Ballett ist mein Leben

  • Ballett ist mein Leben

    Eckpunkte

    - Zeit: 2024
    - Ort: USA
    - Schreibstil: 3. Person | Präteritum
    - Genre: Urban Fantasy | Dark something
    - Link: Bitte melde dich an, um diesen Link zu sehen.

    !!!TRIGGER!!!

    FSK18, Machtmissbrauch, BDSM, Drogen - weitere folgen ggf.

  • Day 1: Audition

    Ein Wispern erfüllte das Innere von Studio Zwei, vermischte sich mit dem leisen Knistern von Leotards und dem gedämpften Klacken von Spitzenschuhen auf dem nackten Boden. Ein Summen lag in der Luft, wie von einer unsichtbaren Stromleitung ausgehend, die quer durch den Raum verlief – Adrenalin pulsierte durch Adern, rauschte den achtundvierzig Tänzern und Tänzerinnen, die gut die Hälfte der aktiven Besetzung des New York City Ballets ausmachten, in den Ohren. Die Uhr über dem Eingang tickte: Noch fünf Minuten. Zeit für ein letztes Stoßgebet vor dem großen Test. Was in der nächsten Stunde auf sie zukommen würde, wusste keiner von ihnen so genau. Die meisten bereiteten sich deshalb vor, wie sie es immer taten – so wie sie es sich gewohnt waren. An den Wänden entlang im Raum verteilte, waren einige bereits in Bewegung, machten sich mit Dehnübungen warm, vollführten an der Barre da ein Plié, dort eine Arabesque, spannten die Wadenmuskeln und übten noch einmal den perfekten Stand. Andere massierten ihre vom vielen Training in den letzten Tagen müden Füße, kontrollierten den Sitz ihrer Zehenschützer und schnürten ihre Spitzenschuhe neu, nur, um sich letzten Endes doch für das vorrätige Extrapaar zu entscheiden, dass sie am Vorabend noch vorsichtshalber in der Sporttasche verstaut hatten. Wieder andere suchten im Abseits mit Kopfhörern im Ohr die innere Ruhe, pressten Daumen und Zeigefinger beider Hände aneinander und atmeten mit geschlossenen Augen tief ein und aus, während ihre Lippen tonlose Choreografie-Phrasen ähnlich einem Mantra vor sich her murmelten. Und letztlich waren da noch jene, die sich in trauter Runde zusammenschlossen, letzte kleine Ermutigungen, gar ein Lächeln austauschten, wenn auch nicht ganz aufrichtig angesichts der Tatsache, dass jeder im Raum des anderen Konkurrenten war. Dann öffnete sich die Tür zum Studio abrupt, und drei Männer betraten den Tanzsaal.

    *

    Das Krachen, mit dem die schwere Pforte wieder ins Schloss fiel, erstreckte sich in die Tiefe des Raumes, wurde als Echo von der schwarzen Decke und den verspiegelten Wänden zurückgeworfen, bis es schließlich wie Donnergrollen in der Weite des Saals verebbte. Die weitgeschnittenen Plissees seines Hosenrocks und die langen Ärmel des Seiden-Haoris, der sich um seine Schultern schmiegte, flatterten Victor DeWitte hinterher, während er zügig an den Reihen der Tänzer vorbeischritt, ohne auch nur einen oder eine von ihnen eines Blickes zu würdigen. Ihm auf den Fuß folgten der Pianist der Kompanie – eine Stecknadel von Mann, mit schütterem Haar und wässrigem Blick, die Notenblätter eng an seine schmale Brust gepresst haltend, als fürchtete er, sie vor etwas verteidigen zu müssen – und, in etwas gemächlicherem, lässigerem Tempo, Peter Grayson, CEO des New York City Balletts und, wie immer, in einen seiner maßgeschneiderten, exzentrischen Anzüge gekleidet, die in farbig-scharfem Kontrast zu Victors ausnahmslos schwarzer Garderobe standen. Nicht, dass die Unterschiede der beiden Männer noch zusätzlich hätten akzentuiert werden müssen. Ihr Auftritt war in jederlei Hinsicht grundverschieden, das hätte selbst ein tauber Blinder in einer Zwangsjacke bemerkt.

    "Stehen Sie bequem, Mesdemoiselles, Messieurs", adressierte der Grayson die versammelte Schar, die den beiden Männern am Kopf der Tanzhalle in gespannter Erwartung entgegenblickte. "Ich freue mich, Sie heute alle hier vor mir stehen zu sehen – Sie, allesamt geborene Tänzerinnen und Tänzer, die Crème de la Crème und der ganze Stolz unserer compagnie!" Peter deutete eine Verneigung an und faltete dann beinahe andächtig die Hände. Derweil kam Victor nicht umhin, kaum merklich die Nase zu rümpfen: Auch ein Weg, seine Kinder zu verziehen. Schleimer. "Noch viel mehr freut es mich aber, Sie endlich meinem Kollegen, guten Freund und Ihrem neuen Tanzmeister vorstellig machen zu dürfen. Sein Name ist Ihnen allen ein Begriff, sein Ruf eilt ihm voraus: Victor DeWitte, meine Damen und Herren!" Eine Hand landete auf Victors Schulter und drückte sie kurz, ehe Peter ihm vor dem Hintergrund eifrig-nervösen Applauses der Tänzer mit einem Augenzwinkern die Bühne und das Wort überließ, es sich in einen der beiden Stühle vor dem Flügel in der Ecke bequem machte und lässig die Beine übereinanderschlug, sodass seine zitronengelben Socken unter seiner türkisen Anzughosen hervorlugten.

    Der DeWitte ließ die peinliche Akklamation seiner zukünftigen Schüler und Schülerinnen kommentar- und regungslos verstreichen, atmete währenddessen das vertraute Bouquet ein, das ihm aus ihrer Richtung entgegenströmte: Es roch nach Puder, Schminke und Schweiß, Desinfektionsmittel, Spray-Deo und einem Hauch Lavendel. Köstlich. Der vertraute Duft weckte etwas tief in ihm. Was genau, konnt er nicht sagen. Sehnsucht. Begierde. Die Kreatur im Verborgenen, die wie ein zu lange an ein und dieselbe Wand gestarrt habendes Raubtier im Käfig die Ohren spitzte und sich erwartungsvoll die Lefzen leckte – Hunger... Zum ersten Mal ließ Victor seine blauen Augen über die Menge der Versammelten fliegen, streifte die Gesichter der Umstehenden, hielt Ausschau nach etwas, das seine Aufmerksamkeit verdiente. "Ich habe weder das Bedürfnis, mich vorzustellen, noch besteht die Notwendigkeit, dass ich es tue – Sie werden von mir gehört haben und selbst herausfinden müssen, was davon alles der Wahrheit entspricht", erhob er schließlich die Stimme, der Ton darin kühl, beinahe klinisch distanziert. "Allerdings komme ich nicht umhin, Sie darauf hinzuweisen, dass Peter Sie soeben angelogen hat."

    "Ach? Hab ich das?" Peter blinzelte, ehrlich erstaunt und nicht minder amüsiert, beugte sich in seinem Stuhl etwas vor: "Jetzt bin ich aber gespannt, Vic: Inwiefern denn?" Verhaltenes Gekicher aus einer Ecke des Saals. Der DeWitte ignorierte die schamlose Darbietung bodenloser Unprofessionalität im Ballettunterricht ebenso wie die ihm äußerst missliebige Benutzung seines Spitznamens und verzog keine Miene, während er – die Tänzer im Blick – auf Peters Frage antwortete: "Keiner von Ihnen – kein einziger – wurde zum Tänzer oder zur Tänzerin geboren. Ganz egal, wie viel Talent Ihnen in die Wiege gelegt worden sein mag, Sie alle wurden gemacht, geschaffen und geschliffen von jenen, die vor mir kamen, die Ihnen eine Chance gaben, Sie überhaupt tanzen ließen. Also bilden Sie sich nicht allzu viel auf Ihr Talent ein. Die meisten von Ihnen lassen sich ohne Weiteres von der Tänzerin oder dem Tänzer zu Ihrer Linken oder Rechten ersetzen." So viel zum Thema, was er von der 'Crème de la Crème', dem 'ganzen Stolz unserer compagnie' hielt. Selbst Peter tat sich schwer damit, nach diesen Worten noch ein Lächeln im Gesicht zu bewahren. Alles, was er zustande brachte, war ein verlegenes Schmunzeln und ein Blick auf seine Armbanduhr: Noch nicht mal ne Minute im Raum, Vic, und du vergraulst mir hier schon meine besten Ballerinas? Also wirklich! Doch den DeWitte ließen die subtil vorwurfsvollen Seitenblicke seines Kollegen kalt. Er war nicht hier, um die fragilen Egos irgendwelcher Pavlova-Verschnitte und Möchtegern-Baryshnikovs zu verhätscheln, sondern um jene Wenige unter ihnen zu finden, die wirklich etwas Besonderes waren und sich nahtlos in seine Kunst einfügten...

    Time to get down to business. "Ich werde Ihnen nicht verraten, für welches Stück ich Sie vortanzen lasse. Noch nicht. Vor einer Woche haben Sie von mir drei Kombinationen erhalten, an denen ich Sie heute messen und dann entscheiden werde, ob Sie das Zeug dazu haben, an besagtem Stück in einer Hauptrolle mitzuwirken." Victor war sich bewusst, dass eine Woche herzlich wenig Zeit war, um eine Kombination auswendig zu lernen – drei Kombinationen, von denen außerdem keine einzige einfach war, war nahezu unmöglich. Aber wer unter seinen Fittichen tanzen wollte, musste sich damit abfinden, dass der Meister nichts Geringeres als das Unmögliche seinen Schülern abverlangte. "Es ist kein Geheimnis, dass ich… wählerisch bin, was das Material angeht, mit dem ich arbeite." Erneut wanderte sein Blick durch den Raum, bliebt für den Bruchteil eines Lidschlags an einem bleichen Gesicht unter einer Krone aus zu einem Dutt hochgesteckten roten Haaren hängen, das ihn aus großen, hellen Rehaugen anstarrte, ehe er bereits zur nächsten Ballerina schweifte. "Lassen Sie mich sehen, aus welchem Holz sie geschnitzt sind. Beeindrucken Sie mich. Sie haben eine Chance." Er ließ seine Worte kurz ihre volle Wirkung entfalten, wie einen guten Rotwein, der erst atmen musste, ehe er in die Hände klatschte und dem Pianisten einen Wink gab: "Maestro, wenn ich bitten darf. Tänzer! Aufstellung zur ersten Kombination. Bitte melde dich an, um diesen Link zu sehen., in Dreiergruppen."

    2 Mal editiert, zuletzt von Jinx (16. Dezember 2024 um 09:28)

  • Jahrelang hatten Elodie und Tara darauf hingearbeitet, echte, professionelle Tänzerinnen zu werden – zunächst durch unzählige Meilen und eine Landesgrenze getrennt, in den letzten vier Jahren jedoch immer Seite an Seite. Vermutlich hätten sie sich an ihrem ersten Trainingstag mit dem NYCB unter ihre neuen Kolleginnen und Kollegen mischen sollen, um diese kennenzulernen. Doch der erste Schritt in einen neuen Lebensabschnitt war ziemlich einschüchternd. Was konnte es da also Besseres geben, als eine Freundin, die einem Halt gab, wie sie es schon seit Jahren getan hatte? Daher hatten Tara und Elodie sich zwei Plätze nebeneinander an der Barre im hinteren Teil des Saals ausgesucht. Sie waren früh dran gewesen und hätten daher auch einen der vorderen Plätze ergattern können – doch sie waren nicht nur beide neu, sondern auch nur einfache Tänzerinnen im corps de ballet. Es wäre nicht gerade klug, es sich mit den anderen Tänzern sofort zu verscherzen, indem sie sich in den Vordergrund drängten. Jedenfalls war das die aktuelle Situation. Alles könnte sich ganz schnell ändern, wenn die Gerüchte stimmten und Victor DeWitte sich bei der Besetzung in seinen Stücken tatsächlich keinen Deut um den offiziellen paygrade und die Erfahrung seiner Tänzer scherte.

    Ihre übermäßig rechtzeitige Ankunft am neuen Arbeitsplatz hing sicherlich damit zusammen, dass beide Freundinnen in der letzten Nacht vor Aufregung nicht sonderlich gut geschlafen hatten. Das hatte ihnen jede Menge Zeit gegeben, sich in ihre neue, wenn auch gut bekannte Arbeitskleidung aus Strumpfhose und Leotard zu werfen, die Haare zum typischen Ballerinadutt zu frisieren und sich ausführlich genug zu dehnen und aufzuwärmen, bevor sie die Spitzenschuhe anzogen. Doch natürlich nützte alles Dehnen und Aufwärmen nichts, wenn man die Muskeln anschließend wieder starr und kalt werden ließ, weshalb Elodie nun im Spagat über ihr linkes Bein gebeugt am Boden saß, während Taras Hand federleicht auf der Barre lag, während sie die Balance auf der Spitze auf ihrem schwächeren, linken Bein fand.

    Keine der beiden Freundinnen – und offensichtlich auch sonst niemand im Raum – war allerdings so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass ihnen entging, wie drei Männer den Saal betraten, deren Kleidung sie deutlich von den anwesenden Tänzern abhob. Drei Männer, die unterschiedlicher kaum hätten sein können. Selbstverständlich erkannte Elodie Victor DeWitte, den Weltstar des Balletts und Peter Grayson, den exzentrisch gekleideten CEO. Der Dritte im Bunde war ihr unbekannt, doch die Notenhefte in seiner Hand verrieten, dass es sich bei ihm sicherlich um den Pianisten handelte, der die Musik für das Training spielen würde. Regelmäßig zu Livemusik zu trainieren, statt nach dem zu tanzen, was die Stereoanlage von sich gab, war ein Privileg, das war Elodie selbstverständlich klar, dementsprechend sollte sie dem Pianisten vermutlich mehr Respekt entgegenbringen, doch zwischen „Devil“ DeWitte und dem CEO im türkisenen Anzug wirkte er so unscheinbar, dass man ihn sehr leicht übersehen konnte.

    Noch bevor das erstaunlich laute und irgendwie endgültig wirkende Geräusch der ins Schloss fallenden Tür verklungen war, war Elodie bereits aufgesprungen, um sich wie ihre Kolleginnen und Kollegen mit einer Hand auf der Barre aufzustellen.

    Unglaublich neugierig darauf, was sie nun erwartete, lauschte Elodie zuerst Mr. Graysons kurzer Rede und musste sich ein breites Grinsen verkneifen, als sie hörte, wie sie als Stolz der compagnie bezeichnet wurde. Die Schmetterlinge, die schon in ihrem Bauch herumflatterten, seit sie eingestellt worden war, setzten zu einem großen Wirbel an und sie klatschte gemeinsam mit den anderen, als ihnen ihr neuer Tanzmeister vorgestellt wurde. Immerhin war er für alle im Raum der neue Tanzmeister, auch für diejenigen, die schon seit Jahren für das NYCB tanzten, sodass es immerhin eine Sache gab, in der Elodie und Tara nicht im Nachteil waren.

    Was dieser allerdings zu sagen hatte, fuhr wie ein kalter Windstoß durch den Reigen der Schmetterlinge in ihrem Magen und holte sie in die Realität zurück. Sicherlich waren Mr. Graysons Worte schmeichelhaft gewesen, aber was Mr. DeWitte sagte, war Elodies (zugegebenermaßen begrenzter) Erfahrung nach doch deutlich näher an der Wahrheit: Sie alle waren austauschbar – und zum Lachen war das in ihren Augen sicherlich nicht, egal wie sehr sich einige ihrer neuen Kolleginnen über die kurze Meinungsverschiedenheit zwischen ihren beiden Vorgesetzten zu amüsieren schienen.

    Die Heiterkeit verging allerdings ziemlich schnell, als klar wurde, dass der Tanzmeister nicht vorhatte, dieses Kennenlernen wie eine klassische Ballettstunde erst einmal mit etwas Technik an der Barre zu beginnen, sondern vom ersten Moment an vollen Körpereinsatz sehen wollte, indem er verlangte, dass sie das Grande Allegro zum Besten gaben, das er ihnen zukommen lassen hatte. Natürlich hatten Elodie und Tara beide die entsprechenden Informationen erhalten und sich während der letzten Woche genau darauf vorbereitet. Wie es von Elodie zu erwarten war, hatte sie mit einem Brief voller Anweisungen wenig anfangen können, doch zum Glück hatte Tara ihr die Kombinationen oft genug vorgelesen und sie hatten in jeder freien Minute gemeinsam geübt. Auch wenn das Lesen wirklich nicht ihre Stärke war, an Elodies Gedächtnis gab es nichts auszusetzen. Dennoch war es eine unglaubliche Herausforderung drei verschiedene Kombinationen auswendig zu lernen und selbstständig umzusetzen, ohne irgendein Feedback zu bekommen, wie die Bewegungsabläufe auszusehen hatten. Tara und Elodie hatten sich zwar gegenseitig kommentiert, doch was der Tanzmeister von ihnen erwartete, wusste natürlich keine von beiden. Immerhin konnten sie mit dem Grande Allegro anfangen, das Elodie ihrem Gefühl nach recht gut lag. So, wie sie die Kombination verstand, brauchte diese eine ganze Menge Energie, und die hatte die junge Tänzerin im Überschuss. Sicher, in diesem Moment war es eher nervöse Energie als alles andere, aber immerhin war es Energie.

    Dann allerdings bemerkte sie, was ihr Platz im hinteren Teil des Raumes bedeutete. Hätte die Stunde ganz klassisch mit der Stangenarbeit begonnen, dann hätten Tara und sie im hinteren Teil des Raums, weit weg vom Klavier gestanden und wären nicht weiter aufgefallen, genau wie man es von Neulingen erwartete. Natürlich wären sie nicht wirklich versteckt gewesen, denn jede Tänzerin und jeder Tänzer im Raum war problemlos zu beobachten, aber sie hätten sich nicht ins Rampenlicht gedrängt. So allerdings sah es ganz anders aus. Einige der Tänzer räumten schnell die beiden in der Mitte des Raums aufgestellten, transportablen Ballettstangen beiseite, der Pianist begann – und da sich niemand an ihnen vorbeidrängte, bedeutete ihre Position im Raum, dass Tara und sie in der allerersten Dreiergruppe des Tages tanzen würden. Als typischer Rotschopf hatte Elodie ohnehin nie sonderlich viel Farbe im Gesicht, wenn man von der dezenten Schminke einmal absah, und in dem Moment, als ihr klar wurde, was ihr gerade bevorstand, wurde sie noch blasser, als sie es ohnehin bereits war.

    Allerdings hatte sie keine Zeit, auch nur eine weitere Sekunde nachzudenken, denn sie musste sich sofort zusammen mit Tara und einer weiteren Tänzerin, deren Namen sie nicht kannte, aufstellen und demonstrieren, was sie konnte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch tatsächlich kam Elodie gar nicht wirklich dazu, das Gedankenkarussell anzuwerfen und sich Sorgen zu machen, denn der Pianist setzte sofort zu spielen an. Sie hatte keine Zeit mehr, sich mit irgendwelchen düsteren Vorstellungen oder ihrer Angst zu beschäftigen, sondern hob die Arme und konzentrierte sich voll und ganz auf das Tanzen. Mit der hart erkämpften, scheinbaren Leichtigkeit, die Ballett so wundervoll aussehen ließ schwirrte sie wie einer der Schmetterlinge in ihrem Bauch über die Diagonale hinweg, bewegte sich im Einklang mit der Musik, als wäre sie eben doch genau dazu geboren und für einen Moment wurde ihr aufgesetztes Bühnenlächeln zu einem echten, während sie sich sicher war, dass sie zumindest technisch perfekt umsetzte, was von ihr verlangt worden war. Dann allerdings trat sie den Rückweg die gleiche Linie entlang mit einem kleinen temps levé rückwärts ins arabesque an, bei dem ihr die Landung nicht ganz sauber gelang. Kein großer Schnitzer und im nächsten Moment konnte sie sich bereits umdrehen und weiter tanzen, wie sie es geübt hatte, doch das Lächeln fror ein. Der Rest der Kombination gelang Elodie hervorragend, doch sie war sich so sicher, dass jeder im Raum ihren Fehler bemerkt und verurteilt haben musste, und sosehr damit beschäftigt, sich von diesem einen Moment nicht die ganze Kombination ruinieren zu lassen, dass sie nicht einmal bemerkte, wie die dritte Tänzerin in ihrer Gruppe die letzten Schritte improvisierte, da sie offenbar vergessen hatte, was es überhaupt zu demonstrieren galt.

    Nachdem sie zum zweiten Mal auf der ihrem Ausgangspunkt gegenüberliegenden Seite angelangt und ihr Moment auf dem Präsentierteller fürs Erste vorbei war, schickte die erste Gruppe sich an, am Rand des Raums entlang zu den anderen Tänzerinnen und Tänzern zurückzukehren, ohne Mr. DeWitte und Mr. Grayson genau durchs Blickfeld zu laufen. In der Zwischenzeit hatten die anderen Tänzer Aufstellung bezogen, um nacheinander ebenfalls zu zeigen, was sie konnten – und nachdem der erste Schreck überwunden war, hatten den Principals und Solisten unter ihnen sich an den dienstälteren Mitgliedern des corps verbeigezwängt. Nachdem Tara, Elodie und die dritte in ihrer Gruppe sich nach ihrem Durchgang hinten anstellten, sah ihre Formation nun so aus, wie die Reihenfolge, die man normalerweise erwartet hätte – wenn man außer Acht ließ, dass Elodies Gruppe bereits getanzt hatte.

  • Töne prasselten aus dem schwarzglänzenden Instrument in der Ecke des Studios. Der Pianist erblühte förmlich auf seinem Hocker, während seine Finger federleicht über die weißen und schwarzen Tasten der Klaviatur wirbelten. Eben noch das unscheinbare Männlein schwang sein Körper nun im Takt der Musik mit, folgte mit dem Oberkörper den Bewegungen der Tänzerinnen, als wäre er selbst einer von Ihnen. Auch Peter, in seinem Stuhl lässig zurückgelehnt, einen Kugelschreiber zwischen den Fingern hindurchjonglierend, mimte den bespaßten Zuschauer. Sein Fuß wippte zum Rhythmus des Allegro auf und ab. Derweil stand Victor da wie eine Rennaissance-Statue: Regungslos wie aus Stein gehauen, unbeeindruckt vom Treiben der vergänglichen Wesen in seinem Gesichtskreis, dieselbe Kühle ausstrahlend wie weißer Marmor.

    Von seinem Beobachtungsposten beim Flügel aus verfolgte er, wie die erste Gruppe Tänzerinnen die von ihm konzipierte Schrittabfolge ausführte. Dem stechenden Blick unter dem Wimpernkranz seiner eisig blauen Augen entging nichts – nicht die kleinste Bewegung, nicht die winzigste Abweichung, kein einziger Fauxpas. Selbst unscheinbare Details fielen seinem auf Perfektion getrimmten Augenmerk auf, und als Rotkäppchen bei der Landung patzte, überkam ihn ein Hauch von … Degout. Ihr Missgeschick war minimal, der unsaubere Abschluss ihres Rückwärts-Temps-Levés vernachlässigbar, gerade angesichts ihrer sonst nahezu perfekten Darbietung. Doch gerade weil sie den Rest seiner Variation so scheinbar mühelos gemeistert hatte, riss ihn der Lapsus rüde aus dem Genuss ihres Auftritts. Er fühlte sich... unbefriedigt. Frustriert. Eine Tatsache, die der DeWitte beinahe schon als persönlichen Affront empfand. Ganz anders sahen die Dinge bei dem Stegreifspiel ihrer Kollegin aus, die irgendetwas vortanzte, nur nicht das Ende der Kombination. Da reichte die Erwartungshaltung gar nicht erst hoch genug, um Enttäuschung aufkommen zu lassen.

    Nachdem der erste Durchlauf für alle vorbei war, versammelte sich die Schar der Tänzer und Tänzerinnen erneut entlang der Wand auf der linken Seite des Raums. Den einen war anzusehen, dass sie mit ihrer Performance nicht zufrieden waren, andere leuchteten geradeso vor Selbstgefälligkeit – manch einer alles andere als verdienterweise. Victor warf Peter einen Seitenblick zu. Der machte ein vage Handbewegung: Have at it. They’re all yours.

    "Sie!" Seine Stimme peitschte einmal quer durch die Halle, ohne dass er sie wirklich erhoben hatte. Der angesprochene Danseur zuckte zusammen, kauerte fast ein wenig unter der Herrschaft des ausgestreckten Zeigefingers, der auf ihn gerichtet war, während der Meister näher kam und vor den Reihen der Tänzer und Tänzerinnen zu patrouillieren begann. "Sie." Einer der Ballerinas – Madame Improvise-Adapt-Fail-Miserably – verging das dummfreche Grinsen, als sie als Nächstes den Anklagefinger ins Gesicht gebohrt bekam. Direkt neben ihr stand das Rotkäppchen. Victors Hand schwebte kurz in der Luft, der tiefe Blick aus dem Stahlsee seiner Augen traf den ihren, hielt den Kontakt, bis sie ihn brach. Die angekettete Kreatur tief in ihm drin hob die Nase in den Wind und schnupperte in ihre Richtung. Frischfleisch, und was für ein Leckerbissen noch dazu - jung, zart, saftig. Eine Delikatesse. Etwas… Besonderes. Vielleicht. Eine Schande, das Kälbchen bereits jetzt zu schlachten. Also ging der DeWitte weiter: "Sie. Sie. Die ganze Gruppe hier. Sie da drüben, und Ihre Nachbarin. Und Sie beide." Er verzog die Lippen zu einem künstlichen Lächeln, das seine Augen nicht erreichte: "Gratulation, Ihnen bleibt heute eine Menge Knochenarbeit erspart. Freuen Sie sich. Sie dürfen gehen." Ein Raunen rollte durch das Ensemble, ging über in ein leises Tuscheln. Ungläubige Blicke wurden hin und her geworfen, eins der Mädchen schluchzte auf, und aus der Ecke tönte ein: "Ihr Ernst jetzt?!"

    Doch der DeWitte hatte sich längst abgewandt, war bereits wieder auf dem Weg zu seinem Posten, wo Grayson ihn erwartete und ihn geradezu gepeinigt ansah: "Rosenbaum, Victor. Evelyn Rosenbaum. Eins unsrer Sternchen!" Victor würdigte seinen Freund nur eines kurzen Blickes und nahm einen Schluck aus einer bereitstehenden Flasche Sprudelwasser, während Peter sein Lamento fortsetzte: "Ihr Vater ist der Grund dafür, dass wir es uns an unseren Aufführungen leisten können, Veuve Cliquot aufzutischen, ist dir das bewusst?" Victor gab einen belustigten Laut von sich. Nein, das war ihm bisher nicht bewusst gewesen, dafür aber umso egaler. Peter legte ihm eine Hand auf den Unterarm: "Victor… Dein Ernst jetzt?" Der Tanzmeister sah seinen Arbeitskollegen mit einem Ausdruck im Gesicht an, der keinen Zweifel daran ließ, wie ernst er es meinte, und der subtil auf die Klausel in seinem Arbeitsvertrag verwies, in der stand: Kann machen was er will. Muss dafür keinem Rede und Antwort stehen. Auch Peter Grayson nicht. Dennoch setzte er mit einem gespielt versöhnlichen, gefährlichen Schmunzeln dazu: "Ich bin mir sicher, Ferdinand wird hocherfreut sein, sie in seiner Gruppe aufzunehmen. Sie gäbe eine hervorragende Coppélia ab – die Staksigkeit liegt ihr im Blut."

    Der Grayson gab auf, verdrehte die Augen und ließ sich zurück in seinen Stuhl sinken. In diesem Moment bereute er es sichtlich, den DeWitte eingestellt zu haben, sah aber ein, dass er an dem Pakt mit dem Teufel jetzt nichts mehr ändern konnte, ohne sich dabei ins eigene Fleisch zu schneiden.

    Die zweite Kombination in zweierlei Ausführung – einmal für Männlein, einmal für Weiblein – war eine kräftezehrende Aneinanderreihung von Pirouetten und Fouettés, inspiriert von der Bitte melde dich an, um diesen Link zu sehen., mit nur wenigen Schritten dazwischen, um die brennenden Wadenmuskeln zu entlasten – eine Kombi, die die Spreu vom Weizen trennen würde. Victor verlangte Zweiergruppen, einerseits, damit die Tänzer ausreichend Platz hatten, um sich bei den ausschweifenden Bewegungen nicht in die Quere zu kommen, andererseits weil er sich so ein noch genaueres Bild vom Einzelnen machen konnte. Allerdings gefiel ihm nicht, welche Pärchen sich da an der Wand bildeten… Der Pianist hatte bereits schon wieder in die Tasten gefasst, da hob der Tanzmeister noch einmal die Hand: "Stop. Sie da…" Er deutete auf Rotkäppchens Freundin und bedeutete ihr mit einem kurzen Winken, ihren Platz in der Reihe zu ändern: "Nach vorn. Weit nach vor." Von den ursprünglich 48 Tänzern waren jetzt noch 37 übrig. Rotkäppchen würde das Schlusslicht bilden – allein, ohne ihre Busenfreundin, die ihr das Händchen halten würde.

    Anders als beim letzten Mal verließ der DeWitte diesmal seinen Beobachtungsposten am Klavier und wanderte langsamen Schrittes um die Tanzenden herum und zwischen ihnen hindurch, während sie seine Schrittabfolge zum Besten gaben. Dabei fiel nun auch der ein oder andere Kommentar: "Wieso schauen Sie auf den Boden? Keine Sorge, der ist immer noch da, um Sie aufzufangen, wenn Sei fallen! Kinn hoch, Augen gerade aus. Und dann ab nach links!" – "Was soll das sein? Ein Flamingo mit muskulärer Dystrophie?! Herrgott... meine Augen. Ab nach links." – "Ich bin mir sicher, Ihre Großmutter im Altersheim beugt das Knie eleganter als Sie. Nach links." – "Netter Versuch. Nach links." – "Zu langsam. Nach links." – "Zu schwerfällig. Nach links." – "Ugh. Links." Nach links, das bedeutete: zu den Schlechten ins Kröpfchen. Im Nu war die Zahl der Anwärter auf eine Rolle in seinem nächsten Ballett so auf zwanzig geschrumpft. Dann war das Rotkäppchen an der Reihe.

    2 Mal editiert, zuletzt von Jinx (8. Januar 2025 um 17:04)

  • Gespannt beobachtete Elodie, wie ihre neuen Kolleginnen und Kollegen das Grand Allegro interpretierten. Sie sah viele unglaublich begabte, starke, bewegliche, leichtfüßige und musikalische Darbietungen. Jeder hier war ein absoluter Profi, und es war wirklich ein Privileg, dazugehören zu dürfen. Viele von ihnen kannte Elodie namentlich, hatte sie bereits auf der Bühne gesehen und manche von ihnen waren seit Jahren Vorbilder für sie. Nur schwer konnte sie ihren Blick daher von den Tänzern losreißen, um zumindest gelegentlich auch kurz zu Mr. Grayson und Mr. DeWitte hinüberzusehen. Während der CEO wirkte, als würde er genießen, was er sah, oder gelegentlich auch einmal das Gesicht verzog, wenn jemand sich offensichtlich gerade nicht so gut machte, zeigte der Tanzmeister allerdings mit keinem noch so kleinen Zucken, ob ihm etwas gefiel, oder eben auch nicht.

    Es gab recht unterschiedliche Interpretationen der gleichen Schrittfolge zu sehen. Die meisten hatten sich wie Elodie und Tara entschieden, die Kombination mit viel Energie aufzuladen und sie ziemlich lebhaft zu gestalten, es gab aber auch einige etwas schwerer getragene Beispiele, die mehr Gravitas, mehr Bühnenpräsenz ausstrahlten, aber dabei weniger leicht und schwungvoll wirkten. Auch daran gab es in Elodies Augen nichts weiter auszusetzen, technisch machte wirklich jeder hier seine Sache gut, und alles andere war nun einmal Interpretation – aber ihrer Meinung nach passte das nicht so gut zu der vorgegebenen Kombination. Besonders sprang ihr auch Evelyn Rosenbaum ins Auge. Die Principal hatte sich offenbar gegen jede Interpretation entschieden und zeigte die Schritte absolut klinisch rein als pure Demonstration ihres technischen Könnens. Elodie hatte gar nicht gewusst, dass es möglich war, derart steril zu tanzen. Einerseits war es beeindruckend, aber andererseits fühlte es sich allein beim Zusehen schon irgendwie falsch an.

    Und egal was gezeigt wurde, Mr. DeWitte stand da wie versteinert und gab durch nichts zu verstehen, wer von ihnen nun das traf, was er sich vorgestellt hatte, als er ihnen allen die Anweisungen zukommen ließ, was sie zu tanzen hatten.

    Es dauerte tatsächlich nicht einmal sonderlich lange, bis sechzehn Dreiergruppen jeweils gezeigt hatten, was sie konnten, denn das Grand Allegro war zwar anspruchsvoll, aber auch nicht übermäßig lang. Und dann standen sie alle da. Elodie hatte keine Ahnung, was sie als nächstes erwartete, doch es lag eine Spannung in der Luft, die verkündete, dass wichtig wäre, was als nächstes geschah. Tara spürte es offensichtlich ebenfalls, während die Dritte aus ihrer Gruppe scheinbar völlig entspannt mit der Situation umgehen konnte. Es herrschte keine echte Stille im Raum, dafür wurde viel zu viel getuschelt und geraschelt (auch wenn die Profis doch eigentlich mehr Disziplin haben sollten?). Trotzdem fühlte es sich so an, als würde die Stille zerrbrechen, sobald Mr. DeWittes Stimme durch den Raum peitschte. Er zeigte erst auf einen der Tänzer, dann auf die Dritte in Taras und Elodies Gruppe. Da er zuvor schon keine Regung gezeigt hatte, war Elodie nicht einmal klar, ob er gerade diejenigen hervorhob, die ihm besonders gefallen hatten, oder die, deren Leistungen ihm eher weniger zusagten.

    Für einen Moment sah er ihr direkt in die Augen und Elodie fühlte sich eindeutig, wie ein Reh im Scheinwerferlicht und die Röte schoss ihr in die Wangen. Würde er gleich ihren Fehltritt in der Kombination kommentieren? Vor allen im Raum in Frage stellen, ob sie überhaupt hierher gehörte? Elodie war ohnehin bereits wahnsinnig nervös, und Mr. DeWitte war ja nicht einfach nur ihr Boss. Er war eine regelrechte Legende! Bei direktem Augenkontakt fühlte Elodie sich ohnehin immer ein wenig wie auf dem Präsentierteller – viel mehr, als wenn sie auf einer Bühne stand. So konnte sie dem durchdringenden Blick des Tanzmeisters nicht einmal eine halbe Sekunde lang standhalten, bevor sie nervös die Augen niederschlug. Immerhin sank sie dabei allerdings nicht komplett in sich zusammen, sondern bewahrte ihre gerade und aufrechte Haltung. Auch dafür war das jahrelange Training durchaus gut gewesen.

    Wenn Elodies Vater sich einmal Zeit für sie genommen hatte, dann bestand er immer darauf, dass niemand sie je wirklich ernst nehmen und erst recht niemand sie wirklich respektieren würde, wenn sie sich so schüchtern und zurückhaltend benahm. Sie war sich nicht sicher, ob das wirklich stimmte, aber wenn ja, dann hatte sie in diesem Moment wahrscheinlich gerade bereits verloren. Mr. DeWitte wählte Elodie jedenfalls nicht aus, ebenso wenig wie Tara. Nur wenige Sekunden später erfuhren sie dann, dass sie dankbar dafür sein konnten – denn die Ausgewählten Tänzerinnen und Tänzer wurden regelrecht des Studios verwiesen.

    Elodie und Tara sahen sich ungläubig an. Sicher, sie hatten schon Geschichten und Gerüchte über den Tanzmeister gehört, aber dass er wirklich nicht nur irgendwelche Anwärterinnen auf eine Anstellung, sondern feste Solisten und eine Principal einfach so wegschickte, ohne mit der Wimper zu zucken, nachdem sie keine dreißig Sekunden getanzt hatten – das war schon hart. Und es war mehr als offensichtlich, dass jeder noch so winzige Fehler ausreichen würde, um ihnen zu folgen. Das erklärte allerdings nicht, warum Elodie nicht bereits herausgeflogen war, immerhin hatte sie sich bereits einen Fehler erlaubt …

    Der Schock konnte erst einmal einen Moment wirken, während Mr. DeWitte einige Worte mit Mr. Grayson wechselte, bevor es dann an die zweite Kombination ging, die nur noch zu zweit statt in Dreiergruppen getanzt werden sollte. Bevor es jedoch wirklich losgehen konnte, rief der Tanzmeister allerdings Tara noch vorn. Weit nach vorn, sodass sie mit einer der erfahrenen Solistinnen zusammen tanzen würde. Scheinbar hatte er bereits jemanden gefunden, der ihm wirklich gut gefiel und natürlich wollte Elodie sich für Tara freuen. Doch heimlich spürte sie einen ziemlichen Stich der Eifersucht. Es war kein schönes Gefühl, und noch dazu war es umso schlimmer, da sich sofort das schlechte Gewissen meldete, wie sie so über Tara denken konnte – doch es war nun einmal da.

    Als letzte in der Reihe und mit einer ungeraden Anzahl von Tänzern blieb nun niemand mehr, mit dem sie gemeinsam antreten würde. Einerseits würde kaum noch jemand wirklich auf das Schlusslicht achten, die anderen Tänzerinnen und Tänzer wären in Gedanken vermutlich alle bereits bei der nächsten Kombination und jeder wusste, dass die Besten zuerst tanzten. Doch wenn sie Glück hatte, wenn die Aufmerksamkeit noch da wäre, dann war es auch ihre Gelegenheit, sich allein zu präsentieren und wirklich zu zeigen, was sie konnte. Drehungen waren schon immer ihre Stärke gewesen, deutlich mehr als Sprünge, und da die Kombination so deutlich von Odile in Schwanensee inspiriert war, brauchte sie auch bei der Interpretation weniger zu raten.

    Ganz selbstverständlich sah Elodie allen anderen zu, immerhin gab es immer etwas zu lernen und natürlich wollte sie besonders von Taras Darbietung keinen Augenblick verpassen, immerhin war das ein großer Moment für ihre beste Freundin. Doch tatsächlich schaffte sie es währenddessen dennoch, zu sich selbst zu finden und ihre Nervosität einigermaßen in den Griff zu bekommen. Sie hatte eine Woche zur Vorbereitung gehabt, und sie wusste, dass sie dieses Stück meistern konnte. Besser als Tara und besser als einige der anderen, die sie gerade zu sehen bekam, da war Elodie sich sicher. Vielleicht war es irgendwie Taras Moment, aber sie würde ihren eigenen, selbst wenn er im Schatten ihrer Freundin stattfand, ganz sicher nicht vergeuden. So wartete sie, bis alle anderen getanzt hatten und sie an der Reihe war, dann legte sie los – und dieses Mal lief es perfekt. Es war, als hörte die Welt um sie herum auf zu existieren, es gab nur noch Elodie und die Musik. Nichts anderes spielte mehr eine Rolle, sie spürte jede einzelne Muskelfaser ihres Körpers und brachte sie alle unter Kontrolle, um die Kombination ganz genau so zu tanzen, wie sie es vor ihrem geistigen Auge sah, wie sie es sich wünschte und wie sie es geprobt hatte. Dabei vergaß Elodie die anderen Menschen in Raum und was von ihrem Tanz anhing, während sie völlig in den Bewegungen aufging. Genau so war es perfekt und genau so fühlte sich Ballett in den allerbesten Momenten an.

    Erst als sie die Kombination beendet hatte und nur für einen allerletzten Augenblick die letzte Position hielt, hatte sie wieder Augen für das, was um sie herum geschah und bemerkte überrascht, wo sie stand. Natürlich hatte sie gewusst, an welcher Position im Raum sie herauskommen würde, schließlich hatte sie die Schritte oft genug geprobt und gesehen, wie alle anderen sie tanzten, sodass ihr Aufenthaltsort in Relation zu Klavier, Spiegeln und Wänden keine Überraschung war … doch Mr. DeWitte hatte doch noch nicht dort gestanden, als sie begonnen hatte, oder? So oder so, plötzlich stand sie jedenfalls direkt vor ihm. Eindeutig näher, als man einem Fremden für ein Gespräch kommen würde, wenn auch noch nicht so nah, dass sie einander berührten.

    Das hatte eindeutig nicht zu ihrem Plan und dem, was sie geprobt hatte, gehört. Man sollte meinen, es wäre ihr nicht unangenehm, so nah an jemandem zu stehen, wo sie im Tanz doch oft genug eine Menge Körperkontakt mit einem Tanzpartner hatte – doch solche Figuren waren geplant und abgesprochen, das hier war einfach so passiert. Peinlich berührt blinzelte Elodie daher zum Tanzmeister hinauf und trat rasch einen halben Schritt zurück, um ihm nicht länger derart auf die Pelle zu rücken.