"Something in the woods..."

  • Vielleicht hatte Basileus Recht und die tragische Geschichte der Familie, die hier einst gelebt hatte, würde ihnen nicht weiterhelfen. Und dennoch …
    “Das mag sein”, sagte er ächzend, während er sich dankbar auf die robusten Schultern des Nachtmahrs stützte, “doch unsere Dorfältesten schweigen sich auch über diese Vorkommnisse aus. Wenn es so unwichtig wäre, einfach nur ein weiteres, unbedeutendes Stück Geschichte, das nichts mit dem Fluch zu tun hat … warum ist ihnen so sehr daran gelegen, dass alles Wissen über diese Ruinen für uns verborgen bleibt?”, fragte er nachdenklich. Der Jäger stützte sich noch ein Stückchen des Weges auf Basileus, ehe er seufzend zum in der Ferne grün schimmernden Waldrand sah. Natürlich war Thure bewusst, dass der Mahr ihn heute nicht weiter begleiten konnte. Die ersten Händler waren bereits eingetroffen und mit ihnen ganze Scharen an Jägern und Glücksrittern. Manche der Männer stammten aus anderen Königreichen und unterstanden dem König höchstselbst, was sie in ihrem Geschick, aber auch ihrer Blutlust gefährlich machte. Andere waren nichts weiter als verarmte Bauern, die darauf hofften, sich mit dem Fell der Nachtmahre eine satte Prämie zu verdienen. Und viele dieser armen Seelen hofften natürlich darauf, dass sie es sein würden, die Basileus zur Strecke brachten.

    “Ich danke dir für deine Unterstützung, Basileus”, sagte Thure leise.
    “Pass’ … auf dich auf. Viele, die heute zu Besuch kommen, sind auf eine aufregende Hetzjagd, etwas Ruhm und Geld aus. Königliche Jäger schätzen das Wild, das sie jagen nicht und Nachtmahre noch viel weniger.”
    Der hoch gewachsene Mann verzog angewidert das Gesicht. Bald würde er sich mit ihren prahlerischen Gesprächen herumschlagen müssen, was unweigerlich dazu führte, dass er noch mehr als Sonderling angesehen wurde. Thure fiel es sehr schwer, seine Abscheu gegenüber jenen, die Schwächere aus Spaß jagten, drangsalierten oder töteten, zu verbergen. Er machte sich auf einen unangenehmen Abend gefasst, der vermutlich alleine durch Elaines sonniges Gemüt, frisch gebackenes Brot und ein paar Becher Met erträglich wurde.
    Thure hob die linke Hand zögerlich zum Gruß und humpelte auf den Waldrand zu. Vielleicht hätte er mit der Ausbesserung seiner Stiefel noch etwas warten sollen. Die Sohlen waren noch recht hart und er musste sie einlaufen. Ein Unterfangen, das Basileus zu Recht als schmerzhaft erkannt hatte. Für jemanden, der sich für ein totales Monster hielt, besaß er erstaunlich viel Mitgefühl. Aber das wollte Thure ihm nicht sagen, jedenfalls heute nicht. Der Mahr hatte bereits jetzt Bedenken, dass er der trügerischen Stille der Nachtmahre zum Opfer fiel - diese Bedenken wollte er nicht weiter anfachen.

    *

    Es war bereits dunkel, als der Jäger sich zum Fest begab. Zum einen hatte er noch etwas in dem kleinen Büchlein gelesen, leider, ohne neue Erkenntnisse zu gewinnen. Und zum anderen konnte er so den ausgelassenen Tänzen und dem großen Reigen entgehen. Es kam zwar nicht oft vor, dass man ihn zum Tanzen aufforderte, aber wenn es tatsächlich passierte, fühlte Thure sich furchtbar schäbig, wenn er Interessierte abweisen musste. Er war froh, dass er laufen konnte. Tanzen war für ihn ein Unding, erst Recht, wenn er auch noch führen sollte.

    Der Dorfplatz war hell von Fackeln und kleinen Lampions erleuchtet. Glühwürmchen tanzten durch die Nacht und der Duft von Gebratenem und süßem Gebäck wehte zu ihm herüber. Die bunten Gewänder der Menschen schimmerten im warmen Licht des großen Sonnwendfeuers. Händler priesen noch immer ihre Waren an und Abenteurer und Jäger hatten es sich auf hölzernen Bänken oder auf weichen Fellen auf dem Boden bequem gemacht. Thure selbst trug nur wenige seiner Felle bei sich, die er verkaufen konnte. Ihm war es wichtig, dass die Dörfler für den Winter versorgt waren. Allzu viel wollte er nicht nach außerhalb verkaufen …

    “Da bist du ja! Wir haben dich bereits gesucht!”, ertönte eine amüsiert klingende Stimme hinter ihm. Lächelnd drehte sich der Jäger um und blickte in Vivianes sommersprossiges Gesicht.
    “Meine schlechtere Hälfte besorgt uns etwas Braten und Brot … ein ziemlich schwieriges Unterfangen heute”, stellte Elaines Mutter mit vielsagendem Blick auf die Menschenmenge fest. Die kleine Elaine, die sich am Rock ihrer Mutter festklammerte und mit großen Augen die Jäger und ihre Hunde betrachtet hatte, wandte sich Thure entrüstet zu:
    “Du hast den Reigen verpasst. Mit Absicht!”, hielt sie ihm schmollend vor. Thure schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln und brummte: “Das letzte Mal bin ich dir nur auf die Füße getreten, Prinzessin”, erinnerte er sie, woraufhin Viviane leise auflachte.
    “Allerdings und als Lundt dich stützen wollte, seid ihr umgekippt.”
    Thure verzichtete darauf, Viviane daran zu erinnern, dass ihr Gatte, auch bekannt als ihre schlechtere Hälfte, zu diesem Zeitpunkt fast zwei Krüge Met getrunken hatte.

    Stattdessen führte er die zierliche Frau und ihre Tochter zu einer eher wackeligen Bank, die aus diesem Grund wahrscheinlich frei geblieben war, und winkte Lundt, der geduldig auf ihr Essen wartete, zu.
    “Es sind … sehr viele Jäger gekommen. Mehr, als in den vergangenen Jahren”, sagte Viviane vorsichtig. “Natürlich gibt es auch einige Kauflaute, die versuchen, ihre Töchter oder ihre Söhne zu verheiraten. Aber …” Die blonde Frau ließ ihre Satz unbeendet. Thure wusste, was sie meinte. Die Atmosphäre war anders als sonst. Ausgelassen, ja, aber mit einem fast schon gierig aufgeregten Unterton. So, als erwartete die Menge, dass etwas Großes passierte. Ein Spektakel, etwas, das in die Geschichte einging.
    Basileus’ Tod, zum Beispiel?, fragte eine kleine, gehässige Stimme in seinem Hinterkopf.
    Thure schüttelte sich, schenkte Viviane ein etwas gequält wirkendes Lächeln und schnaubte: “Hoffen wir, dass wir in Frieden feiern können. Ich bin es wahrlich Leid, mit blutdürstigen, halbstarken Aufschneidern sinnlose Diskussionen zu führen. Niemand ist je an den Herrn der Nachtmahre nahe genug herangekommen, um ihm das Fell zu versengen.”
    Außer dir, und jetzt hilfst du ihm - genau, wie Gismela schon immer behauptet hat, flüsterte die Stimme weiter. Ehe Thure sich weiter selbst geiseln konnte, drängte sich Ludt auch schon mit ihrem Essen durch die Menschenmenge. Er war für einen Mann sehr schmal und zierlich, besaß hohe Wangenknochen und wüste, graubraune Locken, die sich wild um seinen Kopf kringelten. Ludt beugte sich zu Viviane herunter, um ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen zu hauchen. Der Schneider lächelte warm in die Runde, was ein paar markante Grübchen in seine schmalen Wangen grub und dafür sorgte, dass seine haselnussbraunen Augen fast vollständig in einem Meer an Lachfältchen untergingen. Kaum jemand im Dorf hatte je verstanden, warum sich die schöne Viviane, mit der anmutig gebogenen Nase, den dicken, blonden Locken und der zarten Haut ausgerechnet für den schmächtig Lundt entschieden hatte - Thure konnte diese Entscheidung tatsächlich sehr gut nachvollziehen.
    “Schön, dass du doch noch gekommen bist. Elaine hat dich schon vermisst. Viel zu tun in den Wäldern?”, fragte Lundt mitfühlend und stellte Brot, Braten und einen Becher Met vor Thure ab.
    Der Jäger winkte ab: “Mach’ dir um mich keine Gedanken. Wo sind Ensi und seine Eltern?”
    “Sehen sich nach einem neuen Umhang für ihn um. Die kommen sicher gleich - aber bis dahin …” Lundt erhob seinen Becher und sagte feierlich mit dem ihm angeborenen Optimismus: “... auf ein paar ausgelassene Tage. Ich bin sicher, dass wir irgendwann wieder ins Licht zurückkehren werden.”
    Thure trank und grinste breit. Bislang war der Abend doch gar nicht so schlecht …

    Permets-tu?

  • „Sieh Dir das an, Yorick. Das sitzen sie und stopfen sich die Bäuche voll, obwohl sie jagen sollten. Verweichlichte Bauern und Viehhirten“, knurrte ein hochgewachsener Mann in leichter Lederrüstung.
    Er fiel nicht durch seine Größe auf. Er war nicht klein, aber es gab mindestens zehn Männer unter den Jägern, die ihn noch überragten. Trotzdem erschienen alle neben dem Mann mit den auffällig weißblonden Haaren ungewöhnlich klein. Es waren auch nicht seine Muskeln, die eher drahtiger Natur waren, die Eindruck schindeten. Nein, es war weder die Größe noch seine Muskeln, sondern der verschlagene Blick eines Wiesels in stechendgrünen Augen.
    „Halt Dich zurück, Leif“, ermahnte ihn der Mann mit dem dunklen Vollbart und den buschigen Augenbrauen.
    Yorick wirkte ruhiger als der Blondschopf, der ihm gegenüber an einem der Tische saß und grimmig in seinen Becher starrte. Er war älter, beinahe alt genug um der Vater des Anderen, Leif, zu sein. Ein paar graue Strähnen durchzogen das Haar an seinen Schläfen. Alle Jäger am Tisch hatten ihre Haare aus dem Gesicht geflochten. Der Anblick erinnerte an die komplexen Flechtfrisuren alter Kriegerstämme und genau als das sah sich dieser spezielle Jägertrupp – als mutige Krieger. Yorick wusste, dass die Hälfte seiner Männer kaum genug Ehre am Leib besaß um einen Fingerhut zu füllen. Aber sie kannten dafür andere Tugenden: Loyalität Unerschrockenheit.
    „Leif hat Recht“, mischte sich nun auch Vargas ein.
    Vargas war im selben Alter wie Leif. Yorick hätte sie ungezügelte Jungspunde bezeichnet, wenn sich beide nicht schon ihren Platz innerhalb der Jäger reichlich verdient hätten. Vargas trug den Schädel kahlgeschoren und wirkte damit trotz jugendlicher Gesichtszüge um Jahre älter. Eine beeindruckende Narbe zierte die linke Seite seines Schädels – Spuren von Klauen, die tief durch die Haut bis auf den Knochen gedrungen waren.
    „Sie verkriechen sich in ihrer Siedlung während die Nachtmahre am schwächsten sind“, grunzte Vargas.
    „Wir sollte noch heute Nacht losziehen und uns den Kopf der Bestie holen“, fügte Leid hinzu und die Männer grinsten sich an.
    „Ich sage es noch ein letztes Mal: Nein. Wir halten uns an die Regeln, wie alle anderen hier. Heute wird der Beginn der Sonnenwende gefeiert. Morgen wird gejagt“, antworte Yorick mit ernster Stimme und mit solchem Nachdruck, dass auch Leif und Vargas endlich Ruhe gaben.
    „Verstanden“, murmelten beide.
    „Wie war das? Ich kann euch nicht hören“, knurrte der Älteste.
    „Verstanden, Yorick!“
    „Besser…“

    Leif hatte gelogen.
    Er würde nicht bis zum Morgengrauen Däumchen drehen und während sich alle Reisenden, Händler und Jäger bis in die späte Nacht bis zur Besinnungslosigkeit betranken, beugte er sich über den schlafenden Vargas und bohrte ihm die Spitze seines Stiefels in die Seite.
    „Steh auf, du Ochse. Wir müssen los, wenn wir den anderen zuvorkommen wollen. Pack die Silbernetze ein. Wir müssen los bevor Yorick merkt, was wir vorhaben“, knurrte der ehrgeizige Leif. „Der Kopf des Nachtmahrs gehört mir.“
    „Ich halte das für keine gute Idee, Leif.“
    „Pah! Hast du etwa Angst? Yorick ist ein zahnloser Wolf, der seine besten Jahre hinter sich hat. Jetzt sind wir dran. Wir haben uns lange genug von den anderen herumkommandieren lassen, weil wir die Jüngsten sind. Heute Nacht werden wir Männer, Vargas, und die Jäger, die den König der Nachmahre erlegt haben. Von dem Verdienst kaufe ich mir eine Hütte und nagle den Kopf der Bestie direkt über die Eingangstür.“
    Er sah Vargas eindringlich an.
    „Du bist doch auf meiner Seite, Bruder?“, sagte er in einem sanfteren Ton und hielt dem Mann mit dem vernarbten Schädel die Hand hin. Vargas war hin und her gerissen.
    „Ja doch“, seufzte er schließlich und ließ sich von Leif auf die Beine ziehen. „Beeilen wir uns.“

    Eine Stunde schlichen Leif und Vargas bereits durch den Wald. Ungehalten wischte sich Leid die blonden Haare aus dem Gesicht. Es war strähnig vom Schweiß. Obwohl es Nacht war, waren die Sommernächte im Wald warm und schwül. Die Lederrüstung machte es den Jägern nicht einfacher und Yorick hatte ernsthaft vorgehabt in der brütenden Hitze des Tages zu jagen. Dieser alte, alte Narr.
    Mit den Fingerspitzen berührte er die Pfotenabdrücke in der Nähe des plätschernden Baches. Vargas stand auf einem Felsen unmittelbar neben dem Bach und spähte über die Lichtung zum nächsten Stück des Waldrandes. Zwischen seinen Fingern hielt er blauschwarze Fellbüschel. Bisher war ihnen keiner der kleineren Mahre begegnet. Es war so ruhig, dass sie das Rufen eines Käuzchens im Unterholz hören könnten.
    „Das muss er gewesen sein. Sie dir die Größe der Abdrücke an“, murmelte Leif.
    „Ist er krank? Der Nachtmahr, meine ich. Hier liegen überall Büschel seines Felles herum. Sieh dir das an“, sagte Vargas.
    „Ich habe etwas viel Interessanteres gefunden. Schau.“
    Leif deutete auf andere Spuren in unmittelbarer Nähe zu den Pfotenabdrücken.
    „Die gehören einem Menschen. Das Stiefelabdrücke“; erklärte Leif. „Und sie sind genauso alt, wie die Fährte des Nachtmahrs. Jemand im Dorf ist dem Mahr begegnet und lebt noch. Oder siehst du hier irgendwo Blut?“
    Beide sahen sich noch einmal um.
    „Folgen wir dem Fluss, Vargas. Los. Da hinten gibt es noch mehr Spuren.“

    Das Feuer im Zentrum des Dorfes war lediglich noch ein Haufen glühender Kohlen als ein gellendes Heulen den Wald erschütterte. Yorick schreckte von seinem Schlafplatz am Feuer empor. Er sah sofort, dass Leid und Vargas verschwunden waren. „Diese leichtsinnigen Idioten...“

    „Mach das Netz fest! Beeil dich! Er reißt sich los!“, brüllte Leif und hielt sich den blutigen Arm, den die Bestie mit scharfen Klauen fast gänzlich zerfetzt hatte." Vor Leif und Vargas wälzte sich die Bestie eingehüllt in feinmaschige Silbernetze über den Waldboden. Der Nachtmahr heulte und brüllte, schnappte mit gewaltigen Kiefern blind in die Luft, während das Silber auf der ledrigen Haut brannte. Leif hatte sich den großen Nachtmahr anders vorgestellt. Er wirkte abgemagert und kraftlos. Der blanke Schädel leuchtete zwar bleich und unheimlich im Mondlicht, aber insgesamt wirkte die Bestie wie ein Tier, das den Gnadentod verdiente. Es war ein Trauerspiel. Mit viel Fantasie wirkten die langen Gliedmaßen sogar fast ein wenig menschlich.
    „Leif, dein Arm“, schnaubte Vargas.
    „Scheiß auf meinen Arm. Mach endlich die verdammten Netze fest!“
    Wie aufs Stichwort rammte Vargas den letzten, schweren Eisenbolzen in den Waldboden. Das Monster, bewegungsunfähig durch das Netz auf den Boden gepresst, konnte nicht einmal mehr den Kopf heben.
    „Ich frag mich, was er so nah am Dorf gesucht hat.“
    „Hm“, knirschte Leif mit den Zähnen und sah direkte in die leeren Augenhöhlen. „Das ist schon seltsam. Die letzte Sichtung des großen Nachtmahres ist 30 Jahre her. Seitdem hat ihn niemand mehr in der Nähe des Dorfes gesehen. Ich wette die Antwort liegt in den Fußspuren, die wir gefunden haben. Gib mir meinen Dolch“
    Leif nahm den Dolch von Vargas entgegen und hockte sich mit sichtlichen Schmerzen auf den Boden, direkt vor den gewaltigen Schädel.
    „Ich werde mir aus deiner Haut einen Namen machen, Nachtmahr.“
    Grimmig setzte Leid die Spitze des Dolches im Genick der Bestie an. Ein kräftiger Ruck nur und der Spuk wäre vorbei.

    We all change, when you think about it.
    We’re all different people all through our lives.
    And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
    so long as you remember all the people that you used to be.

    [DOCTOR WHO]