Basilius schnaubte leicht und schüttelte das wenige, zottelige Fell, das er noch am Leib trug. Er hätte gerne das gute Auge von Thure betont, aber die Veränderung war dermaßen offensichtlich und dem Nachtmahr um diese Zeit des Jahres bereits in Fleisch und Blut übergangen, dass er kaum noch einen Gedanken daran verschwendete. Ganz der Wahrheit entsprach dieser Gedanke letztendlich doch nicht. Basilius wusste, was der morgige Tag für ihn bedeutete. Ein flüchtiger Tagtraum nach einem ganzen Jahr gefüllt mit Albträumen. Je wacher sein Verstand in den vergangenen Tagen geworden war desto größer erwuchs die Gewissheit. Er musste Thure vom am Tag der Sommersonnenwende vom Wald fernhalten. Der Jäger bewies bereits jetzt sein gütiges Herz, doch der längste Tag des Sommers brachte eine Schwäche mit sich die Basilius verfluchte und gleichzeitig herbeisehnte. Bevor Basilius sich nach einer geschlagenen Ewigkeit der Stille und Grübelei zu einer Antwort durchdringen konnte, setzte sich Thure beim Anblick der Ruinen plötzlich in Bewegung. Wie ein junge Bursche, dessen Schatzsuche endlich von Erfolg gekrönt war, stürmte er davon. Selbst sein schlechtes Bein konnte ihn kaum davon abbringen. Der Nachtmahr hielt sichtlich irritiert inne angesichts der Begeisterung, die Thure verströmte. Der Jäger hatte zu keinen Zeitpunkt derartig lebendig auf ihn gewirkt wie in diesem Moment. Zugegeben, bis auf ihre erste verhängnisvolle Begegnung mitten in der Nacht und gestohlenen Beobachtungen aus dem Verborgenen heraus, wusste er fast nichts über den Mann. Dennoch hatte Thure bisher auf ihn wie ein nachdenklicher, besonnener Mann gewirkt. Basilius Ohren zuckten aufmerksam nach vorn während Thure seiner Freude freien Lauf ließ und die Ruinen stürmte wie ein Eroberer die Burg. Es war das erste Mal, dass er den zurückhaltenden Mann lachen hörte. Frei und unbeschwert, so weit fort von dem verfluchten Dorf und seinen misstrauischen Bewohnern.
Ein Stückchen hinter Thure betrat auch der Nachtmahr die verfallenen Ruinen und bekam gleich den bitteren Eindruck nicht inmitten dieser Schönheit willkommen zu sein. Eine Kreatur der Dunkelheit gehörte nicht an diesen lichtdurchfluteten Ort. Das war etwas, das Basilius in den Zeiten nicht vermisste, wenn sein Verstand mehr Tier als Mensch ähnelte. Verbitterung und Wehmut waren ihm im tiefsten Winter fremd. Der Mahr folgte seinem Begleiter zu den alten, bröckeligen Stufen, die zu einem Eingangsportal führten, dessen gewaltiges Tor bereits vor Jahrhunderten verrottet sein musste. Von vielen Teilen des früher sicherlich prächtigen Schlosses waren zum Teil nur noch die steinernen Gerippe übrig. Den angebotenen Beeren schenkte der Nachtmahr wenig Beachtung. Lediglich kurz schnupperte er daran. Er wollte den Moment nicht verderben, in dem er nüchtern erklärte, dass ein Stück rohes, blutiges Fleisch mehr nach seinem Geschmack war. Stattdessen streckte Basilius seine Gliedmaßen und ließ sich am Fuß der Stufen auf dem Bauch nieder. Ein Beobachter konnte sich beinahe ein bilden, wie Basilius genüsslich die Augen schloss als er den Kopf zum blauen Himmel empor reckte - hätte er den Augenlider besessen um sie zu schließen. Er lauschte nun auch dem Gezwitscher der Singvögel, die sich in den Verwinklungen des alten Dachstuhls eines der Nebengebäude ihre Nester bauten. Dem sanften Rascheln von grünem Efeu in der warmen Sommerbrise, dem Herzschlag der Lebewesen um ihn herum, der immer noch leicht beschleunigten und aufgeregten Atmung von Thure.
"Gewöhn Dich nicht daran, Thure", mahnte der Nachtmahr und neigte den bleichen Schädel schräg zur Seite, damit er den Jäger ansehen konnte. Die Sommersonnenwende würde vergehen und dann würde alles wieder beim Alten sein. "Ich weiß, dass ich ein Mensch war. Ich erinnere mich kaum, aber ich weiß es. Viel Menschliches habe ich allerdings nicht mehr an mir bis auf... Thure, Du musst mir ein Versprechen geben. Morgen ist die Sommersonnenwende und ich will, dass Du dem Wald fern bleibst, auch wenn es verlockend ist. Du bist nicht dumm, du weißt, dass diese Zeit einen besonderen Einfluss auf die Nachtmahre hat. Such nicht nach mir."
Beinahe versöhnlich legte Basilius das Haupt auf einer Stufe zu Thures Stiefeln ab und nur seinen zuckenden Ohren ließen vermuten, dass seine ungeteilte Aufmerksamkeit beim Jäger ruhte. Sie zuckten leicht beim Rascheln der Buchseiten. Obwohl der Hund, Créon, ihn mit einem leisen aber drohenden Knurren abstrafte, reckte der Nachtmahr den Kopf und stieß mit seinem kahlen Maul gegen das Buch, das Thure aufgeschlagen hatte.
"Sind das die Geschichten?", brummte er und legte den Kopf zurück auf die Stufen. "Wirst du mir etwas daraus vorlesen?"