Ferit glaubte Gareth sofort, dass er bei ihm und seinen Kumpels in bester Gesellschaft war, wenn es um Unvorhergesehenes und Verrücktes ging - selbst die Aussicht, den Abend später zu bereuen, ließ ihn keine Sekunde daran zweifeln. Obwohl er es sonst bevorzugte, stets einen genauen, idiotensicheren Plan von allem zu haben, empfand er es als überaus verlockend, Abenteuer, Überraschungen und ja, ein bisschen Wahnsinn zu erleben. Schließlich hatte er sich genau deshalb für einen Roadtrip ins Ungewisse entschieden, nicht wahr? Um endlich mal loslassen und sich selbst finden zu können. Das tun, wonach ihm der Sinn stand, ohne gleich daran denken zu müssen, was die liebe Verwandtschaft von ihm hielt …
Der laue Wind, der ihm beim Verlassen der Bar entgegen schlug, sorgte dafür, dass ihm schwindelig wurde. Er stützte sich etwas auf Gar, während er versuchte, die vielen Eindrücke, die gnadenlos auf ihn einprasselten, zu verarbeiten. Es war, als wären Himmel und Hölle gleichzeitig auf ihn eingestürzt. Draußen tobte ein Kaleidoskop aus Farben und Mustern, ein Meer von Gerüchen, Körpern und Stimmen. Und Ferit selbst war nichts als ein kleines Schiffchen, das einfach so vom tosenden Sturm mitgerissen wurde. Er sollte Furcht empfinden, spüren, dass das nicht seine Welt war, dass er nicht hierher gehörte - doch er fühlte sich einfach nur berauscht. Mit fast schon kindlicher Neugier sog er die Eindrücke in sich auf wie ein Schwamm, drehte sich unstet und mit leuchtenden Augen um die eigene Achse, während er Gareth lauschte, das Murmeln seiner Freunde ein leises Hintergrundrauschen. Ferit blieb abrupt stehen, als Gar ihn packte, schlang ihm heiter lachend den Arm um die Hüfte und begutachtete die Limousine mit neugierigen Blicken. Es mochte etwas peinlich sein, aber er hatte Limousinen bislang höchstens mal im Fernsehen gesehen, wenn er mit seinem Freund Zac und seinem Vater irgendwelche alten Filme schaute, nie jedoch in natura.
“Ach, wir sind also übertriebene Absurditäten? Schließt du mich etwa mit ein, so ganz ohne Glitzer und Brimbamborium?”, fragte Ferit, eine dichte Augenbraue mokant hochgezogen, sein feiner, jedoch wohlwollender Sarkasmus für den aufmerksamen Zuhörer durchaus wahrnehmbar. Er lehnte sich schwer gegen Gareth, während sein Kopf brummte und summte und sah dem glänzenden Fahrzeug nach, wie es langsam um die Ecke bog und hinter wogenden Menschenmassen und blinkender Leuchtreklame verschwand.
“Wie willst du einen Hasen kapern?”, murmelte er undeutlich an Henry gewandt, was Max zum Kichern brachte und Claire dazu veranlasste, ihre bunt geschminkten Augen zu verdrehen. “Was?”, Ferit gestikulierte wild mit den Händen und machte einen kleinen Ausfallschritt zur Seite. Was war nur in Matthews Drinks gewesen, das ihn so aus der Fassung brachte? “Ein Hase ist kein Schiff und keine Organisation, wie kapert man ihn dann? Durch eine Entführung? Dämonische Besessenheit?” Er lachte abermals auf, als er sich das entsetzte Gesicht seiner armen Mutter bei einem solch wirren Gerede seinerseits vorstellte und ging mit ausladenden Schritten auf das rot und weiß leuchtende Neon-Schild des Jaburritos zu, Max und Claire dicht auf den Fersen. Mit Schwung öffnete Ferit die schwere Glastür und winkte den Rest der Gruppe durch, wobei er Gareth ein herzliches Lächeln schenkte. Er wusste noch nicht wirklich, warum er den jungen Mann offensichtlich mochte - vielleicht war es seine offene, etwas verrückte Art, oder dass er für ihn einfach nach Freiheit aussah, ja, praktisch nach ihr roch.
Die Gruppe nahm die einzige Sitznische des Lokals in Beschlag. Claire lümmelte sich nonchalant auf der schwarzen Lederbank und zog Max zu sich herunter, der sich mit idiotisch glücklichem Grinsen neben ihr niederließ und ihr die Arme um die Schultern legte. Zusammen berieten sie, was sie gerne essen würden und Ferit offerierte, für die Gruppe an die Bestelltheke zu gehen.
“Kommst du mit?”, wandte er sich an Gareth, hakte sich bei ihm unter und wies mit dem Kopf Richtung Theke.
“Ich könnte ein zusätzliches Paar Hände gebrauchen. Es sieht nämlich ganz danach aus, als würden wir das gesamte Lokal leerfressen!”
Er überflog noch einmal kurz das Menü und entschloss sich dazu, sich eine Venice Poke zu bestellen. Vegetarisch, keine Shrimps oder Krebse - also wunderbar für ihn geeignet. Ferit grinste Gareth schelmisch und ein wenig verlegen an, legte ihm eine Hand auf die Schulter und seufzte:
“Tja, gibt genug Vegetarisches, ich komme hier voll auf meine Kosten, aber du … ich glaube ein ganzes Schwein braten sie dir nicht. Aber … ich könnte dir Drinks als Trost spendieren!”
Er stupste ihn mit dem Ellenbogen an, schnaubte wieder erheitert durch die Nase und feixte:
“Vielleicht braten sie dir ja auch ein Lama, nachdem es dich umgehauen hat. Ich denke, ich lass mich lieber von so einem Vieh über den Haufen rennen, als von irgendeinem Promi - wenn ich schon keine Horde Katzen kriegen kann, die mich umhaut!”
Ferit wusste, dass er wieder munter vor sich hin plapperte und beschloss, sich vielleicht lieber erst mal einen Eistee zu genehmigen. So viel Vernunft besaß sein benebeltes Gehirn momentan anscheinend gerade noch so. Er bemühte sich redlich, die Bestellung einigermaßen sauber herunterzuleiern und schenkte der Bedienung ein zerknirschtes Lächeln, als diese nicht wirklich mitkam. Hilfesuchend drehte er sich nach Gar um und musterte ihn dabei verstohlen. Er wirkte auf ihn wie jemand, der keine Ketten kannte, die ihn herunterzogen und fesselten. Alles an ihm, selbst die Art, wie er einfach nur da stand und wartete, wirkte merkwürdig selbstbewusst. Er erschien robust, trotz seiner feinen Gesichtszüge, fast wie eine der steinernen Statuen, die Ferit in seinem Beruf fertigte.
“Aber er dürfte warm sein, nicht kalt wie Stein”, dachte Ferit und schüttelte den Kopf, wie um seine Gedanken neu zu sortieren - oder sie loszuwerden. Vielleicht sollte er sich doch noch ein paar süß schmeckende Drinks genehmigen … Er fühlte, wie Hitze in seine Wangen stieg - schließlich war ihm immer noch einigermaßen bewusst, dass es furchtbar unhöflich war, Leute anzustarren. Also räusperte er sich, kratzte sich im Nacken und nuschelte:
“Ah, magst du den Rest aufgeben? Bin wohl etwas ... unbegabt …” Oder auch einfach nicht fokussiert genug. Oder er hatte es bereits übertrieben. Zu viele Cocktails, zu viele neue Eindrücke, zu viel, was ihn verwirrte. Was auch immer, aber dafür war er schließlich hier, oder? Um den Wahnsinn in sich aufzusaugen und darin entweder auf- oder sang- und klanglos unterzugehen. Alles, nur nicht sein bisheriges, langweiliges, einengendes Leben weiterführen, in dem scheinbar alle über ihn bestimmten, nur nicht er selbst. Hier, in Vegas, konnte Ferit überdreht, laut, charmant , vielleicht sogar interessant sein. Und er konnte vergessen, dass er in Wirklichkeit nichts von alledem war …