“Was genau war eigentlich eure Grundintention, als ihr mich dazu überredet habt, zu diesem Trip mitzukommen?”, stur waren die grünlichen Augen aus dem kleinen Sichtfenster innerhalb der Gemeinschaftsjurte gerichtet, die sich unter den wenigen, doch abermals sehr starken Windböen, die um den Lagerplatz von Camp 2, leicht in alle Seiten wog. Evies trainierte, aber nicht übermäßig muskulöse Arme, schlangen sich in einer festen Umklammerung um den in Funktionskleidung gehüllten Oberkörper. Die Finger der jungen Frau gruben sich, leicht angesäuert über die aktuelle Situation in ihre Oberarme, spannten den Stoff rundherum in gewellten Falten an. Mit geschärftem Blick verfolgte sie die beiden Gestalten, welche sich als Gavin und… - seufz - Vincent, herausstellten und sich unermüdlich durch den hohen Schnee empor kämpften, in Serpentinen hinauf zum Einstieg zur Eiswand, die den nächsten Abschnitt zu Camp 3, darstellte. Die Schultern der jungen Frau zogen sich missmutig empor, verzog sie auch das gar strenge Gesicht in eine… unliebsame Mimik. Tief waren die Augenbrauen über ihre Augen hinab gezogen, die Mundwinkel zu einer beleidigten Miene verformt. Als würde sie ein unsichtbares Tablett vor sich halten, löste sich der rechte ihrer Arme aus der Umklammerung am Oberarm und hielt die flache, vorgestreckte Hand auf Höhe ihres Kinns vor sich, untermalte somit gestisch ihren Blick auf die wandernden Körper, wobei das Augenmerk auf jenem hielt, den sie im nächsten Satz ansprechen würde. “Dachtet ihr etwa, ihr könntet mich verkuppeln? Mit… Vincent? Ich meine… wessen Idee war das wirklich, hä?”, mit einem verstimmten Zungenschnalzen, begleitet von einem enttäuschten Kopfschütteln, kehrte sich Evie herum und stierte ihre beiden weiblichen Kumpaninnen an, die, wohl oder übel kalt erwischt, den beschämten Blick nicht auf ihre gemeinsame Freundin legten konnten. Die Nase gerümpft, fanden die Lippen der Kommissarin zurück in eine aalglatte Linie, die die Emotionen in ihrem Gesicht versiegen ließ. Und doch war es Rachel, die sich aus dieser unliebsamen Stille stahl und mit vorgestreckten Armen zwei Schritte auf die Dunkelblonde zu ging.
“Mensch Evelyn… du gibst dem Ganzen aber auch keine Chance, dass ihr euch richtig kennenlernt.”, eindeutiger Ärger über die Sturheit ihrer Freundin war in der Stimme der Ehefrau Gavins zu hören, die es der verstimmten Kommissarin gleichtat und die Arme vor der Brust verschränkte. Diese aber hob überrascht die Augenbrauen empor, formte einen Ausdruck der offensichtlichen Bestürzung auf den harten Gesichtszügen, noch bevor sich der Mund der Polizistin öffnen konnte. Evie kniff darauf nur die Augen ein wenig zusammen und starrte Rachel entgegen. “Vielleicht weil ich nicht mit der Annahme hierher gekommen bin, jemanden kennenzulernen, sondern um diesen Riesen, der vor uns liegt, zu besteigen.”, irritiert verzog die junge Frau das Gesicht und sah zu Vicky hinüber, die bis dato kein Wort dazu gesagt hatte. “Hat sie dich überredet, mich zu überreden?”, ungehaltener als gewollt, blaffte Evie in die Richtung von Vicky, welche mit erhobenen Händen zurücktrat. “Evie… wir haben schon SO lange nichts mehr miteinander gemacht… komm doch mit… wir planen den Aufstieg auf… bla bla bla… achja und du wirst das Opfer von ungewolltem Speed Dating mit ‘nem… arroganten Sweet Summer Child… pffff…”, Gott, war sie wütend. Dementsprechend hob die Grünäugige ihre Stimme in eine… unangenehme Tonlage, die undurchsichtig das Veräppeln von Rachels überfreudiger Stimme zum Trip nachahmen sollte. Uferte das Wiederholen der motivierten Worte nur in beleidigtem emporwerfen ihrer Arme über das Haupt, welche sie neben sich fallen ließ. Stumm, geißelnd, verwoben sich die Blicke der beiden Damen ineinander. Evie, die sich nicht nehmen ließ, ihren Standpunkt klar zu machen - welcher wäre, dass sie schlichtweg enttäuscht von Rachel war und absolut keine Lust auf irgendwelche halbherzigen Liebeleien hatte - und eben jene Gattin, die ihrer Freundin wohl oder übel nur etwas Gutes tun wollte, aber eben jenen Umstand vergaß, dass Beziehungen für Evelyn… keinen Sinn machten. Somit drang ein Seufzen aus dem Rachen der Dame. “Okay… okay… tut mir Leid, ja? Ich … hätte von Anfang an ehrlich mit dir sein sollen.”, seufzend ergab sich die Beschuldigte und sah zu Vicky zurück, die mit den Schultern zuckte, langsam aber zu ihrer Jacke griff und sie überzog.
Ja, auch die drei Damen waren in Aufbruchsstimmung. Die zuvor so erfolglose Diskussion über den möglichen Aufstieg zu Camp 3, hatte abrupt damit geendet, dass sich die beiden Männer alleine auf den Weg machen wollten, nachdem benannte Dame im Hintergrund sich vehement dagegen gewehrt hatte, jetzt und heute aufzubrechen, wo doch die Witterung keine vielversprechende wahr. Und auch, wenn Vicky manchmal zur Übertreibung neigte, so konnten Evie und Rachel ihr dahingehend, zumindest heute, nur Recht geben. Der viele Neuschnee und der unstete Wind begünstigten die Lawinengefahr außerordentlich… noch dazu, weil die oberste Schneeschicht nach dem sonnigen Wetter Wochen zuvor obenauf bestimmt leicht geschmolzen war und nun als vereiste Rutschbahn die perfekten Bedingungen geschaffen hatte, um eine todesgleiche Falle für jene weiße Übermacht zu werden. Unbeirrbar waren sie gewesen, Gavin und Vince, die sich trotz der Bedenken der drei Frauen hinaus gewagt hatten. Und nun wo sie weg waren, die hörenden Ohren fern von gesprochenem Wort, wagte die Kommissarin es, die Umstände anzusprechen, die sich Rachel und Vicky so locker flockig vorgestellt hatten. Was dachten die beiden sich nur dabei? Das sie dem - nun gut, er sah ja nicht schlecht aus… aber stand der Charakter für Evie trotzdem über dem Aussehen… da konnte er noch so gottgleicher Figurinen ähneln - Zahnarzt aus Kalifornien, bei erster Gelegenheit schöne Augen machte, nur weil sie seit… puh, ja wie lange eigentlich? 6 Jahren? 7 Jahren? … single war? Sich diesem törichten Gedanken widmen, schob sich ein erbostes Schnauben über die Nase der Dunkelblonden hinab… eine sportliche Herausforderung war es, die sie hier gesucht hatte. Keinen… Mann fürs Leben. Nochmals verdrehte Evie die Augen und kehrte das vergrämte Gesicht ab. Ein wirklich schweres, gar tiefes Seufzen drang aus ihrer Lunge. “Wir sollten ihnen nach, oder?”, meinte dann eine murmelnde Stimme aus dem Hintergrund.
Vicky. Jetzt, wo die Fronten geklärt waren, traute sich der sonst so schlaue Mund wieder zu sprechen. Sie empfand die Frau jetzt nicht als nervend… aber hatte der Opfercharakter, gepaart mit ihrer… beinahe unerträglichen Art und Weise die Dinge an sich zu reißen… einen bleibenden, negativen Eindruck bei Evelyn hinterlassen. “Ja… ich denke auch. Es ist nur ein bisschen Wind, Vic. Der Sturm vor zwei Tagen war um einiges schlimmer… Und wer weiß, vielleicht klärt die Sicht ja auf und uns empfängt über der Kante blauer Himmel und Sonnenschein.”, ein ermutigendes Lächeln schob sich auf die Lippen von Rachel, welche neben Vicky langsam begann, sich in ihre Ausrüstung zu zwängen. Evie sah dem Treiben noch einen Moment länger skeptisch zu, folgte aber dann, sich dem Gruppenzwang ergebend, den Taten der anderen beiden. Schnell fand ihr Oberkörper den Weg in die dicke Funktionsjacke, umschlossen ihre Beine alsbald der Klettergurt, ausgerüstet mit Eispickel, Steigeisen, Ankerschrauben, Nylonseil, Helm… alles was für den Aufstieg gebraucht wurde, wurde kompakt am Körper befestigt, ehe die drei Frauen sich gegenseitig ein Zeichen gaben, ihre Entscheidung abnickten und aus der Jurte stiegen. Fürwahr stob die eisige Brise doch relativ unliebsam um das nackte Gesicht, aber schützte eine dicke, gelbe Fischermütze das Haupt von Evelyn, welche den sorgsamen Blick den Steilhang hinauf richtete und die Körper der Männer suchte. Diese waren bei ihrem angestrebten Ziel angekommen, richteten wohl bereits alles für den Aufstieg über die Eiswand, immerhin konnte Evie beobachten, wie sich die Arme der beiden nach links und rechts bewegten, sich in die Hüften stützten, nur um dann wieder zu einem anderen Punkt zu zeigen, ehe das altbekannte Schere-Stein-Papier zwischen den beiden gespielt wurde, um den Lucky Loser in dieser Situation zu entscheiden.
Amüsant war das Schauspiel alle Mal, verzog Evelyn sogar für einen Moment das Gesicht zu einem lächelndem Schmunzeln, warf sie die Tatsache, dass Rachel und Vicky jedoch schon den Aufstieg bestritten, zurück in die Realität und sie setzte sogleich hinterher. Im Gänsemarsch kämpften sich die etwas kleineren Figuren der Damen durch die vorgefertigten Furchen der Männer voran, folgten Gavin und Vincent hoch zur Eiswand, die es zu bewältigen gab. Evelyn hatte bereits Erfahrung im Eisklettern, aber noch viel zu wenig, als dass sie ichs zumindest Amateurin schimpfen könnte, nein. Sie war dafür belehrter in anderen Metiers… Survival, Woodcraft, Crafting… das war ihre Welt. Das war es, was sie auch in ihrem Beruf gut brauchen konnte. Weswegen die Spezialisierung der jungen Frau nicht schwer gefallen ist. Stapfend trugen die sechs Beine sie weiter voran, knirschend ergab sich die gefrorene Schneedecke unter ihren Beinen, ließen sie dann und wann ein paar Zentimeter hinabsinken… aber kamen sie gut Weg voran. Immer wieder drehte Evelyn sich kurz um, verfolgte den Fortschritt und die immer kleiner werdende Jurte aus Camp 2. Alsbald sie erstmal im dritten Camp angekommen waren, konnte man diesen Teil der Wanderung getrost abhaken… noch länger zu verweilen, wäre auch aus ihren Augen… Zeitverschwendung gewesen. Beschwingt setzte Evelyn also ihren Schritt fort, hob den Blick an und sah über die Köpfe von Rachel und Vicky hinweg zu den kletternden Männern empor… Vincent hatte es bereits in den Hang geschafft, setzte mit flotten, gekonnten Tempo den Takt vor. Ein wenig beneidete sie den Zahnarzt dann doch… es schien, sollte man den Dreh raus haben, wirklich Spaß zu machen. Spaß, den die Kommissarin doch ganz gerne auch mal erfahren wollte. Immerhin drang es sie danach, neue Dinge zu entdecken und kennenzulernen. Die grün schimmernden Augen von dem im Überhang hängenden Mann abwendend, kehrte sich ihr Blick auf den blau-silbern schimmernden Eisblock, der sich wie ein Monument, ein Mahnmal, vor ihnen in die Höhe fraß. Ein versinnbildlichter Weg, diese Laune der Natur als Barriere wahrzunehmen, als würde sie die Truppe warnen… das hier Schluss war, mit der begeisterten Weise, die sie den Aufstieg wagen ließ.
Denn es bewahrheitete sich, was sich nur scherzeshalber in den Kopf der Dunkelblonden geschoben hatte. Elektrisierend war die Stille, die sie plötzlich umwob. Evie’s Herz machte einen festen Schlag und verlor sich dann in Schnelligkeit, als sie die drohende Gefahr wie schleichendes Gift wahrnahm… wie sich das Vibrieren des Untergrundes auf dem sie stand, durch ihren Körper fraß, eine beißende Gänsehaut auf diesem hinterließ. Getrieben schnellte ihr Haupt empor, pinnte den schockierten Blick aus den aufgerissenen Augen auf den Ort, wo die Männer verweilten, als ein Donnerschlag die prophetische Ruhe vor dem Sturm zerbrach und der Berg ihnen jene hämische Falle entgegen spuckte, vor der sich alle so…. gefürchtet hatten. Der Schrei blieb Evelyn im Hals stecken, erkannte sie im Augenwinkel, wie der rot gekleidete Körper Gavins von Dannen geschleudert wurde. Mitgerissen vom weißen Tod, ehe der Bruchteil einer Sekunde Vincent wieder in ihr Auge ließ, der hinter der Wand an tonnenweise Schnee verschwand. “FU-!”, die Furcht vor dem, was auf sie wartete, schnürte der jungen Frau die Kehle zu und doch tat sie das, was wohl jeder getan hätte. Ohne darauf zu warten, was Rachel oder Vicky taten - obwohl der ferne Schrei ihrer Freundin wie das Kratzen von Gabel über Teller in ihren Ohren lag, als sie den leblosen, verdrehten Körper ihres Ehemannes erblickte -, kehrte Evelyn sich um, nahm die Beine in die Hand und rannte los. Ein… vergleichsweise erbärmlicher Versuch, dem zu entkommen, was ihr Schicksal doch indiskutabel besiegelte. Wie weit sie wohl gekommen war, ehe sie die drückende, untergrabende Wand in ihrem Rücken spürte? 10 Meter… vielleicht auch 30? Oder doch nur fünf? Evie konnte es nicht sagen, vermochte es auch gar nicht mehr, als zuerst ihre Füße, der Wucht geschuldet, den Kontakt zum Boden verloren, sie strauchelte und dann als gesamtes von der Lawine verschluckt wurde. Der Körper der Kommissarin, gehüllt in eine neongrüne Jacke, verschwand unter dem umschließenden Weiß… und ließ jedes Leben hinter sich.