Geduldig erwartete Drystan eine Antwort des ältesten Ordensbruders. Zumindest übte sich der Söldner gezwungenermaßen in Geduld. Ein falsches Wort, und er würde den Rückweg nach Umbra antreten müssen um sich einen neuen Plan zu überlegen. Dagegen protestierten sowohl sein leerer Magen, der seit zwei Tagen keine vernünftige Mahlzeit mehr gesehen hatte außer luftgetrocknetes Wildschweinfleisch, als auch seine müden Füße. Gegen ein ordentliches Bett zur Abwechslung hatte der Söldner auch ganz bestimmt nichts einzuwenden. Vorausgesetzt er schaffte es hinter die Klostermauern. Deshalb mühte sich Drystan sein freundlichstes Lächeln ab, das hoffentlich nicht wie eine missglückte Grimasse aussah, und wartete auf das Urteil des Priesters – oder Mönches, wie auch immer sich die Mitglieder dieser zurückgezogenen Gemeinschaft nennen mochten. Das nagende Loch in seinem Magen war das herzlichst egal.
"Wir wären Euch aufs äußerste dankbar, Drystan. Wir haben zwar nicht viel, aber der Orden wird Euch für Eure Mühen dennoch entlohnen können“, bekam Drystan endlich seine Antwort, die wie Musik in seinen Ohren klang weshalb der Söldner nun tatkräftig mitanpackte.
Unter den kundigen Augen des Söldners schafften die jüngeren Kuttenträger einen geeigneten und starken Ast herbei. Mit vereinten Kräften befestigten sie das Holzstück an der gebrochenen Speiche und Drystan benötigte nur wenige Handgriffe um die provisorische Schiene mit dem Seil zu fixieren. Unermüdlich zog er die Schlaufen um das Rad, umwickelte die geschiente Speiche und zog den Strang an der Achse fest nur um dieselben Arbeitsschritte in umgekehrter Reihenfolge zu wiederholen. Ein paar Mal fädelte Drystan das Hanfseil durch die Radspeichen und achtete darauf es gut festzuziehen. Erst als ihm das Seil ausging und ein leichter Schweißfilm seine Stirn bedeckte, gab sich der Söldner mit seiner Arbeit zufrieden. Es war bestimmt kein Meisterwerk. Drystan war Soldat kein Handwerksmeister – zumindest war er einmal Soldat gewesen.
Drystan rieb sich die schmutzigen Hände an seinen Beinkleidern ab und strich dabei über das ein oder andere Loch am Knie hinweg. Neben Verpflegung sollte er wohl auch neue Kleidung ganz oben auf die lange Liste an Dingen setzen, die er dringend benötigte. Niemand heuerte einen abgehalfterten Söldner an, der aussah als könnte ihn die nächste Windböe umknicken wie einen Grashalm. Der alte Kauz, der mittlerweile als Joren vorgestellt hatte, schien mit dem Ergebnis zufrieden. Seine jüngeren Weggefährten war der Söldner trotz der Hilfe nicht ganz geheuer, was Drystan ein dezentes Schmunzeln entlockte. Zumindest sah er noch stattlich und einschüchternd genug aus um zwei Jungspunde zu beeindrucken.
„Damit sollte es gehen“, bestätigte er dem Ältesten. „Geht voraus. Ich bleibe hinten am Karren und behalte das Rad im Auge.“
Der Söldner nickte entschlossen, legte beide Hände an das spröde Holz des Karrens und lehnte sich mit seinem vollen Gewicht dagegen. Mit einem Ächzen der geschundenen Hinterachse setzte sich der Karren endlich wieder holprig in Bewegung.
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Drystan blinzelte gegen das warme Licht der tiefstehenden Abendsonne als sie den Wald mit seinem dichten Blätterdach hinter sich ließen. Vor ihm eröffnete sich ein schmaler Weg, der auf weitläufiges Areal fühlte, dass einmal eine kleine Waldlichtung gewesen sein musste. Vor langer Zeit hatten sich die Menschen von Sylvaris, die diesen Ort als ihr neues Zuhause erwählt hatten, die idyllische Lichtung erweiterten. Alte, mit Moos bedeckte und teils verrottete Baumstümpfe in unmittelbarer Nähe des Waldrandes zeugten davon. Sie hatten Platz geschafft für einen Anblick, den Drystan nicht erwartet hatte. Eingebettet in die Lichtung und umgeben von hochgewachsenen Laub- und Nadelbäumen lag das Kloster, von dem die alte Maeve ihm erzählt hatte.
Das Mauerwerk war aus grobem Stein geschlagen und an der Seite, die von der rötlichen Abendsonne beleuchtet wurde, von dunkelgrünem überwuchert. Aus der Distanz erspähte Drystan mehrere Gebäudetrakte mit einfachen Dachschindeln und Zinnen, die alle um ein zentrales Gebäude angeordnet waren. Es musste die Kapelle des Klosters sein, denn von dort erhob sich ein Turm in den Himmel, der alle anderen Teile des Gemäuers überragte: Der Glockenturm. Dem Kloster fehlte es an Prunk, doch gerade seine Einfachheit verlieh ihm zumindest aus der Ferne eine Schönheit, die Sylvaris vielerorts verloren hatte. Abgesehen von den Spuren der Vergangenheit verschlug die Unberührtheit dieses Ortes, ganz eins mit den Wäldern um sich herum, wohl jedem den Atem. Auch Drystan begriff schnell, dass die Geschichten der alten Maeve diesem Anblick nicht gerecht wurden.
Der Karren fuhr wieder an und holperte den verschlungenen Pfad herunter, der direkt zu einer Mauer führte, die das Kloster wie ein Schutzwall umgab. Drystan ließ den Blick über die Lichtung vor der Mauer schweifen und entdeckte sorgfältig angelegte Äcker für allerlei Feldfrüchte, die von Obstbäumen eingerahmt wurden. Die üppigen Zweige bogen sich unter der Last reifer Äpfel und Birnen. Auf der anderen Seite des Pfades war eine Wiese angelegt worden und hinter dem einfachen Holzzaun grasten friedliche eine kleine Herde. Drystan entdeckte eine Handvoll Ziegen und sogar ein paar Milchkühe, die neugierig die Köpfe bei ihrer Ankunft hoben. Im Schatten eines Baumes grasten Pferde und ein Maultier entspannt nebeneinander. Es war unmöglich zusagen, wie viele Tiere sich noch hinter dem Zaun befanden, aber es war mehr, als der Söldner auf den Höfen in Umbra gesehen hatte.
Am Ende des Weges erreichte die kleine Gruppe ein geschlossenes Tor. Als die Kuttenträger auf den Zinnen den alten Joren erkannte, gewährten sei den Rückkehrern sofort Einlass. Drystan war sich der misstrauischen Blicke bewusst. Bei der Abgeschiedenheit wunderte es den Söldner nicht. Er bezweifelte, dass sich häufig Besuch an diesen friedlichen Ort verirrte. Ansonsten hätte unlängst machtgierige Hände versucht, sich diesen zu Eigen zu machen. Hinter dem Tor erwartete Drystan ein beschaulicher Innenhof. Er konnte Stallungen erkennen, die vermutlich als Unterschlupf für das Vieh im Winter dienten. Bei dem Duft von frisch gebackenem Brot, der aus einem geöffneten Fenster eines der Gebäude strömte, zog sich sein Magen knurrend zusammen. Dazu gesellte sich die dezente Note frischer Kräuter und als Drystan sich danach umsah, entdeckte er zwischen Mauer und Stall ein kleines Gartentor und dahinter die ersten hochangelegten Beete mit duftendem Thymian, Lavendel und Minze. Der Garten musste hinter dem Stall noch weitergehen, aber seine Grübelei wurde unterbrochen, als der Karren anhielt.
Drystan richtete seinen Blick wieder nach vorn und verließ seine Stellung am hinteren Ende des Karrens um zu Joren aufzuschließen. Dabei wich er einer gackernden Schar buntgefiederter Hühner aus, die vor einem jungen Mädchen flohen, dessen Robe derer von Joren und seinen Brüdern sehr ähnlich war. Also beherbergte das Kloster nicht nur Männer. Noch ein Grund mehr es mit einer hohen Mauer zu schützen. Das Mädchen, sie mochte vielleicht Fünfzehn sein, stoppte kurz, sah den Söldner mit großen Augen an…und rümpfte die Nase ehe sie weiter den Hühnern hinterher stürmte. Unauffällig neigte Drystan das Kinn und schnupperte. Na gut, er hatte schon einmal besser gerochen.
„Lyra! Wo bist…?“, rief eine melodische Stimme einer Frau, die sich offensichtlich außer Puste eine dunkelblonde Strähne aus dem Gesicht pustete. Sie war ebenfalls in eine weiße Robe gekleidet und stemmte die Hände in die schmalen Hüften. Die Frau war etwas älter als Drystan, um ihre Augen und Mundwinkel hatten sich bereits einige Falten in die rosige Haut gegraben. „Herrje! Hast du schon wieder das Tor zum Hühnerstall aufgelassen!?“
Lyra, das Mädchen mit den aufgescheuchten Hühnern, kam hinter einem Strauch am Rand der Mauer hervor, ein zappelndes Huhn unter den Arm geklemmt.
„Es tut mir…Au!“, machte Lyra und ließ das Huhn los, das ihr gerade in die Hand gepickt hatte. „Tut mir leid, Martha.“
Martha fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und stieß ein Seufzen aus. „Komm. Wir legen ein paar Körner aus, dann kommen sie schon von allein zurück.“
Drystan wandte sich währenddessen an Joren. „Ein wunderschönes Zuhause habt Ihr hier. Eure Gastfreundschaft ehrt mich.“