussten die Erfahrung machen, dass ihnen auf halber Strecke ihre Leithunde erfroren oder dass sie die Schneeschmelze im Frühjahr völlig unterschätzt hatten. Auch, dass sie es ganz offensichtlich unversehrt von Skagway nach Dawson geschafft hatte - anscheinend alleine - zeugte davon, dass sie kein naives, kleines Mädchen war und gut für sich selbst sorgen konnte. Weder der Chilkoot noch der White Pass waren leicht zu bezwingen.
    Er lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und lauschte ihrem kleinen Vortrag, ohne sie zu unterbrechen. Während sie erzählte, nahm Sam es sich heraus, die junge Frau noch etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Ihre Mimik und Gestik verrieten, dass sie an sich selbst glaubte, praktisch gar keine Möglichkeit sah, dass ihr Vorhaben, ihn anzuwerben in irgendeiner Form scheitern könnte. Sie fixierte ihn mit einem festen Blick aus dunklen Augen, wich seinem eisigen Starren niemals aus. Mrs. Jenkins bemühte sich darum, mit ihm eine Verhandlung auf Augenhöhe zu führen und Sam fragte sich, ob sie schon immer hatte kämpfen müssen oder ob ihr Mann vielleicht freundlich und fortschrittlich genug war, seine Frau in dem, was sie tat, stets zu bestärken. Immerhin hatte sie wohl seine Erlaubnis, die weite Reise nach Alaska auf sich zu nehmen …

    Ein kleines Leuchten stahl sich in seine graublauen Augen und ein verhaltenes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, als sie ihm anbot, ihn in spanisch und irisch zu unterrichten oder ihm Gesellschaftsspiele beizubringen. Für einen kurzen Moment brach der kleine, neugierige, wilde Junge in ihm hervor, der immer lernen wollte und doch nie die Gelegenheit dazu hatte, weil er sich mit den Straßenhunden um das letzte Bisschen Essen streiten musste. Doch der kurze Moment der Schwäche war so schnell wieder vergangen, wie er gekommen war. Mit stoischer Miene hörte der Musher sich ihren Vortrag zu Ende an. Und dann sagte er eine kleine Weile gar nichts. Stattdessen schob er ihr mit seinem tropfenden Stiefel den wackeligen Holzstuhl zurück, der bislang unbesetzt an seinem Tisch gestanden hatte und legte das Messer sorgfältig auf den Tisch vor sich.

    Wenn Sam ganz ehrlich zu sich selbst war, war er offen dafür, Mrs. Jenkins mitzunehmen. Dass sie anpacken konnte, glaubte er ihr und dass sie von vornherein einen Plan gehabt hatte und nicht einfach losgestürmt war, war ihm sympathisch. Auch, dass sie sich Gedanken darum gemacht hatte, wie sie ihn für seine Hilfe bezahlen konnte, mochte er. Dennoch … egal, wie hart ein Mensch arbeiten konnte, egal, wie entschlossen er war - die eisige Wildnis Alaskas zwang gestandene Männer in die Knie, ließ sie an Wahnvorstellungen und Schlimmerem leiden. Für ihr so sorgfältig geplantes Unterfangen brauchte sie nicht nur einen starken Willen und einen beeindruckenden Sturkopf. Hierfür war der Wille vonnöten, quälenden Naturgewalten zu trotzen, aber auch bedingungslos vertrauen zu können. Und damit hatten die meisten Menschen - ihn selbst eingeschlossen - erhebliche Probleme.

    Samuel kaute ein wenig auf seiner spröden Unterlippe herum, so lange, bis er Blut schmeckte. Eine alte, schlechte Angewohnheit von ihm, aber sie half ihm dabei, seine Gedanken zu sortieren.
    “Mrs. Jenkins”, begann er, seine Stimme eine Spur weicher als zuvor, “Ob Sie verheiratet sind oder nicht, ist mir persönlich vollkommen gleichgültig. Ich würde niemals jemanden … bedrängen oder belästigen. Ungeachtet seines Familienstandes.”
    Er lehnte sich ein Stückchen vor, stützte seine Ellenbogen auf die raue Oberfläche des Tisches und bedachte sie mit einem sehr ernsthaften Blick. Die Öllampe warf flackernde Schatten auf Mrs. Jenkins Gesicht. Ihre Haut war von einem warmen, bronzefarbenen Ton und ihre großen, dunklen Augen stachen entschlossen glänzend aus einem weichen, rundlichen Gesicht hervor. Trotz ihres entschlossenen Auftretens, wirkte sie auf Samuel verletzlich. Der Musher kraulte Figaro, der sich allmählich beruhigte und die Stiefel der Frau neugierig beschnupperte, nachdenklich den Kopf. Für ihn selbst war es im Grunde genommen von Vorteil, wenn er sich nicht alleine mit seinen Hunden auf den Weg machte. Einen Partner zu haben, bedeutete mehr Sicherheit, insbesondere im Krankheitsfall oder wenn man gar angegriffen wurde.

    “Dass Sie mir neue Erkenntnisse und Ihren Wissensschatz anbieten, ehrt Sie. Ich bin nie abgeneigt, mich neuen Sprachen zu öffnen oder von den Kenntnissen anderer zu profitieren und zu lernen und biete im Austausch stets mein eigenes Wissen an. Jedoch …”, Sam machte eine kleine Kunstpause, faltete seine schmalen Hände mit den langen Fingern und stützte sein Kinn auf die Fingerkuppen. Er musste ihr klarmachen, dass es zwar bewundernswert war, dass sie es geschafft hatte, den beschwerlichen Weg von Skagway nach Dawson City zu meistern, doch dass die Goldsuche noch einmal ganz andere Risiken barg.
    “Nun … es ist … beeindruckend, dass Sie von Skagway hierher gefunden haben. Einige scheitern bereits an dieser Aufgabe. Doch Mrs. Jenkins … Sie sollten wissen, dass die Goldsuche noch einmal weitaus herausfordernder ist. Sie ist nicht nur beschwerlich und besonders um diese Jahreszeit gefährlich. Sie verändert Menschen, hat manchen in den Wahnsinn getrieben. Außer mir und meinen Hunden würden Sie in den nächsten Wochen und Monaten kaum Gesellschaft haben. In der Wildnis da draußen lauern nicht nur verwilderte und kranke Hunderudel verantwortungsloser Musher und Eisbären, oh nein. Andere Goldsucher werden versuchen, Ihnen Ihre Funde streitig zu machen und dafür wird ihnen jedes Mittel recht sein. Es ist nicht ungewöhnlich, dass man überfallen oder bedroht wird. Was ich sagen will ist … die Goldsuche kann das Beste im Menschen hervorbringen, aber weitaus häufiger ist das Gegenteil der Fall.”

    Samuel, der sich noch weiter vorgebeugt und leise, aber eindringlich zu der Frau gesprochen hatte, lehnte sich zurück und ließ ein tiefes Seufzen vernehmen, während er sich das antrocknende Blut von seinen spröden Lippen wischte. Er war ausgelaugt und ermattet von seiner letzten Suche und obwohl sein Verstand nach wie vor klar arbeitete, fühlte er sich heute nachgiebiger. Ob es seine offensichtliche Müdigkeit war, oder Mrs. Jenkins Beharrlichkeit, wusste er nicht. Der Musher drehte die nun leere Kaffeetasse zwischen seinen langen Fingern, musterte die junge Frau mit nachdenklich zusammengezogenen Augenbrauen und fügte eindrücklich hinzu:
    “Was ich Ihnen versuche zu vermitteln, Mrs. Jenkins, ist, dass Sie da draußen in der Wildnis in Situationen geraten werden, die Ihnen bislang vollkommen unbekannt sind. Die Sie vor Angst erstarren lassen werden oder ihre bisherige Moral so sehr herausfordern könnten, dass Sie hinterher mit sich selbst nicht mehr klarkommen. Sich vielleicht sogar hassen. Ich will … dass Sie sich dessen bewusst sind. Und alles, was ich von Ihnen verlange, ist, dass sie mir vertrauen und mir gehorchen. Denn dies wird Ihr Überleben sichern. Wenn ich Ihnen sage, dass Sie springen sollen, dann springen Sie. Wenn ich Ihnen sage, dass Sie Puk hier”, er deutete auf den zierlichen Husky, der Jenkins mit schief gelegtem Kopf frech musterte, “zu einem Muff und Handschuhen verarbeiten sollen, dann tun Sie das. Und wenn ich Ihnen mein Gewehr in die Hand drücke und Ihnen befehle, die letzte Kugel mir in den Kopf zu jagen, den Schlitten zu nehmen und zu fliehen, werden Sie dies auch tun. Haben Sie das verstanden?”

    Er machte eine kunstvolle Pause und steckte seine Daumen hinter seine groben Hosenträger. Wie man sich da draußen fühlte, war oft schwer in Worte zu fassen. Sam hoffte, dass er Mrs. Jenkins klarmachen konnte, dass ihr Unterfangen kein Leichtes sein würde und es vielleicht sogar klüger wäre, wieder umzukehren und nach einer anderen Lösung für ihr Problem zu suchen.
    “Wenn Sie trotz all dem noch immer mit mir kommen wollen, werde ich Ihnen das Schießen beibringen, wie man Fallen legt, wie man Wild ausnimmt - falls Sie nicht manches davon bereits beherrschen. Aber Ihre erste Aufgabe werden meine Hunde sein. Sie sind diejenigen, die uns sicher durch Schnee und Eis ziehen werden und damit gebührt ihnen Ihr allergrößter Respekt. Sie werden Sie füttern, sie pflegen, sich um ihre Pfoten kümmern. Kurz gesagt, Sie werden eine Beziehung zu ihnen aufbauen. Denn sollte ich aus welchem Grund auch immer, nicht mehr dazu in der Lage sein, fällt es Ihnen zu, mit Amarok und Zephyr den Schlitten zu führen …”

    Samuel überkreuzte seine schlaksigen Beine, die noch immer in seiner dicken Fellhose steckten und rieb sich die von der kalten Luft geröteten Augen. Seine Haut wurde schon wieder rau und rissig und er wusste, dass dunkle, bläulich violette Schatten unter seinen Augen lagen. Er fragte sich unweigerlich, ob Mrs. Jenkins ihn auch dann so vehement angesprochen hätte, wenn sie nicht wüsste, wer er war. Sam hatte sich nie für eitel gehalten, aber selbst er wusste, dass er nicht dem Bild des typischen, erfolgreichen Mannes von Welt entsprach, mit seiner fast schon zarten Statur, seiner Leichenblässe und der teilweisen Verwilderung, die ihm selbst dann zu eigen war, wenn er frisch gewaschen und in feinen Zwirn gesteckt durch die Gassen marschierte.

    Er fuhr sich durch seine ohnehin schon verwuschelten, feinen Haare, sah Mrs. Jenkins aufrichtig und ehrlich ins Gesicht und merkte abschließend an: “Ich weiß nicht, welche … Geschichten Ihnen zu Ohren gekommen sind, aber ich weiß, dass man munkelt, ich sei verflucht. Jeder, der mit mir Gold gefunden hat, ist wenig später ums Leben gekommen. Wenn Ihnen auch dieses Risiko nicht zu hoch erscheint, bin ich gewillt, über Sie als Partnerin nachzudenken - vorausgesetzt, Sie kümmern sich um meine Hunde, befolgen meine Anweisungen und bringen mir Ihr Können bezüglich fremder Sprachen und Gesellschaftsspielen bei.”

    Samuel schlang seine Bohnen in Windeseile herunter. Man konnte glatt meinen, dass er entweder unter Zeitmangel litt, oder er so schnell nichts mehr zu beißen bekommen würde. Er verbrannte sich die Lippen an seinem heißen Kaffee, den er versuchte, ebenso hastig herunterzustürzen. Sam hustete kurz und blinzelte, um die aufsteigenden Tränen zu vertreiben. Niemand würde ihm seine Mahlzeit streitig machen - daran musste sich der junge Musher immer wieder erinnern, wenn er erschöpft und ausgehungert von einer Goldsuche zurückkam. Die Zeiten des Hungers und der Angst lagen hinter ihm. Hoffentlich für immer.

    Puk und Figaro hatten sich zu seinen Füßen hingelegt und dösten vor sich hin, während die sich knarrend öffnende Tür immer wieder neue, von der Kälte gerötete Gesichter in die Bar spuckte. Sam fühlte, wie seine Haare allmählich zu trocknen begannen und das Leben kribbelnd und stechend in seine tauben Finger und Zehen zurück kroch. Er war kurz davor, selbst ein bisschen wegzudösen und die Tür zu vergessen, als Figaro fiepend aufsprang und sich hinter Puk verkrochen. Samuel hob den Kopf und sah der jungen Frau, die sich schnellen Schrittes und mit festem Blick den Weg zu seinem wackeligen Tisch bahnte, argwöhnisch entgegen. Er klappte gerade den Mund auf, um ihr unhöflich klarzumachen, dass er keine Konversation wünschte - doch leider kam sie ihm zuvor. Samuel würde lügen, wenn er behaupten würde, dass ihm ihr Auftreten nicht auch ein kleines bisschen imponierte. Die meisten, die mit ihm auf Goldsuche gehen wollten, kamen förmlich angekrochen. Sie jaulten und winselten teils schlimmer als Figaro und beknieten ihn regelrecht, ihnen doch bitte eine Chance zu geben. Mrs. Jenkins jedoch forderte. Kein “Bitte, bitte, ich bin ganz offensichtlich neu hier, aber geben Sie mir doch trotzdem eine Chance!”. Nein, sie war entweder sehr von sich und ihrem Anliegen überzeugt - oder sie steckte wirklich ganz schlimm in der Klemme und war deshalb so entschlossen, einen unnachgiebigen Eindruck zu erwecken. Sam nahm sich kurz Zeit, sie von oben bis unten zu mustern. Immerhin hatte er es hier nicht mit einer feinen Dame von Stand zu tun, so viel war ihm anhand ihrer pragmatischen und teilweise geflickten Kleidung klar. Dann genehmigte er sich einen tiefen Schluck aus seiner Tasse, hielt Puk mit dem Fuß zurück, der glaubte, ein neues Opfer seines Schalks erspäht zu haben und fragte mit sanfter, aber eisiger Stimme und forschendem Blick: “Und warum sollte mich der Ruin ihrer Familie auch nur im Geringsten interessieren, Mrs. Jenkins? Was hebt ausgerechnet Sie von all jenen ab, die mit genau der gleichen Geschichte oder irgendeiner Variation davon zu mir kommen, um meine Hilfe so dreist einzufordern? Tausende treffen hier in Dawson ein, hoffen darauf, ihr Glück zu machen und kehren mit leeren Händen, schwer verschuldet … oder gar nicht mehr heim.”

    Der Musher machte eine kurze Pause, um seine harten Worte wirken zu lassen. Was er sagte, war wahr und würde er jedem helfen, der zu ihm kam, um ihn darum zu bitten - nun, er würde nichts mehr anderes tun. Sam lehnte sich locker zurück und kraulte Puk hinter den Ohren, der Mrs. Jenkins mit schief gelegtem Blick musterte. Trotz seines schroffen, abweisenden Tons und der zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen war Sam neugierig. Er wollte wissen, was die Frau zu sagen hatte. Samuel trank noch einen weiteren Schluck Café und kramte ein kleines Klappmesser aus seiner Robbenfellhose, um sich damit die Fingernägel zu säubern. Im Grunde genommen hatte er nichts dagegen, bald wieder aufzubrechen, auch, wenn er gerade erst nach Hause gekommen war. Dawson würde niemals wirklich sein zuhause sein. Egal, wie lange er sich hier aufhielt, irgendwie fühlte er sich doch immer fremd. Aber das musste Mrs. Jenkins nicht wissen. Sie sollte ruhig noch etwas schmoren und ihren Charakter unter Beweis stellen, bevor er sich zu einer tatsächlichen Antwort herabließ.

    Obwohl Thure von Gismelas geifernder Meute, die unbedingt einen Sündenbock für all ihr Unglück haben wollte, in Ruhe gelassen wurde, konnte er sich doch nicht richtig entspannen und von seiner Begegnung erholen. Basileus Worte hallten in seinem Kopf nach und auch, als Créon zu seiner großen Erleichterung heimkehrte, das Maul schmutzig vom Blut der kleineren Mahre, musste er immer wieder über sie nachdenken. Der Jäger wusste nun, dass Basileus und auch die übrigen Mahre keine Dämonen waren. Dass er unter seinem Dasein litt, träumte, schmerzvolle Erinnerungen hatte, die nur noch verschwommen existierten. Und deshalb fiel es ihm trotz Basileus' Warnung schwer, die Nachtmahre nur als Monster zu sehen.

    Es war so offensichtlich, dass sie einst Tiere gewesen waren und in Basileus’ Fall sicher sogar mehr als das. Seufzend tätschelte Thure Calans großen Kopf, der in seinem Schoß lag. Der Hund hatte sich gut erholt und genoss genau wie Thure die wärmenden, rotgoldenen Sonnenstrahlen des Sommerabends. Gemeinsam saßen sie vor seiner Hütte, wo Thure Rehhäute und Hasenfelle bearbeitete und immer wieder zum nahen Waldrand sah. Die Dorfbewohner bereiteten sich auf das Sommersonnenwendfest vor und auch Thure würde seinen Beitrag leisten, mit Fellen, Federn und Fleisch. Doch zuvor wollte er Basileus’ Rat folgen und die alten Ruinen besuchen. Für das Fest hatte er sich bereits zurecht gemacht. Sein Arm war verbunden, seinen Bart hatte er ordentlich gestutzt und seine dunklen Haare sorgfältig zu einem Deckhaarzopf geflochten. Dazu trug er ausnahmsweise ein helles, mit Rehen, Füchsen und Rebhühnern besticktes Leinenhemd und eine weiche Wildlederhose, die an den Außenseiten der Hosenbeine silberne, verschnörkelte Spangen aufwies. Auch seine Stiefel hatte er ausgebessert, so dass er einen besseren Stand hatte. Auf seinen Umhang aus Nachtmahrfell wollte er verzichten. Gismela war noch immer so aufgewühlt, da würde sie ihm jegliches unnötige Abweichen von der Norm als Teufelswerk auslegen.

    Thure legte seine Arbeit zur Seite, als er die kleine Elaine sah, die mit wehendem Blondhaar den Hügel hoch gehüpft kam. Sein konzentriertes Stirnrunzeln wich einem breiten, ehrlichen Lächeln, das Grübchen in seine Wangen und heitere Fältchen um seine braunen Augen grub.

    “Prinzessin!”, rief der Jäger erfreut, “Was führt eine so holde Maid in meine bescheidene Hütte?” Thure schob Calans riesigen Kopf von seinem Schoß, stand auf und verbeugte sich übertrieben vor dem Mädchen. Elaine kicherte, raffte ihr blaues Kleidchen und machte einen kleinen, unbeholfenen Knicks. Dann hielt sie dem Jäger stolz einen geflochtenen Blumenkranz unter die Nase.
    “Für dich!”, sagte sie undeutlich. “Mama und Papa haben auch welche. Du kommst doch noch zur Feier, oder? Gismela hätte dich gerne da”, fragte sie hoffnungsvoll, während sie dem mehr oder weniger ritterlich knienden Jäger den Kranz aus Bartnelken, Kornblumen, Klatschmohn und Margeriten auf den Kopf setzte. Thure bedankte sich höflich und versprach ihr, dass er bald nachkommen würde, auch, wenn er nicht sonderlich darauf erpicht war, sich mit Gismela zu unterhalten. Fröhlich pfeifend machte sich das Mädchen auf den Rückweg. Thure jedoch zog sein Wams aus Rehfell an, griff nach seiner Tasche, die er aus dem gleichen Material gefertigt hatte und pfiff Créon herbei, der schon einmal gegen die Mahre bestanden hatte. Er griff sich Bogen, Köcher und Jagdmesser und warf noch einen kurzen Blick zurück auf das Dorf, ehe er den Wald betrat.

    Der Bach plätscherte fröhlich vor sich hin, als Thure dem Wildpfad folgte. Rebhühner raschelten im Unterholz und vor ihm sprang ein junger Rehbock aus dem Gebüsch, während eine Nachtigall ihr liebliches Lied in den Abendhimmel sang. Die Luft war klar und rein, die Bäume trugen satte, grüne Blätter und die Wildblumen standen in voller Blüte. Es schien fast so, als sei der Wald von seinem Fluch erlöst worden, doch Thure wusste es besser. Wenn er genau hinsah, hatten manche Füchse noch immer zu lange Gliedmaßen, Amseln zu lange, spitze Schnäbel. Er folgte dem plätschernden Bach bis er einer ihm bekannten Silhouette gewahr wurde. Der Herr … Basileus saß auf einem Stein nahe des Wassers. Auch er wirkte verändert, menschlicher als vor ein paar Tagen.

    “Basileus … Ich bin es, Thure. Thure Amkjar. Verzeiht, ich hatte es versäumt, mich angemessen vorzustellen”, begann der Jäger mit leiser Stimme die Unterhaltung. Da er sich noch unsicher war, wie der Nachtmahr auf ihn reagieren würde, hatte er sich vorsorglich auf den von der Sonne noch warmen Waldboden gekniet, um ihm zu zeigen, dass er nach wie vor keine Gefahr darstellte. Créon stellte wachsam die Ohren auf.
    “Ihr wolltet mir die Ruinen zeigen. Und ich … ich habe versucht, Informationen zu Euch und Eurer Vergangenheit zu bekommen, aber alles, was ich bei mir habe, ist ein sehr altes Buch über Flüche.” Er zuckte entschuldigend mit den Schultern und rückte seinen Blumenkranz gerade, während er auf Basileus Antwort wartete. An sich hatte er die Ruinen schon gesehen. Zerfallene, von Efeu und Moos bewachsene Mauern. Doch er hatte sie immer nur von Weitem bewundern können. Denn auch die alten Burgen und Schlösser galten als verflucht …

    Der Fluch des Goldes

    Eckdaten:
    2er RPG von Liliace und Jehanne
    Genre: Mystery, Abenteuer, Drama, Romanze / Historisch an den Klondike-Goldrausch angelehnt
    Trigger: FSK 18, sensible Themen wie Rassismus, Sexismus, Klassismus, Verwundung und Tod
    Playinformationen: Bitte melde dich an, um diesen Link zu sehen.


    Things we lost
    The things we couldn't share
    Another rainbow's end
    Another memory
    Fortuna Favet Fortibus
    Hold on to all that's dear to you
    As the last sled to Dawson finally arrives*


    Der eisige Nordwind stach wie tausend Nadeln in seinen angestrengt zusammengekniffenen Augen, als Samuel mit seinem Gespann in Dawson ankam. Schneeflocken tanzten in der kalten, klaren Winterluft, fielen auf seine schmalen, dick in silbrig glänzendes Robbenfell eingepackten Schultern und blieben im Fell seiner Hunde haften, die mit hängenden Zungen und aufgeregt hechelnd zum Stillstand kamen.
    Auch dieses Mal war seine Suche am Klondike-River erfolgreich gewesen. Der Erfolg, die Jagd nach Gold, ja das pure Wissen, dass er erneut nicht an seinen selbst gesteckten Zielen gescheitert war - und dies trotz des furchtbaren Wetters, das die Goldsuche gefährlich machte - beflügelte stets für ein paar Tage seinen Geist. Doch dann befiel Samuel eine innere Unruhe, der selbst Amarok, sein immer sanftmütiger und ruhiger Leithund, sich nicht entziehen konnte. Es trieb ihn aus seinem spartanisch eingerichteten Haus in Dawson wieder zurück in die Wildnis, dorthin, wo es neben Gold nichts als endlose Weite gab. Stille Wälder, die sich hügelig in die Ferne erstreckten, von Raureif bedeckte Tannen und ein von funkelnden Sternen erleuchteter Himmel, durchdrungen von der geheimnisvoll schimmernden Aurora Borealis. Sam fand Gefallen an Musik, an Kunst, doch kein Mensch konnte jemals die Schönheit und die Wunder erschaffen, zu denen die Natur in der Lage war. Nichts erfüllte ihn mit so viel Ehrfurcht, wie eine Herde Karibus, deren Fell von Eis glänzte und aus deren Nüstern weißer Atem stob, während sie in der Winterlandschaft an ihm und seinem Schlitten vorbeigezogen.

    Während er seine Hunde von ihrem Geschirr befreite und auf sein Grundstück entließ, konnte er die lärmende Enge der Straßen Dawsons bereits in seinen kalten, tauben Gliedern fühlen. Wie üblich kümmerte er sich zuerst um seine Tiere - schließlich waren sie es auch, die ihn jedes Mal aufs Neue sicher durch die Wildnis begleiteten. Er befreite ihre Pfoten von Eis und Schmutz, untersuchte sie auf kleinere Verletzungen und heizte seine Hütte an, damit sie sich aufwärmen konnten. Amarok und Zephyr waren jedes Mal aufs Neue dankbar für die Prozedur. Im Grunde genommen genossen es alle Hunde, dass er sich kümmerte - bis auf Puk und Figaro. Puk konnte es gar nicht erwarten, seine Wohnung mit weit aufgerissenem Maul und wahnsinnigem Blick zu zerlegen, während Figaro sich laut jaulend über die ihm zukommende Fürsorge beschwerte. Am Ende beschloss Sam, die beiden Quälgeister anzuleinen und sie mit ins Stadtzentrum zu nehmen, bevor seine Nachbarn ihm wieder unterstellten, dass er Figaro quälte oder dass Puk angeblich an Tollwut litt …

    Doch bevor er seinen neuen Claim ordnungsgemäß anmeldete, würde er sich zuerst einen heißen Kaffee und einen Teller Bohnen gönnen. Mit Puk und Figaro im Schlepptau spazierte er geradewegs in die “River Rat Bar”. Die hölzerne Tür des verwitterten Gebäudes knarrte ekelerregend, als er sie öffnete und sich sogleich einen wackeligen Tisch fernab von der Gesellschaft der anderen Goldgräber und der Bürger Dawsons suchte. Einige warfen Puk und Figaro missbilligende Blicke zu, doch Samuel hatte schon vor ein paar Jahren jegliche Kritik an seinen Hunden im Keim erstickt. Noch heute trug man ihm seinen spitzzüngigen Kommentar nach, dass seine Hunde garantiert weniger Krankheiten einschleppten, als alle Goldgräber zusammen, die auf der Suche nach Liebesabenteuern die Bars und Bordelle abklapperten.

    Samuel entledigte sich seines schweren Mantels, den er zum Trocknen über seinen Stuhl nahe des Kamins hängte und befreite sein Gesicht von den Stofflagen. Zum Vorschein kamen jungenhafte, aber verhärtete Züge und ein zerzauster Schopf hellbraunen Haares, das ihm nass in die Stirn hing. Der Wirt, Richard Thomkins, eilte herbei und sagte mit seiner Fistelstimme: “Das Übliche, Sam?”, woraufhin Sam ihm leise und knapp antwortete: “Ganz Recht. Und Richard? Vergiss’ dieses Mal meine Hunde nicht. Andernfalls frisst dich Puk und er täte noch nicht einmal Unrecht damit!”
    Wie auf Kommando legte der Husky seinen schmalen, schwarz-weißen Kopf schief und starrte Richard aus eisblauen, gemein flackernden Augen herausfordernd an. Der Wirt eilte davon, um Sam seinen Kaffee und seine Bohnen zu bringen, während Sam sich kaum merklich diabolisch lächelnd seinem Hund zuwandte und sich von dem Rowdy in seinem Rudel das Gesicht ablecken ließ. Richard gehörte zu jenen, die sich ihm gegenüber immer korrekt verhielten, aber hinter seinem Rücken gerne die wildesten Gerüchte streuten. Da konnte es nicht Schaden, den Mann in dem Glauben zu lassen, er sei tatsächlich mehr Hund als Mensch.
    Der Musher hatte noch immer ein wölfisches Grinsen im Gesicht, als der Wirt ihm das Gewünschte brachte und mit wachsamen Blick auf Puk den Hunden Fleisch vor die Nasen stellte. Figaro machte sich glücklich fiepend über die Beute her und Samuel trug bald seinen üblichen, ernsten Gesichtsausdruck zur Schau, während er hungrig seine Bohnen in sich hineinschaufelte. Geduld hatte er beim Essen noch immer nicht, wusste er doch zu gut, wie sich nagender Hunger anfühlte. Er beobachtete die Gäste mit wachsamen Blick, behielt die klapprige Tür stets im Auge. Er konnte nie wissen, wer ihn heimsuchte, um Streit anzufangen - oder wer sich ihm mal wieder bei seinen Suchen anschließen wollte. Da war es immer gut, vorbereitet zu sein.

    * The last sled - Tuomas Holopainen

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