"Something in the woods..."

  • "Something in the woods..."

    Der Herr der Nachtmahre

    Fantasy | Dark Fantasy | Horror | Slow Burn Romance (?) | Drama

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    "Da ist etwas im Wald..."

    Mit diesen Worten fing alles an. Danach war nichts mehr, wie es einmal war.

    Ein Dorf umgeben von einem dunklen Wald, in dem ein Fluch die Flora und Fauna zu düsteren Versionen ihrer selbst verzerrt hat – zu Albträumen. Die darin lauernden Kreaturen werden von den Dorfbewohnern auch Nachtmahre genannt. Nachts, sobald tiefste Dunkelheit herrscht, wagen sich diese Nachtmahre in das Dorf und schleichen umher, immer auf der Suche nach einem arglosen Opfer. Manche dieser Kreaturen ernähren sich von der Furcht, andere von Glück. Andere ziehen es vor ihre zappelnde und schreiende Beute für ein blutiges Festmahl in den Wald zu verschleppen. Um die Kreaturen nicht unnötig zu provozieren, herrscht zu allen Tageszeiten beinahe vollkommene Stille in dem kleinen Dorf – besonders nachts. Wer etwas zu sagen hat, der flüstert. Es gibt kein Lachen, keine Musik…Warum noch niemand geflohen ist, fragst Du?

    Der Wald ist zu groß und zu dicht um ihn an einem Tag zu durchqueren, doch wer des Nachts die düsteren Wälder betritt, kehrt nicht mehr zurück. Nur in den drei Tagen um den längsten Tag des Jahres – der Sommersonnenwende – ist es möglich den Wald sicher zu durchqueren. Es ist die einzige Zeit im Jahr, in dem das Dorf Besucher empfängt, Kontakte geknüpft und Handel getrieben werden kann. Es ist ein kurzer aber dennoch gefährlicher Lichtblick, denn es benötigt einen Tag für den Hinweg und einen Tag für den sicheren Rückweg. Wer den richtigen Zeitpunkt verpasst, muss ein Jahr auf die Heimkehr warten. Aus Sorge um die Zukunft ihrer kleinen Gemeinde ist es allerdings den Dorfbewohnern selbst strikt verboten, an diesen Tagen das Dorf zu verlassen. Ein altes Gesetz, das einst dem Schutz diente und gleicht nun einem Gefängnis.

    Es heißt, dass der Albtraum erst endet sobald der Herr der Nachtmahre tot ist. Eine Bestie, die unendliche Finsternis brachte, das Lachen verstummen ließ und alles Glück verschlang, verwandelte binnen eines Wimpernschlages das grüne Paradies in eine dunkle Hölle. Nur die Ältesten der Dorfbewohner scheinen noch um den Ursprung der Bestie zu wissen, doch niemand verliert je ein Wort darüber. Es ist ein Geheimnis, das sie mit ins Grab nehmen werden.

    Wer wird mutig genug sein, sich der Bestie zu stellen?

    Charaktere:

    • Der Nachtmahr | Die Bestie [Calandra]
    • Thure Amkjar | Der Jäger [Jehanne]


    Jehanne

    We all change, when you think about it.
    We’re all different people all through our lives.
    And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
    so long as you remember all the people that you used to be.

    [DOCTOR WHO]

  • "He only wished that it wasn't winter. He wanted to turn his face to the sun and feel it warm him.

    The cold frightened him now. It felt like death, like the long silence of not being, without sense

    of time or place, only the understanding that he must hold on, that someday, there

    would be an end to the terrible stillness. He'd been a long time in the dark."*

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    Er hatte seinen Namen bereits vor langer, langer Zeit vergessen. Er hatte vergessen wie es war außerhalb der Dunkelheit der Wälder zu leben. Wie es sich anfühlte mehr zu wollen als fressen und jagen. Er hatte vergessen wie es war ein Mensch zu sein. Was er ganz ohne Zweifel wusste, war, dass er einmal ein Mensch gewesen war. Ein idyllisches Dorf inmitten friedlicher Wälder und imposanter Berge war einst sein Zuhause gewesen, aber er konnte sich nicht an die Gesichter seiner Nachbarn und Freunde erinnern. Er musste welche gehabt haben. Eine Familie. Einst hatte er eine Stimme besessen, aber diese war vor Ewigkeiten verstummt. Von Zeit zu Zeit sobald die Tage länger, heller und wärmer wurden, kamen die Erinnerungen zurück. Verschwommene und verzerrte Bilder eines Lebens, dass ihm unendlich fremd erschien. Erinnerungen an einen Mann, dessen Spiegelbild er nicht erkannte. Er wusste in diesen wenigen, lichten Momenten, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der er glücklich gewesen war. Mehr war da nicht. Alles, was danach folgte, war Finsternis. Das vergangene Leben rückte zurück in den Nebel seines Verstandes und die Bestie übernahm wieder für ungewisse Zeit die Kontrolle. Er wehrte sich schon lange nicht mehr dagegen. Der Verstand eines Tieres war unkompliziert. Seine Gedanken bestanden aus dem Drang zu fressen und dem Bedürfnis zu jagen. Er ließ sich von seinen Instinkten führen und von dem Zorn, dessen Ursprung ihm fremd war. Zerfleischen und Fressen. Jagen und Töten. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Und je kürzer die Tage wurden sobald das Jahr sich dem Ende neigte desto leichter fiel es ihm. Monat für Monat. Jahr für Jahr.


    Er wusste, dass sich der längste Tag es Jahres näherte. Das Gefühl setzte sich in seinem Bewusstsein fest, zerrte all die verwirrenden Gedanken und Erinnerungen gnadenlos an die Oberfläche. Tagsüber war es ganz besonders schlimm. Sein Verstand quälte ihn unablässig mit einem Leben, dass er niemals zurückbekommen würde. Erst die Dämmerung brachte ein wenig Erleichterung. Der Sommer stellte seinen Geist jedes Jahr auf die Probe. Es war die Zeit des Jahres, in dem sein ursprüngliches Sein beinahe seinem Gefängnis entfloh. Jemand hatte ihm dieses Schicksal aufgebürdet. Es war eine Strafe. Ein Fluch für etwas furchtbar Schreckliches, das er begangen hatte. Er erinnerte sich an spitze Schreie, an warmes Blut an seinen Händen und heiße Blutspritzer auf seinen Wangen. Er erinnerte sich an Tränen, an die bodenlose Fassungslosigkeit...aber er erinnerte sich nie daran, was er getan hatte. Nur, das er es verdient hatte. Das wusste er.


    Die fortgeschrittene Dämmerung tauchte die Ländereien in ein zartes Spektrum aus warmen Farbtönen, die mit beginnender Nacht immer blasser und dunkler wurden. Bald verwandelte sich Rosa in dunkles Violett und bald darauf in schwarzblaue Nacht. Im ganzen Wald war es totenstill bis auf das Rascheln des Windes in den Baumkronen und dem leisen Knacken im morschen Geäst. Kein Waldbewohner traute sich aus seinem Versteck. In die bedrückende Stille mischten sich schwerfällige Schritte und bald darauf ein tiefes, dunkles Grollen, das keinem bekannten Tier gehören konnte. Es war die verzerrte Version eines Knurrens, das weder einem Wolf noch einem wilden Hund ähnelte, und endete in einem langgezogenen Zischen. Etwas in der Dunkelheit des Unterholzes atmete tief und rasselnd ein. Dann folgte ein beinahe unzufriedenes Schnarren begleitet von einem schleifenden Geräusch als zöge jemand seiner Fingernägel über eine Schiefertafel.


    Wenige Sekunden später schälte er sich aus den dornigen Sträuchern am Fuß der mächtigen Eichen. Er. Die Bestie. Der Nachtmahr.


    Sein massiger Körper hatte Ähnlichkeit zum Rumpf eines Wolfes aber besaß die Größe eines Pferdes mit langen, muskulösen Gliedern. Sein Schweif war dünn, nicht buschig, und peitschte ruhelos durch die laue Luft dieser Sommernacht. Unruhig tippte er mit den Vorderkrallen auf den Waldboden, die sich unabhängig voneinander und in einem seltsamen Rhythmus bewegten. Der Brustkorb war breit und der Hals gestreckt, gar leicht gebogen. Darauf thronte der nackte, wolfsartige Schädel mit seinen leeren Augenhöhlen. Ein gedimmtes Glühen erhellte den ausgehöhlten Schädel und schimmerte durch die freiliegenden Sehnen, die den Kiefer bewegten. Dampf schien aus den Nüstern des Schädels zu treten. Ein missbilligendes Geräusch löste sich aus seiner Kehle ehe er den Kopf neigte und mit einer Vordertatze über die dünnen Eisenketten kratzte, die um seinen Hals und sein halbgeöffnetes Maul geschlungen waren. Wieder ertönte das schleifende Kratzgeräusch. Das Eisen bereitete ihm Schmerzen und brannte selbst durch Knochen. Er wusste nicht mehr, wann die Menschen des kleinen Dorfes begriffen hatte, dass Eisen die Bestie und die Nachtmahre in Schach halten konnte. Die feingliedrigen Ketten umspannten die Bäume in unmittelbarer Nähe zum Dorf. Verhedderte sich eine Kreatur darin, war es bei Tag den Dorfbewohnern schutzlos ausgeliefert. Wenige waren stark genug, die Eisenketten zu sprengen oder geschickt genug um hindurch zu schlüpfen, aber es war nicht unmöglich.


    Der Nachtmahr näherte sich dem Stamm einer Eiche und mit einem Ruck prallte sein nackter Schädel gegen die knorrige Baumrinde. Immer und immer wieder zog er die Seite seines Kopf über die scharfkantige Ringe, doch gegen die Eisenkette nützte es nichts. Ein hohes und rhythmisches Gackern ertönte in der Böschung und ließ den Kopf der Bestie in die Höhe schnellen. Aus den Schatten schälten sich ein kleines Rudel von Nachtmahren. Fuchsartige, schlanke Kreaturen mit winzigen Geweihen auf ihren Köpfen, überlangen Zähnen und rasiermesserscharfen Krallen. Das Fell war verklebt mit einer schwarzen Substanz, die träge zu Boden tropfte. Sie waren geradewegs den Mooren entstiegen und umkreisten nun die große Bestie, als witterten sie Schwäche. Der Nachtmahr grollte bedrohlich und es verging ein Herzschlag, da stürzten sich die kleinen, alptraumhaften Wesen auf den größeren Nachtmahr. Klauen und Zähne gruben sich durch Fell, Haut und Knochen. Schwarzes, klebriges Blut tropfte zischend auf den Waldboden. Mit aller Wucht warf sich die Bestie gegen einen Baumstamm bis ein hohes Fiepen erklang und er einen Angreifer zwischen Körper und Stamm zerquetschte. Die knochigen Kiefer schnappten zur Seite und klaubten eines der Albtraumwesen vom Boden. Für die kleinen, schlanken Wesen reichte ihm selbst ein versperrtes Maul. Er biss zu, schüttelte den Kopf wie aufgepeitschter Jagdhund und schleuderte seine Beute zur Seite. Tobend und schnappend bewegten sich das Knäul aus geifernden und knurrenden Kreaturen zwischen den Bäumen hindurch.


    Ich bin es leid, schoss es ihm durch den Kopf. Ganz kurz, dann verstummte die Stimme wieder. Zurück blieb der Trieb eines Tieres.


    Fresse. Zerfleischen. Töten.

    [* Leigh Bardugo - Language of Thorns]

    We all change, when you think about it.
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    [DOCTOR WHO]

    Einmal editiert, zuletzt von Calandra (24. November 2024 um 14:32)

  • Die kleine Hütte sah seltsam leer und trostlos aus, nachdem Thure seine wenigen Habseligkeiten zu einem ungeordneten Bündel zusammengeschnürt hatte. Dunkelheit war über das Dorf hereingebrochen und in der Ferne konnte der Jäger vereinzelte Lichter sehen. Eine kleine Menschenmenge hatte sich auf dem Dorfplatz versammelt, der üblicherweise leer und ausgestorben war. Die Gespräche der Händler drangen bis zu seiner abgelegenen Hütte hinauf und Thure musste zugeben, dass er es genoss. Zwar mochte er die Stille und das Flüstern des Waldes, doch die ständige Trauer und Angst, in die sich die Dorfbewohner tagein, tagaus wie in einen düsteren Mantel hüllten, machten ihm zu schaffen. Die Sommersonnenwende brachte wenigstens etwas Leben in das Dorf. Für drei Tage wich die gespenstische Stille einer hektischen Betriebsamkeit, in der die Bewohner versuchten, alles nachzuholen, was sie das ganze Jahr über versäumten. Es wurde getanzt, gesungen, getrunken, gegessen und gelacht. Jeder tischte seinen besten Braten auf, jeder trug seine feinsten Kleider. Doch sobald diese drei Tage vorbei waren, kehrte alles wieder zum Alten zurück. Gesprochen wurde nur noch im Flüsterton. Die Dorfältesten schalten und schlugen jedes junge Mädchen, das seine liebliche Stimme zu betörendem Gesang erheben wollte. Und Thure selbst? Nun, er wurde wieder wie der Außenseiter behandelt, der er schon sein ganzes Leben war. Die Leute kamen nur noch zu ihm, um Fleisch und Felle zu erwerben und flohen dann, so schnell sie konnten. Noch auf dem Nachhauseweg flüsterten sie ängstlich miteinander, versicherten sich gegenseitig, dass dieser seltsame, hoch gewachsene Kerl, der ganz allein am Saum des Waldes lebte, einfach anders sei. Dass er den Wald betreten konnte und jedes Mal lebend und unverletzt daraus hervortrat, war äußerst verdächtig. Sicherlich beschützte ihn der Herr der Nachtmahre, weil er einen finsteren Pakt mit ihm eingegangen sein musste - falls Thure nicht selbst eben jener Herr war. Und im Grunde genommen war er doch schon seit seiner Geburt verflucht, mit seinem zu kurzen, rechten Bein. Ja, sogar Thures Eltern mussten furchtbare Sünden begangen haben, wenn sie mit einem Krüppel als Sohn bestraft wurden, der mit Monstern sprach und tanzte. So oder ähnlich lauteten die Gerüchte, die um seine Person die Runde machten.

    Im Grunde genommen scherte Thure sich nicht um das Gerede der Dorfbewohner. Er hielt es für einfältiges, hohles Geschwätz, bar jeder Grundlage. Nur nutzte ihm das von Jahr zu Jahr weniger. Je mehr Opfer die Nachtmahre forderten, desto panischer wurden die Dorfbewohner. Je öfter er in den Wald ging, ohne den Kopf der Bestie vorzuweisen, desto mehr verdächtigte man ihn dunkler Machenschaften. Und wenn die Dorfältesten begannen, geifernd und Flüche ausstoßend mit dem Finger auf einen zu zeigen, nun, dann war es Zeit, seine sieben Sachen zu packen und zu verschwinden. Genau das hatte Thure vor. Verabschieden wollte er sich nicht. Jene, die ihm im Dorf noch wohlgesonnen waren, waren Kinder. Elaine mit der Hasenscharte* oder Ensi, mit seinen schielenden Augen. Jene, die ebenfalls mehr schlecht als recht behandelt wurden. Thure wusste, dass besonders diese beiden sich im Stich gelassen fühlen würden. Der Gedanke zog ihm das Herz zusammen, doch er war hier einfach nicht mehr sicher. Mittlerweile glaubte er, dass ein möglicher Tod durch den Herrn der Nachtmahre einem wütenden, mordlustigen Mob, der für all das Leid einen Sündenbock suchte, vorzuziehen war.

    Mit einem letzten Blick auf das ausnahmsweise hell erleuchtete Dorf und seine schäbige Hütte, betrat Thure mit seinen beiden riesenhaften Hunden Calan und Créon den dunklen Wald. Pfeil und Bogen hatte er sicher auf seinem breiten Rücken verstaut und seine Jagdmesser steckten in seinem Gürtel. Obwohl die Sommernacht immer noch warm war, und sein dünnes Leinenhemd und seine Hosen aus gegerbtem Leder ihn ausreichend schützten, hatte er dennoch seinen Überwurf aus Nachtmahrfell mitgenommen. Er schimmerte eigenartig im Sternenlicht, die feinen Härchen changierten zwischen schwarz und bläulich-violett. Die Dorfbewohner hielten allein das für ein klares Zeichen seiner Verdorbenheit, während Thure fand, dass sich Nachtmahrfelle genauso gut verarbeiten ließen wie herkömmliche. Er war pragmatisch veranlagt und mehr Aberglaube als nötig, war ihm zuwider.

    Die Fackel beleuchtete unstet flackernd seinen Weg, während Calan und Créon hechelnd und mit wachsam gereckten Köpfen neben ihm her trotteten. Nervös strich sich Thure seine schulterlangen Haare hinter die Ohren, achtete darauf, seine Umgebung genau zu beobachten. Der Wald war außergewöhnlich still. Kein Nachtvogel sang sein klagendes Lied, noch nicht einmal ein Rudel Wölfe heulte. Thure wusste, was das bedeutete: Ein Räuber ging um, ein wahrhaft großes Raubtier. Und er war nicht naiv genug, um zu glauben, dass sich die wenigen, nicht verfluchten Bewohner des Waldes vor ihm fürchteten. Der Jäger blieb stehen, spähte in die undurchdringliche Dunkelheit. Eigentlich wäre er lieber bei Tageslicht geflohen, doch er wusste, dass ihn die Dorfältesten dann mit Sicherheit erwischt und zurückgebracht hätten. Was man dann mit ihm tun würde, wollte er sich lieber nicht ausmalen. Also hatte er sich klammheimlich im Schutze der Nacht davongeschlichen. Ihm drohte nun weniger Gefahr von seinen Mitmenschen - doch der verfluchte Wald konnte sich umso mehr als todbringende Falle erweisen. Dunkel dräuend ragten die hohen Tannen um ihn herum auf, während ein lauer Wind das raschelnde Laub um ihn herum aufwirbelte. Aus der Ferne hörte der Jäger zischende, keckernde Geräusche. Und sie kamen näher, immer näher. Der dunstige, feine Nebel, der ihm die Sicht erschwerte, legte sich in kleinen Tröpfchen auf seine bleiche Haut, befeuchtete seinen Bart. Aus eben jenem Dunst stoben in atemberaubender Geschwindigkeit etwa fuchsgroße Alptraumwesen. Gackernd und hechelnd, mit listig blitzenden Augen, schossen sie auf ihn zu. Thure zog sein längstes Jagdmesser, dessen Eisenklinge bedrohlich im Mondlicht schimmerte, während Calan und Créon knurrend die Lefzen entblößten. Doch die Wesen rannten einfach an ihm vorbei, verschwanden hinter dichten Nebelschwaden. Wie auf Kommando begannen seine beiden Hunde zu winseln, versteckten sich hinter ihm und klemmten die Ruten zwischen die langgestreckten Hinterläufe.

    Und dann hörte es auch Thure: Ein tiefes, dunkles Grollen, begleitet von einem langgezogenen Zischen. Instinktiv wusste er, dass dies kein Wolf, kein Bär sein konnte. Die schnarrende Atmung des Wesens, das sich ihm auf leisen Sohlen näherte, klang krank, so, als läge es in seinen letzten Zügen. Für einen wahnsinnigen Moment verspürte Thure so etwas wie Mitleid mit dem Geschöpf. Jedenfalls so lange, bis es sich aus den dornigen Sträuchern und Hecken schälte. Abgebrochene Äste knackten und zerbrachen splitternd unter seinen riesigen Pranken, während es an Gestalt gewann. Thure schätzte, dass es die massigen, robusten Kaltblüter der Bauern noch um ein kleines Stück überragen dürfte. Feuer und Rauch stob aus seinen Nüstern und dem Totenschädel, der sich ihm nun bleich und schrecklich zuwandte.

    “Der Herr der Nachtmahre!”, schoss es dem Jäger durch den Kopf. Thure wirbelte herum, stellte entsetzt fest, dass seine Hunde offensichtlich geflüchtet waren und er ganz allein mit diesem Geschöpf war, das mit katzenhafter Eleganz und vollkommen siegessicher auf ihn zu schlich. So, als wüsste es, dass er keine Chance gegen es hatte, egal, wie scharf seine Messer waren und wie weit sein Bogen schoss. Kurz wägte er ab, ob er es nicht doch auf einen Kampf anlegen sollte, entschied sich aber dagegen. Auch lautes Rufen oder Klatschen würde ihm nicht helfen, denn bei den Nachtmahren handelte es sich nicht um gewöhnliche Tiere. Manchmal schienen sie über mehr Verstand zu verfügen und an diesen hoffte der Jäger nun zu appellieren.

    Thure hinkte ein paar Schritte rückwärts, versuchte, seine hektische, stoßweise Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Schweiß brach ihm am Haaransatz aus, als er sein Messer fallen ließ, die Hände hob - und mühsam auf die Knie sank. Er senkte den Blick, um das Wesen nicht noch mehr durch Blickkontakt zu reizen und kauerte sich anschließend auf dem feuchten Boden zusammen, das Gesicht ins modrig riechende Laub gedrückt. Thure machte sich so klein, wie er konnte, atmete so flach, wie es ihm möglich war, während er übermäßig laut hörte, wie die Bestie näher kam.

    “Wenn Ihr mir nichts tut”, hörte er sich leise krächzen, während er zittrig ausatmete, “dann will ich auch Euch keinen Schaden zufügen. Ich bin nicht hierher gekommen, um Euch zu verletzen … Ich muss nur diesen Wald durchqueren und danach werde ich Euch nie wieder behelligen, ich verspreche es. Nur bitte … lasst mich leben, Herr.”

    Thure wusste selbst nicht, warum, aber ihm erschien die respektvolle Anrede angemessen. Immerhin wurde das Geschöpf “Herr der Nachtmahre” genannt, hatte Rang und Namen. Noch immer mit dem Gesicht im Dreck betete er zu den alten Göttern, die seit einigen Jahren im Dorf so sehr verpönt waren und hoffte, dass man ihm Gnade erweisen würde.


    * Der korrekte Begriff dafür ist Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, da es sich allerdings um ein mittelalterlich angehauchtes RP handelt, werde ich den veralteten und heute als ableistisch geltenden Ausdruck “Hasenscharte” benutzen.

    Permets-tu?

    Einmal editiert, zuletzt von Jehanne (24. November 2024 um 17:21)

  • Ein namenloses Grauen schälte sich aus dem Nebel und zwischen den bleichen Knochen seiner Kiefer trug es die erlegte Beute. Der kleine, leblose Körper durchbohrt von tödlichen Reißzähnen baumelte schlaff in seinem Maul. Der massige Körper der Bestie erbebte unter schwerfälligen Atemzügen und das nachtblaue beinahe schwarze Fell glänzte feucht im fahlen, kühlen Mondlicht. Ein Zittern durchlief seine Flanken während die Rute unruhig hin und her peitschte. Sämtliche Muskeln standen unter enormer Spannung alle Zeit bereit, sich der nächsten Horde gieriger und blutdurstiger Mäuler zu stellen. Er hatte sich in Zeit drohender Schwäche behauptet und seine Stellung im Machtgefüge des Waldes gesichert. Unweit des unscheinbaren Trampelpfades hatte er ein blutiges Schlachtfeld hinterlassen, über dessen Überbleibsel sich zweifellos bereits die ersten Aasfresser hermachten. Mit gespitzten Ohren horchte der Nachtmahr in die Stille des Waldes und lauschte dem bezeichnenden Knirschen und Reißen von Haut, Muskeln und Sehnen. Die vertraute Geräuschkulisse durchbrach ein klägliches Fiepen gefolgt von ängstlichem Jaulen. Mit dem toten Leib zwischen den Zähnen reckte der Nachtmahr das bleiche Haupt in die Luft und sog rasselnd die Luft durch die glühenden Nüstern ein. Der Geruch von Hund aber vor allem von Mensch tränkte die Sommernacht. Die Bestie senkte den Kopf und spähte in die Dunkelheit zwischen den Bäumen zwischen deren mächtigen Stämmen sich ein flackernden Leuchten abzeichnete. Unter dem Körper seiner Beute schob sich seine Zunge, so lang wie der Unterarm eines Mannes, hervor. Hechelnd setzte sich der Nachtmahr in Bewegung. Welcher Dummkopf sich auch in der finsteren Nacht in den Wald hinein wagte, würde nicht weit kommen. Er spürte sie. Die hungrigen Kreaturen, die sich zur Hetzjagd sammelten und schmeckte förmlich ihre Ekstase auf der Zunge. als wären sie eins. Es war leicht sich dem befriedigenden Gefühl weichen, warmen Fleisches zwischen seinen Fängen nachzugeben, zu mal der Leib zwischen seinen Zähnen bereits erkaltete. Durch den Kampf und das beißende Eisen büßte die Bestie etwas von ihrer lautlosen Geschmeidigkeit ein. Wer immer sich hinter der nächsten Baumreihe befand, hatte sein Ende kommen hören.

    Der beißende Geschmack von Furcht legte sich klebrig und schwer auf seine Zunge. Sein Instinkt verlangte danach das frische Blut und Fleisch zu kosten, dass so viel bekömmlicher war als der fade Kadaver, mit dem er sich bereits begnügte. Ein verlangendes Knurren rollte durch seine gestreckte Kehle noch bevor die leeren, glühenden Augenhöhlen ihr neues Ziel fanden. Der Wind trug eine Welle neuer Angst herüber und augenblicklich stellte sich das dichte Fell in seinem Nacken auf. Die Krallen seiner Tatzen gruben tiefe Furchen in den nachgiebigen Waldboden während er den Kopf senkte und sich augenscheinlich zum Sprung bereit machte. Doch der Mann, denn des war eindeutig ein Mensch, der auf dem Boden kauerte, machte keinerlei Anstalten zur Flucht. Irritiert zuckten die zuvor angelegten Ohren des Nachtmahres nach vorne und nun lag wirklich die ungeteilte Aufmerksamkeit der Bestie auf dem nächtlichen Eindringling.

    Achtlos ließ der Nachtmahr den Kadaver des fuchsartigen Wesen aus seinem Maul fallen, der mit einem dumpfen Aufprall am Boden aufkam. Mit der eigenartig langen Zunge leckte sich der Räuber über die Lefzen - oder hätte es getan, wenn er denn welche besessen hätte. So fuhr seine Zunge lediglich feucht über blanken Knochen. Beim nächsten Grollen stob dichter Qualm aus seinem Maul und Nüstern. Der Mensch roch seltsam. Ihm haftete der Geruch der Nachtmahre an und das war für einen Menschen äußerst ungewöhnlich. Die toten Augenhöhlen richteten sich auf den länglichen Gegenstand, der unweit des Mannes im Gras lag. Der metallische Gestank von Eisen waberte herüber und der Nachtmahr wollte drohend das Maul aufreißen, doch die dünnen, netzähnlichen Eisenketten um seinen Schädel hielten ihn davon ab. Ein gleißendes Brennen fraß sich in den Leib der Bestie und widerwillig schüttelte er Kopf und Hals gegen den brennenden Schmerz. Ein weiteres Mal kratzte er mit den scharfen Klauen über den eigenen Schädel um die Schlinge abzustreifen. Doch alle Bemühungen nützten ihm nichts. Angestachelt durch den Schmerz fixierte der Nachtmahr den Mann und näherte sich mit bedrohlich gesenktem Haupt. Der Mensch wagte es nicht den Blick anzuheben, besaß aber genug Mut, um in der Finsternis zu flüstern. Der Nachtmahr stieß als Antwort ein kurzes und ruckartiges Knurren aus, woraufhin der Mann sofort verstummte.

    Lauernd neigte der Nachtmahr den Kopf noch ein wenig tiefer bis sein knöcherner Schädel auf einer Höhe mit dem Kopf des Menschen schwebte. Er öffnete und schloss sein Maul, spürte und hörte, wie die Sehnen seiner Kiefer arbeiteten. Dunkles Blut seiner Beute von seinen Kiefern auf den kauernden Menschen hinab. Im fahlen Licht des Mondes offenbarten sich die unzähligen kleinen Biss- und Klauenspuren auf dem Leib der Bestie und damit auch die Ursache für den feuchten, glänzenden Schimmer seines Fells. Heiß und zischend tränkte sein Blut den Boden.

    Die unterwürfige Haltung besänftigte den animalischen Teil seiner Selbst. Um die hoffnungslose Lage des Mannes zu unterstreichen, presste der Nachtmahr seine qualmenden Nüstern mit Nachdruck in den präsentierten Nacken während die vordersten seiner Reißzähne unmittelbar das zerbrechliche Genick streiften. Er konnte das Maul gerade weit genug öffnen, um den Hals des Mannes mit beiden Kiefern zu umschließen. Ein Biss und alles wäre vorbei. Erst als seine Nüstern über das Fell streiften, das sich der Mann über den Leib geworfen hatte, stieß der Nachtmahr erneut ein kurzes, sichtlich irritiertes Schnauben aus. Ein Mensch, der sich in die Überreste eines Nachtmahres hüllte, war ihm noch nie unter die Nase gekommen. Der Schädel zog sich ein kleines Stück zurück, zu kontrolliert und zu präzise für ein triebgesteuertes, wildes Tier. Wieder befand sich sein halbgeöffnetes Mal direkt am Kopf des Mannes.

    "Geh...zurück...", ertönte eine dumpfe, verzerrte Stimme eines Mannes aus dem glühenden Schlund des Schädels. Sie erschien menschlich und gleichzeitig ganz und gar unmenschlich. Die Kiefer bewegten sich kaum merklich während das Eisen über den bleichen Schädel kratzte. "...oder...stirb. Niemand....verlässt meinen Wald. Du...hast Glück, Mensch. Die längste Tag naht...Geh."

    We all change, when you think about it.
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    [DOCTOR WHO]

  • Bebend blieb Thure am Boden liegen. Er schmeckte feuchte, faulige Erde und der Gestank von Rauch und Blut drang beißend in seine Nase. Eine warme, zähe, feuchte Flüssigkeit tropfte auf ihn herab, brannte sich zischend in die entblößte, weiche Haut seines Nackens - ein scharfer Kontrast zu dem kalten Waldboden, an den er sich mit aller Macht presste, um dem Untier über ihm zu entgehen.
    Der Jäger unterdrückte ein entsetztes Wimmern, als er spürte, wie die langen, scharfen Reißzähne des Nachtmahrs sein Genick streiften. Die Geste war trügerisch sanft und doch unterstrich sie seine vollkommen hoffnungslose Lage und die tödliche Gefahr, in der er schwebte, weitaus eindringlicher als der heftige Druck, mit dem die Bestie sein Gesicht noch tiefer in den Waldboden drückte. Ihr heißer, feuriger Atem versengte ihm die feinen Nackenhärchen und Thure begann, unkontrolliert zu zittern. Als Wildhüter hatte er unzählige Male gesehen, wie Wölfe ihre Beute zu Tode hetzten und ihr das Genick brachen. Das letzte, kraftlose Aufbäumen des todgeweihten Tieres, mit blutigem Schaum vorm Maul und dann das Krachen und Knacken der Knochen, ein letztes Strampeln, ein atemloses Röcheln – und es war vorbei. Sanfte Rehaugen, die einst scheu und doch neugierig glänzten, flackerten kurz noch einmal auf und erloschen dann wie eine Kerze, die der Wind ausblies. Es erfüllte ihn mit namenlosem Grauen, wie schnell er, als Jäger zum Gejagten, zur Beute geworden war.

    Thure zuckte kurz zusammen, als die unwirkliche Stimme des Ungetüms dröhnend über ihn hinweg wehte. Natürlich hatte er geahnt, dass der Herr der Nachtmahre anders sein musste, als sein Gefolge. Doch nie hatte er es für möglich gehalten, dass er sprechen konnte und dabei so menschlich klang. Entgegen aller Warnungen, die ihm sein Instinkt entgegen schrie, hob Thure den Kopf ein winziges Stück an und sah sich Auge in Auge mit der Bestie. Laub hing in seinen wirren Haaren und Erde bedeckte seine bleiche Wange. Von seinen haselnussbraunen Augen war fast nichts mehr zu sehen, so sehr hatte sich seine Pupille in seiner Todesangst, in dem Versuch, alles in seiner Umgebung zu fassen, um die erstbeste Gelegenheit zur Flucht zu nutzen, geweitet. Doch Flucht war sinnlos, das wusste er nun.
    „Ich kann nicht zurück, Herr. Bitte, die Dorfbewohner glauben, ich sei Euer … Euer Diener. Sie würden mir den Prozess machen, mich aufschneiden und rädern ...“, wisperte er, die Augen vor Entsetzen geweitet. Niemand hatte ihn je von Angesicht zu Angesicht so grausam bedroht. Doch er verstand, was es hieß, wenn man ihn auf dem Dorfplatz so lange anrempelte, bis er stürzte. Wenn man ihm vor die Füße spuckte. Und obwohl Thure meistens still und unscheinbar in irgendeiner Ecke der kleinen Dorfkneipe saß, ja, sogar versuchte, sich zusammenzukauern und seine hünenhafte Gestalt zu verbergen, so hörte er doch, was man über ihn redete. Die alte Gismela glaubte, dass er in seinem Inneren ein Fell verbarg, so hässlich und finster, dass es ihm Nacht für Nacht erlaubte, sich in eines jener verfluchten Geschöpfe zu verwandeln, das über das Dorf herfiel. Und Ragund beteuerte, gesehen zu haben, wie er des Nachts nackt und von Sinnen mit den Nachtmahren über Moore und Auen sprang und tanzte. Das halbe Dorf schwor, dass er ein seltsamer Eigenbrötler war, mit einem Herz so kalt und frostig, wie der Winter, in dem er geboren worden war. Warum sonst hatte er nie geheiratet, keine Frau, keine Kinder vorzuweisen? Irgendetwas musste mit ihm nicht mit rechten Dingen zugehen. Nein … nein, wenn er zurückkehrte, würden sie überprüfen wollen, ob er wirklich ein Fell verbarg. Man würde ihm den Prozess machen, froh darüber, endlich einen Sündenbock für all das Leid, das das Dorf erdulden musste, gefunden zu haben. Sicher hatte er auch seine Fürsprecher, Menschen, die er als einigermaßen gute Bekannte bezeichnen würde, allen voran Elaines und Ensis Eltern. Doch ihr Wort würde kaum genügend Gewicht haben, wenn man ihm an den Kragen wollte …

    Todesmutig brachte Thure sich in eine kniende Position, sah dem Nachtmahr mit bebenden Lippen in die rot glühenden Augenhöhlen und präsentierte ihm seine Kehle, während er eilig weitersprach. Es schien, als würden all die Worte, die er sich sonst im Alltag versagte und an denen er sich schier die Zunge blutig biss, nun aus ihm hervorbrechen: „Lasst mich Euren Wald passieren und wenn Ihr Euch dazu nicht in der Lage seht, dann tötet mich. Aber bitte, lasst Gnade walten und tut es schnell.“
    Der Jäger schluckte heftig, einmal, zweimal, bis er der dünnen Kette gewahr wurde, die dem Nachtmahr das furchteinflößende Maul halb zuschnürte. Er streckte eine heftig zitternde, langgliedrige Hand danach aus und beschloss, dass er nichts mehr zu verlieren hatte: „Ich kann Euch wahrlich nichts anbieten, damit Ihr mich nicht in Stücke reißt, denn ich habe Euren Wald nur mit meinen Kleidern am Leib, ein paar Vorräten, meinen Messern und meinem Bogen betreten. Doch ich sehe, dass Euch diese Kette quält. Ich kann Euch davon befreien, ich tue alles ...“, wisperte er mit dünner Stimme, während ihm salzige Tränen über die bleichen, schmutzigen Wangen liefen. Oh, was hatte er die übrigen Dörfler wegen ihrer Angst insgeheim verspottet. Und nun kniete er auf dem feuchten Waldboden, mit dem heißen Blut der Bestie besudelt und bettelte inbrünstig um sein erbärmliches Leben, das ihm in den letzten Jahren immer sinnloser, düsterer und leerer vorgekommen war.
    „Ihr wisst, worum ich im Gegenzug flehe“, seufzte er resigniert und ließ die breiten Schultern hängen, während er auf sein Urteil wartete. Ironischerweise glaubte er, dass der Nachtmahr ihm vielleicht wirklich mehr Gnade erweisen würde, als die nach Blut lechzende Menge, die unten im Dorf auf ihn wartete. Immerhin behandelte er das Geschöpf, das sein Dorf schon so lange in Atem hielt, gerade deutlich respektvoller als seine Mitmenschen.

    Permets-tu?

  • Todesangst besaß eine ganze eigentümliche, verlockende Note. Sie unterschied sich von gewöhnlicher Angst durch eine beinahe unwiderstehlichen Süße, die einen Räuber förmlich dazu einlud seine Fänge in den zitternden Leib ihrer Beute zu schlagen. Die Versuchung sang in seinem Blut, zog und zerrte an den Instinkten des gnadenlosen Jägers, dessen Beute sich lediglich wenige Millimeter vor seinem geöffneten Maul befand. Der Nachtmahr witterte kalten Angstschweiß vermischt mit dem Gestank versengter Haare und einem Hauch von Salz in der Luft. Gemeinsam mit dem betörenden Hauch der Furcht fluteten diese Eindrücke seine Lungen. Rasselnd amtete die Bestie ein, als wollte sie sich die Fährte ganz genau einprägen, um die Spur während der drohenden Hetzjagd nicht zu verlieren. Die Euphorie der Jagd, die sich während des langen Winters in unstillbare Mordlust verwandelte, war kein Fremder für ihn. Doch nur im Sommer ließ ihn die Jagd eine Freude empfinden, die ihm für einen winzigen Moment einen Bruchteil menschlicher Gefühle zurückgab. Sobald das Licht die Finsternis zurückdrängte, kehrten Bruchstücke seiner Vergangenheit zurück. Es hatte Jahre gedauert bis er dahintergekommen war, dass dieser Fluch, was immer ihm auch angetan wurde, mit den langen Sommertagen an Macht verlor. Aber es war nie genug. Es reichte nur für einen Tag. Einen verfluchten Tag um ihm vor Augen zu führen, was einst gewesen war.

    ‚Herr…?‘ Der Nachtmahr legte den Kopf schief, als die schlotternde Gestalt sich todesmutig aber kniend aufrichtete. Sie hatten ihm im Lauf der Zeit viele Namen gegeben, aber Herr hatte ihn noch niemand genannt. Glühende Augenhöhlen schienen sich geradewegs in die geweiteten Pupillen der angsterfüllten Augen zu bohren. Monster, Bestie, Dämon, Ungetüm, Teufelsbrut…Er kannte sie alle. Der Nachtmahr lauschte dem ängstlichen Gestammel des Mannes, dessen Gesicht das erste Mal in den unwirklichen Lichtschein der Glut seines Schädels rückte. Spuren des Waldbodens beschmutzten die das Gesicht, welkes Laub und Grashalme hatten sich im Haarschopf verfangen. Der Mann – dieser Jäger – hatte Weichheit der Jugend bereits vor langer Zeit abgelegt. Das Leben musste ihm übel mitgespielt haben, denn unter der Furcht und einem wilden Bart verbargen sich kantige, verhärtete Gesichtszüge. Der Mann flehte, er konnte es an der etwas zu hohen Stimmlage ausmachen, aber die meisten der gewinselten Worte verloren ergaben für ihn keinen Sinn. Ihre Bedeutung erschloss sich seinem zerrissenen Verstand schlichtweg nicht. Zu viele suchten zu schnell einen Weg über die Zunge des Mannes, aber er glaubte den Sinn dahinter zu verstehen. Etwas bereitete ihm mehr Furcht, als die düsteren Kreaturen des Waldes. Eine Furcht tiefer und vielschichtiger, als es der Verstand einer Bestie begreifen konnte. Der Mann wollte weg, aber das war nicht möglich.

    Unmöglich“, knurrte der Mahr unnachgiebig und mit trägen Silben. „Geh zurück…“

    Was den Nachtmahr jedoch mehr faszinierte, waren die feuchten Tränenspuren auf den verdreckten Wangen. Die lange Zunge des Ungetüms hing bereits aus dem qualmenden Schlund, da schreckte den Nachtmahr eine Bewegung auf. Etwas näherte sich schleichend von der Seite, pirschte sich vorsichtig heran. Aus dem bleichen Tierschädel befreite sich ein zorniges und bedrohliches Knurren, dann packten die starken Kiefer zu. Welches lästige Biest sich auch herantraute, würde es bereuen. Der überwältige Geschmack von frischem Blut legte sich auf seine Zunge und als die Bitterkeit und das heiße Brennen ausblieb, dass er von den kleineren Mahren gewöhnt war ausblieb, erstarrte die Kiefer bevor sie den Knochen zermalmen konnten. Das Blut war warm und ihm haftete eine schwere Kupfernote an. Das Fell in seinem Nacken stellte sich auf. Er hatte den Unterarm des Mannes gepackt und damit die Hand gestoppt, die nach seinem Schädel gestrebt hatte. Die Kiefer des Nachmahres spannten sich an, was die scharfen Zähne tiefer in das warme Fleisch und die sehnigen Muskeln bohrte. Das Jagdmesser lag noch immer am Boden und er erkannte aus dem Augenwinkel, dass die Hand des Jägers in der Tat leer war. Es war nie die Absicht des Mannes gewesen, ihn anzugreifen. Der Gedanke war dermaßen befremdlich, dass der Nachtmahr ein irritiertes Schnarren von sich gab. Was hatte dieser Mensch sich nur dabei gedacht? Die Ketten.

    Die Bestie lockerte ihre Kiefer und behielt dennoch den blutigen Arm für einen Moment länger in einem warnenden Halt. Er begriff, dass der verzweifelte Mann einen nicht minder verzweifelten Handel ersuchte. „Du dummer Mensch. Soll ich dir den Arm ausreißen? Ich kann Dich nicht gehen lassen.“ Trotzdem. Kein Mensch, der bei klarem Verstand war, würde jemals einem Monster...helfen. Die Rute peitschte aufgebracht über das gefallene Laub am Boden. „Warum willst Du…das tun…? Du stinkst nach…Angst.“

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    [DOCTOR WHO]

  • Thure schrie gellend auf. Heiß und stechend schoss der Schmerz durch seinen Unterarm und für einen kurzen Moment glaubte der Jäger, alles sei vorbei. Sein erbärmliches Leben, seine dummen Ängste - ausgelöscht, ein und für allemal. Eine gute Zeit lang war ihm dieser Gedanke sogar tröstlich erschienen, wenn er alleine in seiner Hütte saß und an seiner Einsamkeit erstickte. Doch so schnell, wie die kräftigen Kiefer ihn gepackt hatten, so schnell ließen sie ihn auch wieder los.
    Der Jäger hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen verwundeten, vom Blut glitschigen Arm. Vielleicht hatte er jetzt endlich jedes köstliche Tröpfchen Angst aus seinem Körper herausgeschwitzt oder es war die bleierne Müdigkeit, die ihn nicht mehr klar denken ließ - doch anstatt sich herumzuwerfen und loszurennen, hob er seinen unversehrten Arm und hielt ihm dem Herrn der Nachtmahre unter die qualmenden Nüstern.
    “Weil ich weiß, wie sich andauernde Schmerzen anfühlen”, murmelte er undeutlich. Langsam kroch er ein paar Schritte zurück und richtete sich mit noch immer gesenktem Kopf zu seiner vollen Größe auf. An sich, das wusste Thure, wirkte er auf den ersten Blick durchaus beeindruckend. Er überragte die meisten Dorfbewohner um mindestens einen Kopf, war breit gebaut, vermittelte einen robusten Eindruck. Doch dieser schwand schnell, sobald den Menschen auffiel, dass seine Haltung etwas schief und die Sohle seines rechten Schuhs ein gutes Stück höher als die linke war, um sein verkürztes Bein so gut es ging auszugleichen. Thure scharrte mit seinem zu kurzen Bein über den morastigen Boden, während sein verwundeter Arm dumpf pochend und nutzlos an seiner Seite baumelte. Er versuchte, dem Schwindelgefühl, das sich sirrend in seinem Kopf ankündigte, nicht nachzugeben.

    “Das hier …”, sagte er sachlich, während er mit dem Kinn auf sein Bein deutete: "Das kann ich nicht ändern. Aber die Kette, die dich quält - die kann ich entfernen. Mir hat nie jemand geholfen, warum also sollte ich mich genauso unbarmherzig verhalten?”, fragte er geradeheraus. Der Jäger war sich immer noch unsicher, wieviel das Biest wirklich von dem verstand, was er sagte, wann er es mit reinen, animalischen Instinkten oder dem fast schon menschlichen Verstand zu tun hatte. Aber solange es möglich war, wollte er an Letzteren appellieren. Er hob seine unverletzte Hand deutlich vor sein schmales, kantiges Gesicht und bewegte sie unendlich langsam auf den alptraumhaften Kopf des Nachtmahrs zu. Vielleicht war es Gewohnheit, vielleicht versuchte er auch nur gerade selbst, seine Nerven zu beruhigen, doch er sprach noch immer zu dem Untier. Redete mit ihm, wie er es mit einem verwundeten Wildtier tun würde, das zwar unberechenbar aufgrund seiner Schmerzen war, aber dennoch Hilfe benötigte.
    “Gleich ist es besser, Ihr werdet sehen … haltet still”, sagte Thure in einem gleichmäßigen, sanften Singsang, seine Stimme tief und beruhigend, als er die feine Kette behutsam begann, von dem riesigen Schädel zu schälen. Er konzentrierte sich auf diese Aufgabe allein, blendete die gewaltigen Kieferknochen, die scharfen Reißzähne aus, achtete darauf, der feurigen Glut, die aus den Nüstern stob, nicht zu nahe zu kommen. Während er arbeitete, erlaubte er sich, das Fell des Nachtmahrs eingehender zu mustern. Es changierte ebenfalls zwischen den Farben schwarz und blau, wirkte zottig und drahtig und … nass. Nass und verklebt. Stirnrunzelnd ließ Thure die Kette in sein Hemd gleiten. Er wagte es nicht, das Geschöpf erneut ungefragt anzufassen, doch wenn ihn nicht alles täuschte, handelte es sich bei seiner Entdeckung um unzählige, kleine Wunden, die sich der Nachtmahr unmöglich selbst zugefügt haben konnte. Vielmehr wirkte es so, als würde er ständig gegen eine kleine Meute kämpfen müssen, die ihn anfiel, kratzte und biss. In seiner Todesangst hatte der Jäger keinen Blick dafür gehabt, doch der Herr der Nachtmahre befand sich in einem wahrlich desolaten Zustand. Um genau zu sein in einem Zustand, den er üblicherweise an ehemaligen Leitwölfen sah, deren Rudel sich gegen sie gewendet hatte.

    Thure presste die Lippen zusammen und zog seine Hand allmählich vom knochigen, qualmenden Schädel des Mahrs zurück. Es war ihm nicht wirklich bewusst gewesen, doch er hatte nicht nur auf das Biest eingeredet - er hatte den breiten Schädel sanft mit zwei Fingern gestreichelt, nachdem er die Kette entfernt hatte. Ganz so, wie er es bei den vor Angst halb wahnsinnigen Wildkatzenjungen zu tun pflegte, die er päppelte, ganz egal, wie viele Kratzer und Schnitte er sich einfangen würde. Er machte einen holprigen Schritt zurück, dann zwei und musterte den Nachtmahr abschätzend. Sein Herz raste noch immer in seiner Brust, schlug wie ein kleiner, flinker Vogel gegen den Käfig seiner Rippen - doch es fühlte sich anders an. Die Furcht trat in den Hintergrund und Thure fühlte eine eigenartige Welle der Sympathie gegenüber diesem so furchteinflößend anzusehenden Geschöpf.
    Als Junge hatte er früh gelernt, dass man anderen Menschen oft nicht vertrauen konnte. Man hatte ihn gehänselt, herumgeschubst, ihn beschimpft, ihm Freundschaft oder gar Liebe vorgegaukelt, nur, um ihn dann zu hintergehen. Ihn fallen zu lassen.

    Im Dorf sprach jeder gerne von tierischer Grausamkeit, sobald ein Gemeindemitglied ein Verbrechen beging. Doch Thure wusste, dass kein Geschöpf dieser Erde so grausam sein konnte, wie der Mensch. Tiere wurden von Instinkten geleitet, konnten ihre Triebe nicht kontrollieren. Doch Menschen konnten ihren Verstand gebrauchen und entschieden sich nur allzu oft dazu, habgierig, lüstern nach Macht und Schlimmeres zu sein. Und jedes noch so gefährliche, mächtige Tier war am Ende menschlicher Grausamkeit hilflos ausgeliefert, sobald es das Pech hatte, in die Gewalt der Zweibeiner zu geraten.

    Thure legte den Kopf schief und atmete tief ein und aus. Auch wenn der Herr der Nachtmahre zumindest teilweise einen Verstand zu besitzen schien, so hatte er dennoch die Instinkte eines Tieres. Vermutlich hatte er ihn noch nicht einmal aus Bosheit gebissen - sondern aus Angst. Angst war schon immer die Wurzel jeglicher Aggression gewesen und besonders Tiere zeigten dies ganz ehrlich, hatten sie doch gar keine andere Wahl. Und so verließ den Jäger die blinde Panik, die er bis vor Kurzem noch gespürt hatte. Zurück blieb eine schwere Melancholie und eine vorsichtige Wachsamkeit. Er hielt sich den Arm und richtete das Wort erneut an dieses … stellenweise sehr menschliche Tier. Sein Blick war tief, die dunklen Augen müde und von eben jener warmen Melancholie durchdrungen, die er fühlte:
    “Besser?”, fragte Thure und sah schicksalsergeben in die abgründigen, glühenden Augenhöhlen. Die Würfel waren gefallen und die Entscheidung, wie gut ihm sein Wurf gelungen war, lag einzig und alleine bei dem finsteren Geschöpf direkt vor seiner Nase.

    “Seid Ihr denn nicht der Herr der Nachtmahre, habt Ihr diesen Rang verloren? Wie sonst soll ich Euch ansprechen?”
    Mit einem mulmigen Gefühl und dem Wissen, dass ihn dies das Leben kosten würde, würde es sich bei dem Tier um einen Bär handeln, drehte Thure sich um und damit dem Nachtmahr den Rücken zu.
    “Ich gehe jetzt, wenn es Euch beliebt. Ich gehe in mein Dorf zurück, da mir und wie es scheint auch Euch keine andere Wahl bleibt”, kündigte er sein Vorhaben mit zitternder Stimme an, während er auf wackeligen Beinen einen Fuß vor den anderen setzte und doch nicht umhin kam, dann und wann einen Blick nach hinten zu werfen. Zum einen aus Furcht, dass das Tier sich entschließen würde, ihn doch nicht zurückkehren zu lassen - und zum anderen aus Pflichtgefühl. Natürlich war Thure üblicherweise für die wenigen, nicht verfluchten Tiere des Waldes zuständig, pflegte sie, wenn er es konnte und erlöste sie von ihrem Leid, wenn es nötig war. Doch dass er glaubte, die Wunden eines Mahrs versorgen zu müssen, nun, das passierte ihm heute zum ersten Mal.

    Permets-tu?

    2 Mal editiert, zuletzt von Jehanne (28. November 2024 um 16:52)

  • Das markerschütternde Echo des Schmerzensschreis durchschnitt die Nacht und lockte ganz sicher bereits die nächste Horde kleiner Bestien an. Wenn sie nicht dem Schrei folgten, dann sicherlich dem Geruch von frischem Blut, das warm und lebendig im Waldboden versickerte. Kaum war der Jäger still, entließ der Nachtmahr ihn aus seinen Fängen. Mit der langen Zunge leckte er sich das Blut von den blanken Lefzen. Misstrauisch beäugte der Nachtmahr den Mann, der sich vor Schmerz und Schock kaum auf den Beinen hielt und trotzdem keinerlei Anstalten unternahm endlich die Flucht zu ergreifen. Musste er dem Narr tatsächlich erst den Arm abbeißen, damit er verschwand? Vielleicht war er auch nur vor Angst zur Salzsäule erstarrt. Die Vermutung löste sich schnell in Rauch auf, als der Jäger die Hand seines unversehrten Armes hob und erneut in Richtung des bleichen, qualmenden Schädels ausstreckte. Der Kopf der Bestie ruckte zurück und ein drohendes Grollen ertönte aus dem glühenden Schlund. Verstand dieser Mensch nicht, dass er die seltene Chance bekam, den Wald mit dem Segen des großen Nachtmahres zu verlassen? Begriff er nicht, welch unheimliches Glück er hatte der Bestie in genau dem richtigen Moment begegnet zu sein, in der ihr Verstand wach und klar war?

    "Sehnst du dich so sehr nach dem Ende, du Narr?", schnappte der Nachtmahr, doch als die Hand sich ihm dieses Mal nicht unverfroren näherte, stellten sich seine spitzen Ohren auf. Der Mann kroch ein Stückchen zurück und schaffte sich genug Raum um taumelnd auf die Beine zukommen. Schnaubend entstieg den Nüstern des Nachtmahrs ein weiterer, qualmender Schwall. Der Jäger war größer als es den Anschein gemacht hatte. Vollkommen aufgerichtet, musste der Nachtmahr den Kopf kaum noch senken um in das Gesicht des Mannes zu sehen, der ein Riese unter Seinesgleichen sein musste. Dennoch neigte die Kreatur des Waldes sein Haupt mit der Neugierde eines intelligenten Tieres und gleichzeitig mit einer gesunden Portion an Scheu, die allen wilden Lebewesen innewohnte. Die leeren Augenhöhlen fixierten die Ursache für den ungleichmäßigen Stand des Mannes, beobachteten wie der Jäger immer wieder sein Gewicht verlagerte um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Der Kopf des Mahres ruckte in die Höhe, als der Jäger erneut zu ihm sprach. Als stünde er nicht einem Räuber, der vor wenigen Augenblicken noch gedroht hatte ihm den Arm aus der Schulter zu reißen, gegenüber. Der Nachtmahr sah in gutmütige und entschlossene Augen, die gleichzeitig von einer tiefen Wehmut heimgesucht wurden. Es brauchte keine Worte damit die Bestie ihm Glauben schenkte, nur einen Blick in das Gesicht des Mannes, das vom Leben gezeichnet war.

    Unruhig scharrte der Nachtmahr mit den Pranken über den weichen Waldboden, Blätter und Gras raschelten unter seinen mächtigen Klauen. Vom Hals bis zu den Flanken zitterte der Räuber vor Anspannung, alle Zeit bereit für einen tödlichen Sprung nach vorn. Eine Ewigkeit zog vorbei bis mutige Finger es endlich wagten, seinen Schädel zu berühren. Mit halb geöffnetem Maul schüttelte der Nachtmahr den Kopf unter der befremdlichen Berührungen, die nicht darauf abzielte, ihm Schmerzen zu bereiten. Es war...verwirrend. Ein Schwall warmer, nicht glühend heißer, Atem fegte geradezu über das Gesicht des Jägers hinweg, als geschickte Finger die feingliedrigen Ketten lösten. Das Metall kratzte unangenehm über seinen Schädel während der Jäger behutsam an den Ösen nestelte. Wann immer der Nachtmahr seinen Kopf zurückziehen wollte, berührten sanfte Finger die langgezogene Front seines Schädels. Sie glitten von der Wölbung seiner Nüstern bis auf die breite, kahle Stirn und der Jäger hörte selbst dann nicht auf, als die Kette bereits zu Boden gefallen war. Ein schwerer Atemzug löste sich aus der Brust der Bestie und das Zittern seiner Flanken erstarb.

    "Besser?", fragte der Jäger, nachdem der Nachtmahr prüfend seine gewaltigen Kiefer öffnete und den Hals durchdrückte. Sehnen und Gelenke knirschten ekelerregend, als er die seine zurückgewonnene Freiheit einem ersten Versuch unterzog. Das Verschwinden des verfluchten Eisens hatte auch den anhaltendenden, quälenden Kopfschmerz mit sich genommen. Das Denken fiel ihm leichter als zuvor. “Seid Ihr denn nicht der Herr der Nachtmahre, habt Ihr diesen Rang verloren? Wie sonst soll ich Euch ansprechen?”

    "Der Herr der Nachtmahre?", wiederholte die Kreatur und tief ins einer Kehle erklang ein keckernder Laut, der um einige Nuancen tiefer und rumpelnder erklang als bei den kleinen Fuchswesenheiten. Es verging ein Augenblick bis der Nachtmahr begriff, dass der Jäger die Frage aufgrund der unzähligen Wunden stellte, die seinen Leib zierten. "Nur Menschen können sich so etwas ausdenken. In den Nächten gilt das Gesetzt des Stärkeren. Es ist ein Kampf, jede Nacht aufs Neue. Ich bin der 'Herr der Nachtmahre', der König, der Alpha, weil ich der Stärkste bin. Nenn mich wie du willst."

    Der Nachtmahr schnarrte warnend, als der Jäger ihm leichtfertig den Rücken zudrehte. Er könnte beinahe die Idee bekommen, dass dieser Mensch es drauf anlegte. In den finsteren Tiefen des Waldes ertönte ein aufgeregtes Heulen und angestacheltes Keckern. Der Schrei ein Räubers im dunklen Nachthimmel hallte hungrig durch die Finsternis. Der Nachtmahr witterte es auch: Den verlockenden Duft. Und der Jäger verteilte eine herrliche Spur für jede gefährliche Kreatur im ganzen Wald. Das sollte jedoch nicht sein Problem sein, nicht? Der Nachtmahr senkte den Kopf um seine fallengelassene Beute wieder aufzunehmen, als es neben ihm im Gebüsch raschelte und sein Blick auf die im Mondlicht schimmernden Eisenketten fiel. Mit einer klauenbesetzten Pranke schleuderte der Nachtmahr die Quelle des Übels in die Dunkelheit. Wenige Moment später hatte er den Jäger schon eingeholt, der schwerfällig und unter Schmerzen versuchte dem Wald zu entkommen. Das Wittern und Hecheln im Unterholt war nun selbst für das menschliche Ohr deutlich hörbar, doch nichts wagte sich hinaus ins Mondlicht. Der Nachtmahr neigte den bleichen Schädel an die Seite des Mannes bis die blanken Lefzen über die blutigen, zerfetzten Ärmel streiften. Tief sog die Bestie den rasselnden Atem ein.

    "Ich begleite dich ein Stück. Als...Dank für die Ketten. Verschwende deine Sorgen nicht an die Kratzer. Ich heile, schneller als du denken kannst", rumpelte es in der Brust des Nachtmahres. Er hatte nicht übersehen, wie der Blick des Mannes über sein blutiges Fell gewandert war. Stille herrschte zwischen Jäger und Bestie, bis..."Ich hatte einen Namen, vor langer Zeit, aber...ich erinnere mich nicht. Es ist sehr lange her, dass...ich mich jemandem...gesprochen habe. Die Sommersonnenwende steht bevor. Ich fühle es bis in meine Knochen...Meine Gedanken sind dann weniger...verworren. Warum glauben die Dorfbewohner, das du...mein Diener bist? Ich erinnere mich ein wenig...Ich erinnere mich an deine Geruch...Du bist der Jäger des Dorfes, der Wildhüter...Du beschützt die Dorfbewohner, bringst ihnen Fell und Fleisch...Ich verstehe nicht..."

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    [DOCTOR WHO]

  • Thure setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und wirbelte dennoch raschelnd das Laub auf. Ächzend quälte er sich voran und klaubte vorsichtig sein Messer auf, um es sicher zu verstauen, während sein warmes Blut auf den morastigen Boden tropfte. Im Grunde hatte der Nachtmahr mit seiner verärgerten Frage einen Nerv bei ihm getroffen. Thure fand nicht viel Freude am Leben - doch wenn ihm der Tod wortwörtlich gegenüberstand, bettelte er dennoch um Schonung. Und das näher kommende Rascheln im Unterholz, das gierige Fauchen und Keckern, ließ ihn wachsam herumfahren, sorgte dafür, dass er angespannt nach einem Pfeil griff. In Wirklichkeit steckte Thure der Schrecken noch immer so sehr in den Knochen, dass er es noch nicht einmal wagte, eine neue Fackel zu entzünden. Er verließ sich rein auf den feurigen Schein der leeren Augenhöhlen seines unheimlichen Begleiters. Der Jäger erstarrte und kniff die Augen zusammen, als er den Schädel des Mahrs nahe seines zerfetzten Ärmels spürte. Tief atmete er durch die Nase ein und beinahe gleichzeitig mit dem rasselnden Atem des riesigen Tieres neben ihm aus. Thure fürchtete sich noch immer, doch er war kein Feigling. Der mit Bangen erwartete Biss blieb aus, er fühlte lediglich die knochigen Lefzen des Mahrs für einen Augenblick an seinem mit Blut verkrusteten Arm. Und dann sprach das riesige Tier zu ihm. Thure konnte die Tonlage des Geschöpfes schlecht deuten, doch es schien ihm, als ob es eine gewisse Trauer über seine Vergangenheit verspürte. Etwas Schreckliches musste geschehen sein. Der Jäger beschloss, zuerst die Fragen des Mahrs zu beantworten: “Es ist selten, dass Menschen, die den Wald betreten, ihn auch wieder unverletzt verlassen. Ich jedoch … ich halte mich hier jeden Tag auf, manchmal bis in die Abenddämmerung. Ich setze mich hier jeglicher Gefahr aus und kehre stets ohne Verletzung zurück … jedenfalls bis jetzt. Als Jäger …”
    Thure hielt kurz inne und drehte sich zu dem Nachtmahr um, der ihn begleitete, eher er bedächtig weitersprach:
    “Als Jäger erwartet man von mir, dass ich nach Euch Ausschau halte, alles tue, um Euch aufzuspüren und dann zu töten. Ich soll dies tun, um den Fluch, der über diesem Wald liegt, zu brechen - oder bei dem Versuch sterben. Doch ich … ich bin kein Schlächter. Ich nehme ein Leben, wenn ich es muss, nicht, weil es mir Freude bereitet. Viele Menschen im Dorf verstehen das nicht. Wenn sie einen der kleinen Mahre in ihren eisernen Netzen fangen, stellen sie ihn auf dem Dorfplatz zur Schau und lassen ihn von ihren Hunden zerfetzen. Ich kann die übrigen Dörfler schützen und ihnen so viel Fleisch und Felle bringen, wie sie wollen, doch solange ich nicht genauso handele, wie sie, nicht ebenso Bisse und Wunden erleide, werden sie mich stets misstrauisch beäugen. Deshalb glauben einige der Ältesten, ich würde Euch dienen oder ich hätte Euch meine Seele übergeben, mich in irgendeinem völlig amoralischen Ritual an Euch gebunden.”

    Thure holte tief Luft, als sie sich dem Saum des Waldes und damit seinem Dorf näherten. Er wusste nicht, wie man ihn für sein Vergehen bestrafen würde - nur, dass er auf keinen Fall ungeschoren für seinen Fluchtversuch davonkommen würde. Doch bevor er sich all dem stellte, musste er nun seine Fragen an seinen unheimlichen Begleiter loswerden. Er hatte so viele davon, die sich über drei Jahrzehnte seines Lebens angesammelt hatten. Schon als Kind hatte er die Dorfältesten über den Fluch gelöchert. Warum der Wald verflucht war, warum niemand versuchte, ihn aufzuheben oder mehr darüber zu erfahren, warum sämtliche Schriftstücke zu diesem Thema sorgfältig weggeschlossen wurden. Gelobt hatte man ihn nie für seine Neugier und seinen wachen Geist. Im Gegenteil - die Magister schlugen ihm auf die Finger, die Ältesten befahlen ihm, den Mund zu halten, zu schweigen und keine Fragen mehr zu stellen, denn daraus könne nichts Gutes erwachsen. Und so sprach Thure immer weniger und behielt seine Gedanken und Theorien für sich. Er lernte, sich so fest auf die Zunge zu beißen, bis er Blut schmeckte, um ja niemanden durch seine Worte zu erzürnen. Und irgendwann waren ihm nur noch seine schroffe Schweigsamkeit, sein nachdenklicher Blick und sein Zynismus geblieben. Doch jetzt und hier, in der Einsamkeit des Waldes, musste er sich nicht mehr die Zunge blutig beißen, um ja nichts zu sagen, das niemand hören wollte. Die Worte, die er sich so lange versagt hatte, brachen ganz selbstverständlich aus ihm hervor, als er sich dem riesigen Schädel zuwandte: “Gibt es denn irgendetwas, an das Ihr Euch erinnert? Unsere Dorfältesten schweigen sich über Euch aus. Niemand weiß, warum der Wald verflucht wurde und keinem ist es erlaubt, Fragen zu stellen. Bis gerade eben wusste ich noch nicht einmal, dass Ihr … einen menschlichen Verstand habt … oder Erinnerungen, die man Euch gestohlen hat.”

    Thure blieb stehen und bedachte die Umrisse des Dorfes mit einem Blick, der nichts als große Traurigkeit und Enttäuschung ausdrückte. Er seufzte, tief und kummervoll, ehe er sich dem Mahr wieder zuwandte. Für einen kaum wahrnehmbaren Moment zuckte ein kleines, melancholisches Lächeln über seine Züge. Es wirkte geradezu grotesk in seinem markanten Gesicht, ließ ihn trotz seiner riesenhaften Gestalt verletzlich und weich wirken. Doch es war echt und seine Stimme klang sanft, als er weitersprach: “Viele alte Könige von hier hießen Basileus. Es soll Ruinen in diesem Wald geben, die von ihrer Weisheit und ihrer Macht zeugen, doch ich habe sie nie gesehen. Die Dorfältesten verachten sämtliche Schriftstücke dazu. Sie seien verdorben, sagen sie, die Könige kein gutes Vorbild, weil sie falschen Göttern folgten. Ich sehe das anders. Wenn Ihr Euch als König, als Alpha seht, dann …”

    Thure hielt in seinem Wortschwall inne. Seine tiefe, sanfte Stimme war ganz heiser geworden, weil er sie so sonst wenig nutzte und jetzt auf einmal über Gebühr strapazierte. Er räusperte sich und fuhr leise: “Dann gefällt Euch Basileus vielleicht? Es wäre ein besserer Name als Monster. Monster ist die große, hässliche Schwester von Krüppel.”
    Thure erlaubte sich ein kleines, schiefes Grinsen. Er war sich dessen bewusst, dass das Gespräch, das er gerade führte, sich morgen, bei Tageslicht, sicher völlig absurd anfühlen würde. Aber sein Arm hatte endlich aufgehört zu bluten und pochte nur noch unangenehm - da hatte er die Gelegenheit beim Schopfe gepackt, die verurteilenden Blicke, mit denen man ihm gleich begegnen wollte, noch etwas hinauszuzögern. Er ging ein paar Schritte auf die Waldlichtung zu, verlagerte seinen Stand erneut und murmelte: “Habt Dank für Eure … Gnade und Eure Begleitung. Ab hier kann ich alleine weitergehen.”
    Thure ging schwerfällig auf seine Hütte zu, doch bevor er den Wald verließ, drehte er sich noch einmal um und sah dem Mahr in die feurigen Augenhöhlen: “Ich werde weiter Fragen stellen. Und vielleicht wisst Ihr dann eines Tages wieder Euren Namen und Eure Geschichte.”

    Damit humpelte er auf seine Hütte zu, bereit, sich den Herausforderungen zu stellen, die ihn erwarten würden.

    *

    Das erste, was Thure bemerkte, als er aus dem Wald heraustrat, war das erbärmliche Winseln, das aus seiner Hütte drang. Ungeachtet seiner eigenen Schmerzen lief er eilig zu dem windschiefen Gebäude, öffnete die Tür, die einen Spalt breit offen stand zur Gänze und entzündete die kleinen Laternen und Lämpchen. Das sanfte Licht erlaubte es ihm, einen besorgten Blick auf Calan zu werfen. Der große Hund lag zitternd auf Thures spartanischer Bettstatt und blutete aus zahlreichen Wunden. Von Créon fehlte jede Spur. Der Jäger fühlte einen heftigen Stich im Herzen, als ihn die Schuldgefühle heimsuchten. Da draußen, in der Gegenwart des Nachtmahrs, hatte er nichts anderes tun können, als an sein eigenes Überleben denken - seine beiden treuesten Begleiter hatte er völlig vergessen.
    Thure sank ungelenkig auf seine Knie und Tränen brannten in seinen Augen. Calan würde er retten können, da war er sich sicher - doch wenn Créon nicht bald aus dem Wald zurückkehrte, musste er annehmen, dass er den Geschöpfen dort zum Opfer gefallen war. Sanft berührte er die zitternden Flanken des Tieres, das ihm fiepend die Hände leckte und stellte bei näherer Betrachtung erleichtert fest, dass die Wunden eher oberflächlicher Natur waren. Er trug eine scharf riechende Tinktur auf, damit sie sich nicht entzündeten, als er Schritte hörte. Viele Schritte. Nichts Gutes ahnend, trat Thure geduckt durch die niedrige Tür seiner Behausung und sah sich mit Gismela und Ragund konfrontiert. Die beiden Ältesten waren allerdings nicht alleine erschienen. In ihrem Gefolge befanden sich der Schmied des Dorfes, der Fassträger, der Henker und eine Menge schaulustiger Bauern. Kurzum, all jene, die über genügend Körperkraft verfügten, um mit einem der kleineren Mahre - oder mit ihm, Thure fertig zu werden.

    Verschwindet! Calan ist verletzt und ihm gebührt meine Aufmerksamkeit, nicht Euch und Eurem seltsamen Moralkodex!”, fauchte er die Gruppe zornig an. Natürlich wusste er, dass es vor ihrem Urteil kein Entrinnen gab, doch er hatte sich heute schon oft genug in den Dreck geworfen, hatte gewimmert und gefleht. Und egal, was er tat - Gnade würden die Dorfbewohner ihm gegenüber nicht zeigen. Da hatte ihnen der Nachtmahr, wie Thure mit Verbitterung feststellte, offenbar einiges voraus.

    Permets-tu?

  • "Du hast gelernt zuzuhören, dem Wald. Du....bewegst dich leise, im Einklang. Das keine Hexerei", antwortete der Nachtmahr und in den gegrollten Silben schwang ehrliches Unverständnis mit. Zwischen den Worten entstanden immer wieder kleinere Pausen, als suchte die Bestie in den Irrungen und Wirrungen ihrer Gedanken nach den richtigen Wörtern. Eine Konversation zu führen nach einer gefühlten Ewigkeit, die lediglich von Knurrlauten und Grollen gefüllt war, stellte sich als Herausforderung heraus. Die holprige und holzige Sprechweise schien den den Jäger an seiner Seite nicht zu stören. Hexerei. Nur Menschen konnten daran glauben, dass allem Unbekannten etwas Böses innewohnte. Der Nachtmahr hob den Kopf und spie ein langegezogenes und warnendes Zischen in Richtung der Waldböschung. Im Geäst raschelte es hektisch und das keckernde Gelächter der Fuchsmahre erfüllte die Nacht. Nun, bei all den Monstren, die nachts durch die finsteren Wälder schlichen war die Furcht vor der Dunkelheit wohl durchaus angebracht.
    "Dein Kodex ehrt dich, Jäger, aber die Nachtmahre sind Monster. Sie töten und fressen. Vergiss das nicht, wenn du das nächste Mal Gnade walten lässt. Ein Mahr wird dich töten, wenn du ihm den Rücken zudrehst", widersprach der Nachtmahr und war sich dabei sehr wohl bewusst, dass diese Warnung auch für ihn selbst galt. Der Jäger, dieser Mann mit den melancholischen und doch gutmütigen Augen, sollte sich dessen bewusst sein. Er hatte schlichtweg Glück gehabt. Was der Wildhüter als nächstes sagte, stieß erneut auf das Unvermögen, den Sinn der Worte zu begreifen. Amoralisches Ritual... Es verging an langer Augenblick ehe der Nachtmahr ein ruckartiges Schnauben verlauten ließ und dabei den Hals schüttelte, wie ein Hund nach einem Bad im Fluss. Etwas Blut rieselte in alle Himmelrichtungen.
    "Menschen...", schnaubte der Nachtmahr. "Ich bin ein Nachtmahr, kein Dämon. Was sie behaupten ist...Unfug." Am Ende konnten diese Narren es nicht besser wissen. Niemand hatte den Herrn der Nachtmahre je gesehen und von der Begegnung berichten können. Sie konnten nicht wissen, dass er mehr Tier als Mann war. Allerdings entging ihm nicht, das unter dem metallischen und doch süßen Geruch des Blutes die scharfe Note der Abneigung fehlte.
    "Ich kann dir die Antworten nicht geben, nach denen du suchst, Jäger. Alles, woran ich mich erinnere ist Dunkelheit. Ich träume...manchmal, aber ich erinnere mich nur an Bruchstücke", antwortete er und fühlte eine befremdliche Dankbarkeit als der Jäger das Thema auf die Ruinen lenkte. Der Nachtmahr hielt plötzlich auf seinem Weg inne. Er neigte den knöchernen, kahlen Schädel und schien den Mann aus der Tiefe seiner glühenden Augenhöhlen zu mustern. Es lag keine Verärgerung in seiner Stimme, nur aufrichtiges Staunen. "Du willst mir einen Namen geben? Basileus...Ich bin kein König, Jägersmann. Basileus...Du kannst mich so nennen, wenn...du es wünscht."
    Als die Zeit des Abschiedes kam, hielt der Nachtmahr sich zurück. Obwohl er längst nicht alles begriff, wusste er eines mit unerschütterlicher Klarheit: Der Jäger durfte nicht in seiner Nähe gesehen werden. Er würde die freundliche Geste nicht damit vergelten und ihn gänzlich anderen Monstern zum Fraß vorwerfen. Bevor der Mann sich hinkend abwenden konnte, ertönte ein letztes Mal die Stimme des Nachtmahrs im Schatten der Bäume.
    "Die Ruinen im Norden. Ich kenne sie. Wenn du sie wirklich sehen willst...warte. Du musst bis zum Tag vor der Sommersonnenwende warten. Die Mahre werden zu dieser Zeit...friedlicher sein solange der Tag mehr Macht besitzt als die Nacht....folge dem Wildpfad in der Nähe des Baches. Ich werde dich finden."
    Damit verschwand der Nachtmahr in der Dunkelheit.

    _______________________________________________________________________________

    "Hab' ich es dir nicht gesagt!" fauchte Gismela. Mit dem Zeigefinger deutete sich anklagend auf Thure, der erneut lebendig aus den verfluchten Wäldern zurückkehrte. "Ich habe dir so oft gesagt, dass da etwas faul ist an der ganzen Sache. Sieh nach draußen! Sieh hin! Der Morgen ist noch fern und die Zeit der Nachtmahre noch lange nicht vorbei, doch sieh dir Thure an. Er...er...blutet?"
    Das Gezeter der alten Frau mit der krümmen, gebogenen Nase und den buschigen, wilden Augenbrauen, die sie missmutig zusammen zog, erstarb. Das war noch nie passiert. Nicht in all den Jahren, in denen Thure in Ausübung seiner Pflicht in den Wald ging. Ragund und der Rest der schaulustigen Meute folgten ihrem Blick auf den blutigen Arm, an dem der Stoff in Fetzen hing. Bedauerlicherweise hielt der Schock darüber nicht lange an, denn mit bebender Unterlippe erhob Gismela erneut ihre kratzige Stimme, die selbst Ragund als unangenehm empfand, auch wenn er kein Wort darüber verlor. Die Frau war, gelinde gesagt, unheimlicher als mancher Nachtmahr.
    "Die Bestie! Es muss die Bestie gewesen sein. Seht, ich habe es vorausgesagt! Das Biest an ihn gekennzeichnet. Da habt ihr endlich den Beweis!", polterte sie drauflos, verdrehte die vermeintlichen Beweise ganz wie es ihr beliebte und vor allem zu ihren Gunsten.
    "Gismela...", begann Ragund und es sah fast so aus, als hätte selbst er dieses Mal genug von der hysterischen Dame, da donnerte Thures Stimme durch die Hütte, durch sein Haus, dass sie mit Anschuldigungen und ohne Erlaubnis betreten hatten. Was noch mehr Respekt einflößte, als eine zeternde Gismela, war ein wütender Jäger.
    Also gab die Menge Kleinbei und verließ die kleine Hütte am Rande ihres Dorfes, um eilig in den Schutz ihrer Häuser zurückzukehren. Denn am Waldrand huschten stetig flinke Schatten umher, die jedoch den Schein der aufgestellten Fackeln mieden.

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    Der Nachtmahr, Basileus, spürte die Veränderung, die den Wald und all seine Bewohner heimsuchte. Er fühlte es bis in die Knochen. Mit den längeren, warmen Sommertagen verlor die Nacht an Gewalt über die Lebewesen. Die Nachmahre aller Größen und Formen verhielten sich ruhiger als gewöhnlich und die Finsternis der Nacht war schon bald nicht mehr von Geheul der Bestien erfüllt. Es war die Zeit des Jahres, in der das Leben in die Wälder zurückkehrte und mit ihm das Wild. Kleine Herden von Rehen und Hirschen tummelten sich an den Bächen. Kaninchen, Hasen und Eichhörchen erfüllte den Wald mit neuem Leben, von den knorrigen Wurzeln bis in die höchsten Baumkronen. Zugvögel hielten Rast unweit des Dorfes und schenkten der Gemeinde ihr fröhliches Lied. Selbst die Miene der Dorfbewohner hellten sich auf und die Vorbereitungen für die Sommersonnenwende waren bereits im vollen Gange. Endlich gab es am Waldrand wieder Blumen zu finden, die für Grilanden, Gestecke und Haarschmuck gepflückt und zurechtgebunden wurden. Das Vieh beschenkte die Hirten mit dem sehnlichst erwartenen Nachwuchs. Lämmer, Kälber und Zicklein sicherten den Fortbestand der kleinen Herden.
    Der Tag vor der Sommersonnenwende war mit einem herrlichen, blauen Himmel gesegnet und auch die Dämmerung tauchte die Baumwipfel und Dächer der Hütten in ein atemberaubendes, warmes Farbenspiel. Erst als die satten Rot- und Orangetöne dem ersten Blauschimmer der Nacht wichen, zeigte sich auch der Herr der Nachtmahre wieder zwischen den mächtigen Baumstämmen. Basileus schüttelte seine Glieder aus, die mittlerweile ein wenig zu lang und schlaksig für seinen Leib wirkten, den er weiterhin auf allen Vieren trug. Auch der Rest seines Körper nahm beinahe menschliche Züge an, von der glatteren Struktur seines Fells bis zu dem geschrumpften Brustkorb und dem nun leicht kürzeren Hals. Nur der Schädel blieb unverändert, wenn auch das Glühen darin etwas verblasst und die sengende Hitze nachgelassen hatte. Zwar hielt der Schmerz in seinen Knochen und Sehnen an, die sich langsam aber stetig neu formten an, aber er fühlte den Griff der Bestie schwächeln.
    Basileus hockte auf einem Felsen in am Bachlauf und neigte seinen Schädel über das Wasser, als musterte er seine Erscheinung in der Spiegelung des Wassers. Er legte das Haupt schief und das Schnauben, dass ihm entfloh, kräuselte die Wasseroberfläche und verwischte sein Antlitz. Er fühlte den glatten, noch von der Sonne warmen Fels unter seinen Tatzen. Nur war es keine gewöhnlichen Tatzen mehr. Die einzelnen Segmente hatten sich zu langen gebogenen Klauen verlängert. Sie besaßen nun mehr Gemeinsamkeiten mit einer Hand als mit einer riesigen Tatze. Die Nägel waren lang, gebogen und scharf. Eine Gruppe kleiner Fuchsmahre trollte am Ufer entlang, weniger aggressiv, als in den Wochen zuvor und auch ihre Erscheinung, wenn auch weiterhin von dunklem Fell und Geweihen geprägt, ähnelte ein wenig mehr den Tieren, die sie einst gewesen sein mussten. Alles würde enden, sobald die Tage wieder kürzer wurden.
    Es war die Ruhe vor dem Sturm.

    We all change, when you think about it.
    We’re all different people all through our lives.
    And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
    so long as you remember all the people that you used to be.

    [DOCTOR WHO]

  • Obwohl Thure von Gismelas geifernder Meute, die unbedingt einen Sündenbock für all ihr Unglück haben wollte, in Ruhe gelassen wurde, konnte er sich doch nicht richtig entspannen und von seiner Begegnung erholen. Basileus Worte hallten in seinem Kopf nach und auch, als Créon zu seiner großen Erleichterung heimkehrte, das Maul schmutzig vom Blut der kleineren Mahre, musste er immer wieder über sie nachdenken. Der Jäger wusste nun, dass Basileus und auch die übrigen Mahre keine Dämonen waren. Dass er unter seinem Dasein litt, träumte, schmerzvolle Erinnerungen hatte, die nur noch verschwommen existierten. Und deshalb fiel es ihm trotz Basileus' Warnung schwer, die Nachtmahre nur als Monster zu sehen.

    Es war so offensichtlich, dass sie einst Tiere gewesen waren und in Basileus’ Fall sicher sogar mehr als das. Seufzend tätschelte Thure Calans großen Kopf, der in seinem Schoß lag. Der Hund hatte sich gut erholt und genoss genau wie Thure die wärmenden, rotgoldenen Sonnenstrahlen des Sommerabends. Gemeinsam saßen sie vor seiner Hütte, wo Thure Rehhäute und Hasenfelle bearbeitete und immer wieder zum nahen Waldrand sah. Die Dorfbewohner bereiteten sich auf das Sommersonnenwendfest vor und auch Thure würde seinen Beitrag leisten, mit Fellen, Federn und Fleisch. Doch zuvor wollte er Basileus’ Rat folgen und die alten Ruinen besuchen. Für das Fest hatte er sich bereits zurecht gemacht. Sein Arm war verbunden, seinen Bart hatte er ordentlich gestutzt und seine dunklen Haare sorgfältig zu einem Deckhaarzopf geflochten. Dazu trug er ausnahmsweise ein helles, mit Rehen, Füchsen und Rebhühnern besticktes Leinenhemd und eine weiche Wildlederhose, die an den Außenseiten der Hosenbeine silberne, verschnörkelte Spangen aufwies. Auch seine Stiefel hatte er ausgebessert, so dass er einen besseren Stand hatte. Auf seinen Umhang aus Nachtmahrfell wollte er verzichten. Gismela war noch immer so aufgewühlt, da würde sie ihm jegliches unnötige Abweichen von der Norm als Teufelswerk auslegen.

    Thure legte seine Arbeit zur Seite, als er die kleine Elaine sah, die mit wehendem Blondhaar den Hügel hoch gehüpft kam. Sein konzentriertes Stirnrunzeln wich einem breiten, ehrlichen Lächeln, das Grübchen in seine Wangen und heitere Fältchen um seine braunen Augen grub.

    “Prinzessin!”, rief der Jäger erfreut, “Was führt eine so holde Maid in meine bescheidene Hütte?” Thure schob Calans riesigen Kopf von seinem Schoß, stand auf und verbeugte sich übertrieben vor dem Mädchen. Elaine kicherte, raffte ihr blaues Kleidchen und machte einen kleinen, unbeholfenen Knicks. Dann hielt sie dem Jäger stolz einen geflochtenen Blumenkranz unter die Nase.
    “Für dich!”, sagte sie undeutlich. “Mama und Papa haben auch welche. Du kommst doch noch zur Feier, oder? Gismela hätte dich gerne da”, fragte sie hoffnungsvoll, während sie dem mehr oder weniger ritterlich knienden Jäger den Kranz aus Bartnelken, Kornblumen, Klatschmohn und Margeriten auf den Kopf setzte. Thure bedankte sich höflich und versprach ihr, dass er bald nachkommen würde, auch, wenn er nicht sonderlich darauf erpicht war, sich mit Gismela zu unterhalten. Fröhlich pfeifend machte sich das Mädchen auf den Rückweg. Thure jedoch zog sein Wams aus Rehfell an, griff nach seiner Tasche, die er aus dem gleichen Material gefertigt hatte und pfiff Créon herbei, der schon einmal gegen die Mahre bestanden hatte. Er griff sich Bogen, Köcher und Jagdmesser und warf noch einen kurzen Blick zurück auf das Dorf, ehe er den Wald betrat.

    Der Bach plätscherte fröhlich vor sich hin, als Thure dem Wildpfad folgte. Rebhühner raschelten im Unterholz und vor ihm sprang ein junger Rehbock aus dem Gebüsch, während eine Nachtigall ihr liebliches Lied in den Abendhimmel sang. Die Luft war klar und rein, die Bäume trugen satte, grüne Blätter und die Wildblumen standen in voller Blüte. Es schien fast so, als sei der Wald von seinem Fluch erlöst worden, doch Thure wusste es besser. Wenn er genau hinsah, hatten manche Füchse noch immer zu lange Gliedmaßen, Amseln zu lange, spitze Schnäbel. Er folgte dem plätschernden Bach bis er einer ihm bekannten Silhouette gewahr wurde. Der Herr … Basileus saß auf einem Stein nahe des Wassers. Auch er wirkte verändert, menschlicher als vor ein paar Tagen.

    “Basileus … Ich bin es, Thure. Thure Amkjar. Verzeiht, ich hatte es versäumt, mich angemessen vorzustellen”, begann der Jäger mit leiser Stimme die Unterhaltung. Da er sich noch unsicher war, wie der Nachtmahr auf ihn reagieren würde, hatte er sich vorsorglich auf den von der Sonne noch warmen Waldboden gekniet, um ihm zu zeigen, dass er nach wie vor keine Gefahr darstellte. Créon stellte wachsam die Ohren auf.
    “Ihr wolltet mir die Ruinen zeigen. Und ich … ich habe versucht, Informationen zu Euch und Eurer Vergangenheit zu bekommen, aber alles, was ich bei mir habe, ist ein sehr altes Buch über Flüche.” Er zuckte entschuldigend mit den Schultern und rückte seinen Blumenkranz gerade, während er auf Basileus Antwort wartete. An sich hatte er die Ruinen schon gesehen. Zerfallene, von Efeu und Moos bewachsene Mauern. Doch er hatte sie immer nur von Weitem bewundern können. Denn auch die alten Burgen und Schlösser galten als verflucht …

    Permets-tu?

  • Der Frieden täuschte. Das war die nüchterne Wahrheit, derer sich alle bewusst waren sobald sie um die Sommersonnenwende einen Fuß in die verfluchten Wälder setzten. Es war zu verlockend sein Glück auf die Probe zu stellen und länger zwischen den hochgewachsenen Laubbäumen zu verweilen, die Füße an heißen Sommertagen in den Bauch zu tauchen und die Furcht, die die vergangenen Monate beherrscht hatte, zu verdrängen. Der Nachtmahr konnte sie wittern. Die fremden Fährten der Reisenden, die sich an diesen drei Tagen des Sommers den Weg durch seine Wälder bahnten. Das Knirschen und Klappern der Marktkarren, deren Händler die beschwerliche und seltene Gelegenheit nutzten, um im Dorf ihre Kostbarkeiten gegen Felle, Horn und Knochen zu tauschen. Dabei handelte es sich nicht um gebleichte Knochen von Wild, den Fellen rostbrauner Füchse oder poliertem Horn aus Hirschgeweihen. Nein, die Händler kamen um Handelsware, die aus Nachtmahren gefertigt war, zu kaufen. Außerhalb der Waldgrenzen brachten diese ein beträchtliches Vermögen ein und erfreuten sich großer Beliebtheit. Unter den Reisenden zogen auch entfernte Familienmitglieder und Freunde in das Dorf ein. Die Freude über das Wiedersehen endete zumeist in der Knüpfung neuer Familienbande und versprochenen Ehen.

    Basilius witterte den Jägersmann bevor er aus dem Waldrand auftauchte und die kleine Lichtung betrat, durch die sich der Bach friedlich plätschernd schlängelte. Er sah verändert aus, weniger wild. Der Bart ordentlich gestutzt, nicht länger zottelig. Die Kleidung sauber und ordentlich. Blut und Dreck waren lange schon aus seinen rauen Gesichtszügen verschwunden und ohne den dichten Mantel aus Nachtmahrfell gewann der Mahr neue Eindrücke des Mannes, der sich vor ihm schlotternd vor Angst in den Dreck geworfen und am Ende dennoch Mitleid für ihn erübrigt hatte. Diese…Gismela, erinnerte er sich vage, hatte vielleicht nichts ganz Unrecht. Zumindest empfand der Mann weniger Furcht als gesund für ihn war. Der Bogen, der über die Schulter des Jägers aufragte, sorgte kurz dafür, dass sich sein Nackenfell sträubte. War letztendlich doch nur gekommen, um einen Moment der Schwäche auszunutzen und die Aufgabe, die ihm aufgetragen wurde, zu erfüllen?

    Basileus.“

    Der Nachtmahr hob den knöchrigen Schädel. Augenblicklich zuckten die spitzen Ohren in die Richtung des Jägers, nein, Thure. Die Erwähnung seines neuen Namens, vorsichtig und wohlgesinnt, klang ganz befremdlich und entlockte dem Nachtmahr ein Keckern, ähnlich der schnellen Tonabfolge der kleinen Fuchsmahre, aber viel, viel dunkler. Das lag aber wohl doch weniger an seinem Namen, als an dem farbenprächtigen Kranz aus Wildblumen, den er auf Thures Kopf entdeckte. Ungelenk, als wäre Basileus noch nicht gänzlich mit seiner veränderten Gestalt vertraut, stützte er sich mit den Vordergliedmaßen am äußersten Rand des Felsens ab und neigte lediglich den Kopf zu Thure herab. Ganz weit und tief beugte er sich mit gekrümmten Rücken herunter. Das Fell erschien dort kürzer, fehlte in Büscheln und gab den Blick auf die ausgeprägten, knöchrigen Erhebungen der Wirbel frei. Darunter lag tiefschwarze, ledrige Haut. Der Nachtmahr stoppte mit den bleichen Kiefern knapp über Thures Haupt, doch anstatt ihn wie bei ihrer ersten Begegnung noch tiefer zu zwingen, sog er schnaubend den lieblichen, süßen Duft der Wildblumen aus dem Blumenkranz ein. Wieder erklang das gegrollte Keckern in seiner Kehle. Nein, dieser Mann war nicht mit der Absicht gekommen, ihn niederzustrecken.

    „Ein Buch? Dann wirst du mir darauf vorlesen müssen“, ertönte die Stimme durch das halbgeöffnete Maul. Die Stimme hatte an Klarheit und Festigkeit gewonnen. Das ständige Rasseln und verzerrte Dröhnen darin hatte sich gemildert. Der Hund an Thures Seite ließ die schwarze Bestie keinen Moment lang aus den Augen. „Dann komm, Thure Amkjar, wenn du sie immer noch sehen willst, wobei…dein Begleiter erscheint mir weniger angetan. Du hast deinen Bogen dabei? Wenn du gekommen bist um zu jagen, wirst du enttäuscht sein. Meine Anwesenheit wird deine Beute verscheuchen.“

    Der Boden erzitterte leicht, als der Nachtmahr mit einem Satz vom Felsen sprang und auf allen Vieren seiner nun zu langen Gliedmaßen landete. Die Erschütterung verscheuchte die Fuchswesen, die ins Gebüsch flüchteten. Eigentlich hatte seine Haltung mehr Ähnlichkeit mit einem Menschen, der versuchte auf Händen und Füßen zu laufen. Basileus‘ Rücken wölbte sich dabei und sein Kopf durch den verkürzten Hals gezwungenermaßen tiefer zwischen seinen Schultern. Er schüttelte sich und verlor dabei weitere Büschel seines dichten Fells. Thure könnte allein mit den Fetzen ein kleines Vermögen verdienen, wenn die Leute seinen Worten über die Herkunft denn Glauben schenkten.

    Basileus führte Thure nach wenigen Metern am Bächlein entlang zurück in den Wald. Das Schweigen, das sich nun einstellte, war weder bedrückend noch unangenehm, während sie durch den sommerlichen Wald streiften. Wie prophezeit hielten sich die Waldbewohner fern. Die Gelenke seines kahlen Schädels schleiften leise, Knochen auf Knochen, als Basileus mit halbgeöffnetem Maul den Arm des Mannes ins Visier nahm, den er zwischen seinen Kiefern gehalten hatte, dessen Blut in seinen Rachen geflossen war. Dabei berührte er mit seinen glühenden Nüstern den Ärmel des Leinenhemdes, nicht länger heiß genug um den Stoff zu versengen. Er erinnerte sich, der allgegenwärtige Nebel fehlte um seinen Verstand, an behutsame Fingerspitzen, die im Angesicht eines angedrohten Todes trotzdem mit einem unbegreiflichen Verständnis über seine kahle, bleiche Stirn gewandert waren. Nachdem er Thure damit gedroht hatte ihm den Arm abzureißen. Die Ohren des Nachtmahrs neigten sich ganz leicht nach hinten.

    „Wie…geht es deinem Arm?“

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    [DOCTOR WHO]

  • Der Wald wurde, seit er denken konnte, stets als Ort der Finsternis und des Unheils wahrgenommen. Niemand betrat ihn gerne und die Dorfbewohner musterten die dunklen Baumwipfel selbst aus der Sicherheit ihrer Häuser heraus mit Argwohn, zuckten beim leisesten Keckern und Kreischen, das zwischen den Ästen hervordrang, zusammen.
    Doch Thure fühlte einen eigentümlichen Frieden, als er Basileus auf leisen Sohlen folgte, während Créon den Nachtmahr noch immer misstrauisch beäugte und seine lange Schnauze schnüffelnd in den Wind hielt.
    Natürlich hatte sich sein Herzschlag für einen kurzen Moment beschleunigt, als der Mahr sich zu ihm herabbeugte, um ihn zu wittern. Doch die schiere Todesangst, der er zuvor verspürt hatte, war einer wohlgesinnten Wachsamkeit gewichen. Der Jäger wusste, dass Basileus auf seine Art durchaus gefährlich war, dass er ihm mit einem schnellen, gezielten Biss, wenn er es wollte, das Genick brechen konnte. Doch er wollte daran glauben, dass dies nicht geschehen würde.

    “Meinem Arm geht es besser. Ich habe ihn so schnell ich konnte verbunden. Du hast mir keinen größeren Schaden zugefügt. Siehst du, er lässt sich wieder bewegen”, sagte er leise, mit einem nachsichtigen Blick auf den Mahr. Thure bewegte seinen Arm kurz demonstrativ hin und her, beugte und streckte ihn und legte Créon eine Hand auf den zottigen Kopf, während er Basileus genauer betrachtete.
    “Du siehst verändert aus. Schmaler, weniger Fell … Die meisten kleinen Mahre ähneln wieder mehr den Tieren, die sie einst waren”, stellte er sachlich fest, während er den Blick durch den dunkler werdenden Wald schweifen ließ. Die untergehende Sonne tauchte alles in ein feuriges Rot und die Ruinen, denen sie sich immer weiter näherten, sahen aus, als wären sie aus einer anderen Welt. Gismela würde wohl glauben, dass die rot gefluteten Fenster und Innenhöfe nichts weiter als Tore zur Hölle darstellen, doch Thure fand, dass dem Ganzen ein gewisser Zauber innelag. Die Ruinen strahlten eine Wärme aus, die er in seinem Dorf oft sehnlichst vermisste.

    Thure lief aufgeregt an Basileus vorbei, in seinen sonst oft melancholisch blickenden, braunen Augen einen kindlich neugierigen Glanz.
    “Ich habe als Kind so oft Geschichten über die alten Burgen und Schlösser gelesen … über die Könige, die hier einst lebten. Dafür bekam ich ziemlich oft auf die Finger geklopft!”
    Thure lachte auf, der Klang irgendwo zwischen heiter und erbittertem Rebellentum.
    “Kennst du denn Geschichten?”, fragte er an Basileus gewandt, während er in den lichtdurchfluteten Innenhof schritt. Efeuranken bedeckten Zinnen und Türme und für eine Ruine war das Schloss erstaunlich gut erhalten. Der Jäger setzte sich auf ein paar moosbewachsene Treppenstufen und kramte ein altes, in Leder gebundenes Buch aus seiner Tasche hervor, sowie ein paar in Stoff gewickelte Erdbeeren und Brombeeren, die er Basileus einladend unter die knochige Nase hielt. Seinen Bogen hatte Thure neben sich abgelegt, ebenso seinen Köcher. Er wusste, dass er leichtsinnig wirken musste, so, als ob er sich für unbesiegbar hielt, obwohl der Wald noch immer vor Gefahren strotzte und der Herr der Nachtmahre direkt neben ihm stand. Doch tatsächlich hatte Thure in seinem Leben eine Lektion sehr schnell gelernt: Wenn Menschen ihm zeigten, wer sie waren, egal, ob im positiven oder negativen Sinne, so sollte er ihnen glauben. Und Basileus hatte ihm, trotz seines Fluches, Gnade gezeigt. Thure hatte jeden Grund, stets wachsam und vorsichtig zu sein - aber er musste nicht zwingend annehmen, dass der Nachtmahr wirklich nichts weiter als ein Monster war.

    “Ich habe bereits gejagt, aber es ist immer besser, mein Messer und meinen Bogen mitzuführen - auch wenn ich durch deine Anwesenheit einen gewissen Schutz hier habe.”
    Der Jäger stopfte sich eine Beere in den Mund und schlug das Buch, das beinahe auseinanderfiel, auf, während Créon seinen massigen Kopf in seinen Schoß legte und Basileus argwöhnisch anstarrte:
    “Du kannst dich vermutlich immer noch nicht an dein altes Leben erinnern, aber ich denke, wir können annehmen, dass du ein Mensch warst … bist. Und dass dich jemand deines Menschseins beraubt hat. Hier könnten wir ansetzen.”
    Er warf Basileus einen fragenden Blick zu, während er seine Beeren langsam zerkaute und blätterte. In einem anderen Leben wäre er vielleicht gar kein Jäger geworden. Die Dorfbewohner vergaßen es gerne, aber Thure kam ursprünglich aus einer wohlhabenden Familie, die erst durch seine Geburt ihr Ansehen eingebüßt hatte. Hätte er mehr Möglichkeiten gehabt, wer weiß, aus ihm wäre vielleicht ein guter Magister geworden.

    Permets-tu?

  • Basilius schnaubte leicht und schüttelte das wenige, zottelige Fell, das er noch am Leib trug. Er hätte gerne das gute Auge von Thure betont, aber die Veränderung war dermaßen offensichtlich und dem Nachtmahr um diese Zeit des Jahres bereits in Fleisch und Blut übergangen, dass er kaum noch einen Gedanken daran verschwendete. Ganz der Wahrheit entsprach dieser Gedanke letztendlich doch nicht. Basilius wusste, was der morgige Tag für ihn bedeutete. Ein flüchtiger Tagtraum nach einem ganzen Jahr gefüllt mit Albträumen. Je wacher sein Verstand in den vergangenen Tagen geworden war desto größer erwuchs die Gewissheit. Er musste Thure vom am Tag der Sommersonnenwende vom Wald fernhalten. Der Jäger bewies bereits jetzt sein gütiges Herz, doch der längste Tag des Sommers brachte eine Schwäche mit sich die Basilius verfluchte und gleichzeitig herbeisehnte. Bevor Basilius sich nach einer geschlagenen Ewigkeit der Stille und Grübelei zu einer Antwort durchdringen konnte, setzte sich Thure beim Anblick der Ruinen plötzlich in Bewegung. Wie ein junge Bursche, dessen Schatzsuche endlich von Erfolg gekrönt war, stürmte er davon. Selbst sein schlechtes Bein konnte ihn kaum davon abbringen. Der Nachtmahr hielt sichtlich irritiert inne angesichts der Begeisterung, die Thure verströmte. Der Jäger hatte zu keinen Zeitpunkt derartig lebendig auf ihn gewirkt wie in diesem Moment. Zugegeben, bis auf ihre erste verhängnisvolle Begegnung mitten in der Nacht und gestohlenen Beobachtungen aus dem Verborgenen heraus, wusste er fast nichts über den Mann. Dennoch hatte Thure bisher auf ihn wie ein nachdenklicher, besonnener Mann gewirkt. Basilius Ohren zuckten aufmerksam nach vorn während Thure seiner Freude freien Lauf ließ und die Ruinen stürmte wie ein Eroberer die Burg. Es war das erste Mal, dass er den zurückhaltenden Mann lachen hörte. Frei und unbeschwert, so weit fort von dem verfluchten Dorf und seinen misstrauischen Bewohnern.

    Ein Stückchen hinter Thure betrat auch der Nachtmahr die verfallenen Ruinen und bekam gleich den bitteren Eindruck nicht inmitten dieser Schönheit willkommen zu sein. Eine Kreatur der Dunkelheit gehörte nicht an diesen lichtdurchfluteten Ort. Das war etwas, das Basilius in den Zeiten nicht vermisste, wenn sein Verstand mehr Tier als Mensch ähnelte. Verbitterung und Wehmut waren ihm im tiefsten Winter fremd. Der Mahr folgte seinem Begleiter zu den alten, bröckeligen Stufen, die zu einem Eingangsportal führten, dessen gewaltiges Tor bereits vor Jahrhunderten verrottet sein musste. Von vielen Teilen des früher sicherlich prächtigen Schlosses waren zum Teil nur noch die steinernen Gerippe übrig. Den angebotenen Beeren schenkte der Nachtmahr wenig Beachtung. Lediglich kurz schnupperte er daran. Er wollte den Moment nicht verderben, in dem er nüchtern erklärte, dass ein Stück rohes, blutiges Fleisch mehr nach seinem Geschmack war. Stattdessen streckte Basilius seine Gliedmaßen und ließ sich am Fuß der Stufen auf dem Bauch nieder. Ein Beobachter konnte sich beinahe ein bilden, wie Basilius genüsslich die Augen schloss als er den Kopf zum blauen Himmel empor reckte - hätte er den Augenlider besessen um sie zu schließen. Er lauschte nun auch dem Gezwitscher der Singvögel, die sich in den Verwinklungen des alten Dachstuhls eines der Nebengebäude ihre Nester bauten. Dem sanften Rascheln von grünem Efeu in der warmen Sommerbrise, dem Herzschlag der Lebewesen um ihn herum, der immer noch leicht beschleunigten und aufgeregten Atmung von Thure.

    "Gewöhn Dich nicht daran, Thure", mahnte der Nachtmahr und neigte den bleichen Schädel schräg zur Seite, damit er den Jäger ansehen konnte. Die Sommersonnenwende würde vergehen und dann würde alles wieder beim Alten sein. "Ich weiß, dass ich ein Mensch war. Ich erinnere mich kaum, aber ich weiß es. Viel Menschliches habe ich allerdings nicht mehr an mir bis auf... Thure, Du musst mir ein Versprechen geben. Morgen ist die Sommersonnenwende und ich will, dass Du dem Wald fern bleibst, auch wenn es verlockend ist. Du bist nicht dumm, du weißt, dass diese Zeit einen besonderen Einfluss auf die Nachtmahre hat. Such nicht nach mir."

    Beinahe versöhnlich legte Basilius das Haupt auf einer Stufe zu Thures Stiefeln ab und nur seinen zuckenden Ohren ließen vermuten, dass seine ungeteilte Aufmerksamkeit beim Jäger ruhte. Sie zuckten leicht beim Rascheln der Buchseiten. Obwohl der Hund, Créon, ihn mit einem leisen aber drohenden Knurren abstrafte, reckte der Nachtmahr den Kopf und stieß mit seinem kahlen Maul gegen das Buch, das Thure aufgeschlagen hatte.

    "Sind das die Geschichten?", brummte er und legte den Kopf zurück auf die Stufen. "Wirst du mir etwas daraus vorlesen?"

    We all change, when you think about it.
    We’re all different people all through our lives.
    And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
    so long as you remember all the people that you used to be.

    [DOCTOR WHO]