Ich bin eine Leiche. Leiche ist Mist, der Mist ist Erde. Wenn aber die Erde eine Gottheit ist, so bin ich nicht eine Leiche, sondern ein Gott.
In den Händen der Götter
ΕΝ ΤΑΙΣ ΧΕΡΣΙ ΤΩΝ ΘΕΩΝ
Von den Göttern bestraft zu werden, heißt nicht per se, dass ein Blitz nieder fährt oder eine riesige Welle im Meer dich verschluckt. Diese Strafen wären viel zu kurzweilig, viel zu lasch, geradezu langweilig.
Sand rinnt durch Aesons glühende Hände, das sonnige Ufer ist von Zypressen gesäumt, Paradiesvögel singen ihr Lied in der untergegangenen Sonne. Das Schauspiel am Horizont ist atemberaubend, das Licht küsst das Meer und der Himmel färbt sich rosa, violett, feuerrot. Doch Aesons Blick geht nicht gen Sonnenuntergang. Er sieht direkt über sich, dort wo der Himmel wolkenlos ist, bereits dunkelblau, ein paar Sterne funkeln. Erleichterung. Die Schmerzen fließen von ihm ab wie der warme Sand, der über seine Hand rieselt.
Aeson ist einer von vielen Söhnen des Lichtgottes Apollon. Einst war er der König von Phokis mit der heiligen Aufgabe, für seinen Vater Prophezeiungen zu sammeln und Orakel zu beschützen. Heute ist er der unsterbliche König von verstaubten Erinnerungen, einer verworrenen Zukunft und dem undurchdringlichen Knäul der Schicksalsfäden, die sich mittlerweile um ihn winden, wie Fesseln, die tief in sein Fleisch schneiden.
Aeson lebt ein zurückgezogenes Leben, seit sein göttlicher Vater ihn verstoßen hat. Das Licht der Sonne bereitet ihm physischen Schmerz, seine Fähigkeit zu heilen, tötet ihn selbst und doch stirbt er nicht. Es ist ein Hohn, der seinen Humor verbittert hat, sein Lächeln trübt, seine Schritte schwerer macht.
Und dann ist da diese Frau. Ein Orakel, das verrät ihre Aura und ihre lebhaften Träume, die sie in ihrem Tagebuch festhält. Aeson wird von ihr angezogen wie ein Hai, der Blut im Wasser riecht. Es ist seine Aufgabe, der er noch immer folgt. Orakel beschützen, Prophezeiungen aufzeichnen, archivieren, bewahren. Auch sie mag das Gefühl von Sand, der ihr durch die Finger rinnt. Auch sie meidet das Sonnenlicht. Sie hat ständig Kopfschmerzen, zu viele Gedanken. Sie hat keine Ahnung, wer sie ist. Sie hat keine Ahnung, das der Blick der Götter noch von ihr abgewendet ist, doch nicht mehr lang. Der Schicksalsfaden ist gesponnen und wenn sie ihm folgt, sich an ihm entlang zieht, dann führt er sie direkt zu Aeson.
Werden sie die Fäden durchtrennen? Werden sie ein Leben nach ihren eigenen Regeln führen?
Oder werden die Götter sie ewig fest in ihren Händen behalten und sie auf ihrem Spielbrett verschieben wie Schachfiguren?